45 t
Es festigt sich Gedankenmacht
Im Bunde mit der Geistgeburt,
Sie hellt der Sinne dumpfe Reize
Zur vollen Klarheit auf.
Wenn Seelenfülle
Sich mit dem Weltenwerden einen will,
Muss Sinnesoffenbarung
Des Denkens Licht empfangen.
Valentinstag — Tag der Liebenden
Der Valentinstag am 14. Februar wurde als Gedenktag des hl. Valentinus von Papst Gelasius schon im Jahre 496 für die ganze Kirche eingeführt. Zwar wurde er 1969 aus dem römischen Generalkalender gestrichen, doch seine Beliebtheit (und gewaltige Kommerzialisierung) wuchs ungebremst bis heute — und das fast weltweit. Angesichts eines geschichtlichen und christologischen Rückblicks habe ich verstärkt den Eindruck, dass sich hier ein Geheimnis verbirgt. Möglicher Weise steht hinter diesem Fest eine geheime Wahrheit, die sich immer stärker Bahn bricht. Durch das Mantra 45 t wird dieses Phänomen verständlich — und auch das Mantra wird durch diesen Tag erhellt.
Der Valentinstag steht mit dem kompletten Jahreslauf in einer besonderen Beziehung. Es sind 40 Tage von Weihnachten (38 m) bis Lichtmess am 2. Februar (meist 44 s) und ebenso 40 Tage vom 6. Januar, dem Dreikönigs- und Tauf-Tag (meist 40 o) bis zum Valentinstag am 14. Februar. Beide Zeitspannen überlappen sich zum Teil. Gemeinsam umfassen sie genau 52 Tage (vom 25.12. bis zum 14.2. einschließlich). Das sind ebenso viele Tage, wie das Jahr Wochen hat. Ist das Zufall? Oder verbirgt sich dahinter ein in Tagen ausgedrückter Jahreskreis? Könnte diese Zeitspanne bildlich gesprochen nicht als der kleine Samen der großen Jahrespflanze betrachtet werden, als der Samen, aus dem das Jahr hervorwächst? Dann entspräche jedem einzelnen der 52 Tage eine Woche im Jahr. Dieser 52 “Tage-wie-Wochen-Kreis” mutet wie ein Auge an, das als Vorblick in Tagen sichtbar macht, was in den Wochen des Jahres zu erwarten sein könnte.
Am Valentinstag rundet sich also diese Zeitspanne des Vorblicks. Sie ist deshalb bildlich vergleichbar der Iris des Auges. Jeder Tag erscheint im übertragenen Sinne als Pupille, als Linse. Der Tag reflektiert, was als viel größere Realität außen sichtbar ist — der Durchgang durch den neu begonnenen Jahreskreis.
Der Valentinstag ist stets am 14. Februar. Er liegt ohne Anpassung der Mantren an das kommende Osterfest meist in der Woche 45 t, etwas seltener in der Woche 46 u. Im Jahr 2023 lag er ohne Anpassung in der Woche 46 u, mit Anpassung aber wieder in der Woche 45 t. Im Jahr 2024 ist es anders herum. Ohne Anpassung wäre der Valentinstag in der Woche 45 t, mit Anpassung aber in der Woche 46 u. Da er in diesem Jahr auf einen Mittwoch fällt, ist es gleichzeitig der Aschermittwoch.
So wie Lichtmess 40 Tage nach Weihnachten (gezählt ab dem 25.12., dem ersten heiligen Tag) gefeiert wird und vom Wesen her zur Woche 44 s gehört (siehe dort), liegt der Valentinstag 40 Tage nach dem 6. Januar (der 6. 1. wird mitgezählt). Was die Anpassung betrifft, stelle ich es mir so vor, dass die Mond-Energie der Osterscholle zunächst schwach ist und noch von der Sonnen-Energie überlagert wird. Dadurch sind für die Wochen 44 s und 45 t beide Perspektiven richtig. Das ändert sich erst mit Aschermittwoch, dessen variables Datum durch den Abstand zum Osterfest bestimmt wird und dadurch immer in der Krisenwoche 46 u liegt.
Am 6. Januar wird die Taufe Jesu im Jordanfluss gefeiert (siehe 40 o). Danach berichten die Evangelien (Matthäus 4, 1–11, Markus 1, 12–13 und Lukas 4,1–13), dass sich Christus 40 Tage in die Wüste zurückzog, betete und fastete. Als Abschluss dieser Zeit wird berichtet, dass er vom Teufel versucht wurde. Diese vierzig Tage der umfassenden Wesenstransformation enden also am 14. Februar. Die Phase von 40 Tagen hat stets diese transformierende Bedeutung — entsprechend der 40 Wochen, die der Mensch im Mutterleib reift. Von da an begibt sich Christus unter die Menschen, sammelt seine Jünger um sich und beginnt sie zu lehren. Der im Menschen inkarnierte Gott beginnt sich mit der Menschheit zu vereinigen, sich ihr hinzugeben.
Vierzig Tage sind fünf Wochen und fünf Tage (35+5 Tage). Mir scheint diese Doppelung der Fünf enthält eine weitere wesentliche Aussage darüber, was mit den 40 Tagen zusammenhängt. Die Zahl 40 kommt im Alten Testament und in den Evangelien immer wieder an Stellen großer Veränderung vor. Rudolf Steiner nennt das Geistselbst das fünfte Prinzip, das fünfte Wesensglied, das für uns noch ein zukünftiges ist. Es wird Manas genannt und ist das eigentliche Manna, das während der Wüstenwanderung, die 40 Jahre dauerte, auf das jüdische Volk herabregnete. Seitdem beginnt sich dieses Prinzip in der Menschheit immer mehr zu verwirklichen. Die 40 spricht also im Grunde davon, das Geistselbst zu empfangen und zur Erscheinung zu bringen.
Zur allgemein bekannten Symbolik des Valentinstages gehört die Vereinigung der Liebenden, ausgedrückt durch die in der Natur beginnende Paarungszeit der Vögel, die Vogelhochzeiten. Die Legende zum heiligen Valentin berichtet außerdem von einer Blindenheilung. Valentin heilte vor seinem Märtyrertod Julia (die Fröhliche, Göttliche), die Tochter seines Aufsehers Asterius (Stern) von ihrer Blindheit. Daraufhin wurden alle Familienangehörigen und Diener Christen, insgesamt 47 an der Zahl. Damit bildet die Symbolik des Valentin-Tages ein exaktes Pendant zum Lichtmess-Tag. Ging es beim Lichtmessfest um die Reinigung (von Maria), also um die Trennung von allem was nicht zum ureigensten Wesen der Seele gehört sowie um das Licht (Kerzenweihe), um das innere Seelenlicht, — so geht es beim Valentinstag um das Gegenteil, um Vereinigung, und um das durch das Licht ermöglichte Sehen. Es geht um die Vereinigung von entgegengesetzten Kräften, um Befruchtung, Zeugung und Empfängnis — und um das Sehen dessen, was daraus erwächst. Lichtmess ist ein deutlich weiblich konnotiertes Fest, ein Marienfest. Der Valentinstag ist dementsprechend ein männliches Fest, insbesondere wenn der oben erwähnte Bezug zum Leben Christi mitgedacht wird.
Die Lupercalien
Oft wird vermutet, dass der Valentinstag auf das römische Fest der Lupercalien zurückgeht. Dies ist aber wohl nicht der Fall. Der beschriebene Festritus sagt aber etwas über die Osterscholle. Es handelt sich um einen alten Fruchtbarkeitsritus, der um den 13. bis 15. Februar gefeiert wurde. Das Fest stand in Zusammenhang mit der Juno Februata, der Reinigerin. Papst Gelasius, der auch den Valentinstag einführte, schaffte die Lupercalien am Ende des 5. Jahrhunderts nach Christus ab. Es liegt also die Vermutung nahe, dass Gelasius die Lupercalien durch das Fest der Purificatio Mariae ersetzt habe. Dies fiel damals auf den 14. Februar, da die Erscheinung des Herrn (die Geburt) am 6. Januar gefeiert wurde. Erst im 6. Jahrhundert wurde das Fest Mariä Reinigung auf den 2. Februar gelegt, weil das Geburtsfeste auf die Nacht des 24. Dezember festgelegt wurde.
Das Fest der Lupercalien galt dem Herdengottes Faunus, der den Beinamen Lupercus („Wolfsabwehrer“) führte. Ihm war eine heilige Grotte (Lupercal) geweiht, in der sein mit einem Ziegenfell umhängtes Bild aufgestellt war. Zu Beginn der Feier wurde ein Bock im Lupercal geopfert. Darauf folgte ein Opfermahl. Während der Opferzeremonie wurden zwei vornehme junge Männer von den Priestern mit dem blutigen Messer an der Stirn berührt, andere wischten das Blut mit in Milch getränkter Wolle wieder ab. Die jungen Männer mussten lachen. Nach dem Mahl banden sich die ansonsten nackten Priester, die Luperci, die Felle der geopferten Böcke um die Hüften, zerschnitten andere Felle in Riemen und gingen so durch die Stadt. Verheiratete Frauen stellten sich ihnen in den Weg, um sich von ihnen mit den Riemen in die Hand schlagen zu lassen. Sie erhofften sich dadurch Kindersegen.
Der Schlag mit den Riemen lässt mich an den Einschlag des Oster-Impulses denken, der das Jahr befruchtet und individualisiert. Die beiden Jünglinge, deren Opferung (Blut) und Wiederbelebung (Milch) symbolisch angedeutet wird, scheinen mir auf Tod und Auferstehung des Christus zu deuten.
Der Beiname “Wolfsabwehrer” könnte auch Odhin beigelegt werden, ist er es doch, der im Kampf der Götterdämmerung gegen den Wolf anzutreten hat — und unterliegt. Der Fenriswolf, Odhins Gegner, personifiziert die verhärtenden Kräfte im Ätherleib, die das alte Hellsehen durch den aufkommenden Intellekt auslöschen. In den Lupercalien um den 14. Februar findet sich also auch ein Hinweis auf die Hellsicht, die die 52 Tage-für Wochen-Zeitspanne ermöglicht. Doch ist die Übertragung einer Mythologie (Odhin und der Fenriswolf) aus dem einen Kulturzusammenhang auf die Tradition (Lupercalien) aus einem anderen Kulturzusammenhang nur unter einem Gesichtspunkt erlaubt: beide müssen Überbleibsel einer noch älteren, gemeinsamen Weisheitstradition sein. Wie die Venusfigurinen aus der mittleren Steinzeit bezeugen, gab es diesen einheitlichen Kulturzusammenhang über sehr viele tausend Jahre von Sibirien bis Spanien. Mit dem Fest der Lupercalien und dem modernen Valentinstag begegnen wir möglicherweise einem Rest dieser uralten Weisheitstradition, bzw. Urreligion, deren Grundlage nach meiner Ansicht die Jahreslauf-Weisheit war, die uns der Seelenkalender aufs Neue schenken kann.
Weltenwerden
Im Mantra findet sich das Wort “Weltenwerden” Sicherlich ist es richtig, Weltenwerden als Entwicklung der Welt zu verstehen. Doch Entwicklung, sofern sie eine Höherentwicklung meint, setzt ein Wesen voraus, das sich entwickelt, das einem Ziel zustrebt. Wer ist also das Weltenwesen und hat dieses Wesen wie der Mensch die Fähigkeit zu denken, zu fühlen und zu wollen? Rudolf Steiner spricht tatsächlich davon, dass es ein Weltendenken, ein Weltenfühlen und einen Weltenwillen gibt und somit ein Weltenwesen hinter dem Prozess des Weltenwerdens. Der Mensch hat an diesem Wesen Anteil. Rudolf Steiner sagt, dass des Nachts die kosmischen Seelenfähigkeiten des Weltendenkens, Weltenfühlens und Weltenwollens in den Menschen einströmen, nur bemerken er dies meist nicht: “Wenn wir nun aber des Morgens … aufwachen, … dann merken wir, daß alles dasjenige, was wir in unserem Leben an Willen, an Gefühl, an Denken in uns entwickeln können, eine Kleinigkeit ist gegenüber der Kraft der Gedanken, der Kraft des Fühlens und der Kraft des Wollens, die in der geistigen Welt ausgebreitet sind, aus der wir am Morgen herauskommen im Moment des Aufwachens; und wir merken, daß wir das brauchen, was wir in der Nacht eingesogen haben, denn wir würden nicht weit kommen, wenn wir nur dasjenige an Gedanken und Gefühlen und an Wollen entwickelten, was wir durch das Tagesleben entwickeln können. Da muß uns wie eine Gabe aus geistigen Welten, aus den höheren Kräften des Weltendenkens, des Weltenfühlens, des Weltenwollens die ganze Nacht über zuströmen dasjenige, was nun mit uns in unser eigenes Innere hinuntersteigt. Wenn wir uns zuerst bewußt geworden sind, daß wir eingesogen haben in unsere Seele Weltenwollen, Weltenfühlen, Weltendenken, dann merken wir, daß diese drei Grundkräfte nicht dasjenige sind, was wir uns selber aus dem Leben angeeignet haben an Denken, Fühlen und Wollen, sondern etwas, was ohne unser Zutun uns zuströmt vom Einschlafen bis zum Aufwachen. .…
So sehen wir diese drei Kräfte am Menschen im Schlafzustande arbeiten, und sie wirken so in uns fort, daß sie unseren äußeren Menschen vom Morgen bis zum Abend so anfeuern, daß er vollbringen kann, was er vollbringen soll. Wenn wir dies ins Auge fassen, dann können wir uns sagen, es ist in der Tat unsere Seele recht klein gegenüber dem, was da in der großen Welt ist, in die wir ausgegossen waren während des Schlafzustandes; aber es ist unsere Seele dem doch ähnlich. So wie in unserer Seele sich nach und nach zu immer höherer und höherer Stufe entwickeln Denken, Fühlen und Wollen, so ist draußen in der unsichtbaren, übersinnlichen Welt das ausgegossen, was Weltenfühlen, Weltendenken, Weltenwollen ist.” (GA 119, 4. Vortrag Wien, 24. März 1910, S. 113ff.)
Indem das Weltendenken, Weltenfühlen und das Weltenwollen des nachts in den Menschen einströmt, steht jeder Mensch in Verbindung mit dem Weltenwesen und dessen Entwicklung. Der Mensch empfängt dadurch vom Weltenwesen seine Entwicklungsangebote. Doch wie sieht es mit der anderen Seite des Austauschs aus? Geben auch die Menschen dem Weltenwesen etwas für seine Entwicklung? Darauf scheint mir das Mantra 45 t eine Antwort zu geben.
Die Verteilung der Mantren im Jahreslauf, die in der neutralen, dritten Person geschrieben sind
Im Seelenkalender gibt es zwei verschiedene Perspektiven, die in den Mantren eingenommen werden: Die einen sind aus der Perspektive eines bewussten Ich-Sprechers geschrieben, die anderen in der neutralen grammatikalisch dritten Person. Letztere beschreiben dadurch Vorgänge, die Naturvorgängen entsprechen und tief im Unterbewusstsein ablaufen. Anders als die Prozesse der Mantren mit einem bewussten Ich-Sprecher sind sie nicht auf die freie und bewusste Mitwirkung des Menschen angewiesen. Bis auf wenige Ausnahmen liegen diese “unbewussten” Mantren im Winter-Vierteljahr bzw. in der Osterscholle
Auch das Mantra 45 t ist in der dritten Person geschrieben. Im ganzen Winter-Vierteljahr sind nur die Sprüche 40 o, 44 s, 46 u, 47 v aus der Ich-Perspektive gestaltet, alle anderen stehen in der dritten Person. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass im Jahr alle vier Lichtsprüche in der dritten Person stehen, alle Krisen- und Zwischensprüche in der ersten. Deshalb sind konsequenterweise auch 46 u und 47 v als Krisen- und Zwischenspruch in der Ich-Perspektive geschrieben. Darüber hinaus sind es im Winter-Vierteljahr nur die Mantren 40 o und 44 s — beide am Beginn einer neuen Phase: 40 o ist das erste Mantra im Winter-Vierteljahr, 44 s das erste der Osterscholle. Damit stehen sie an einer Grenze, an einer Schwelle und ähneln deshalb den Krisensprüchen.
Diese Charakteristik des Winter-Vierteljahres, — die Perspektive der unbewussten dritten Person, — setzt sich in der Osterscholle zunächst auch im Frühlings-Vierteljahr fort. Vom Lichtspruch 48 w bis zum Lichtspruch 5 E sind es zehn Mantren, die das Ostergeheimnis und die Schwelle vom Winter- zum Sommer-Halbjahr symmetrisch mit tiefer Unbewusstheit umgeben. Im ganzen weiteren Jahreslauf außerhalb des Winter-Vierteljahres steht außer den Lichtsprüchen nur noch das Mantra 24 X in der dritten Person. Alle anderen sind in diesem Sinne “bewusste” Mantren. Diese Verteilung macht deutlich, dass es im Winter-Vierteljahr um Leibbildung geht, die laut Rudolf Steiner gerade auf den Schlafzustand des Bewusstseins angewiesen ist. Es geht hier um die Zeit der Schwangerschaft und dann weitergehend nach der Halbjahres-Schwelle um das Leben im physischen Leib, dass sich in der nachösterlichen Zeit, in den Wochen 1 A bis 9 I (großes i) abbildet. Nur die letzten vier Stufen, die Mantren 6 F bis 9 I zeigen mit dem bewussten Ich-Sprecher Möglichkeiten bewusster Einflussnahme. Alle anderen Stufen verlaufen naturgesetzlich.
Warum setzt das Bewusstsein gerade mit dem Mantra 6 F ein — oder anders gefragt, wofür könnten die neun Stufen der Osterscholle stehen? Betrachte ich sie vor dem Hintergrund des neungliedrigen Menschenbildes, so sagt das Mantra 1 A etwas über den physischen Leib, das Mantra 2 B etwas über den Ätherleib, 3 C etwas über den Astralleib, 4 D etwas über die Empfindungsseele, 5 E etwas über die Verstandes- oder Gemütsseele, 6 F etwas über die Bewusstseinsseele, 7 G etwas über das Geistselbst, 8 H etwas über den Lebensgeist und 9 I etwas über den Geistmenschen. Mit der Bewusstseinsseele (6 F) tritt also erstmals der bewusste Ich-Sprecher auf. Die Ich-Perspektive offenbart, dass der Mensch nun Denken, Fühlen und Wollen selber verantwortet.
Was geschieht im Mantra 45 t?
Das Mantra 45 t ist ein ganz besonderes! Es gliedert sich in zwei Satz-Aussagen. Zwischen diese beiden Sätze hat Rudolf Steiner für die eurythmische Darbietung eine stumme Form eingefügt. Das gibt es sonst nirgends. Dadurch gibt es in der Mitte dieses Mantras eine (lange!) bewegte Pause. Nicht einmal Lautgebärden sind angegeben! Was ist es, das sich in diesem bewegten Raum des Schweigens vollzieht? Was ist so unaussprechlich, so heilig, dass eine stumme Eurythmie-Form der angemessene Ausdruck — und im gedruckten Text keinerlei Hinweis darauf zu finden ist?
Doch zunächst zum ersten Satz des Mantras:
Die Gedankenmacht festigt sich. Nicht ich bin es, — einen bewussten Ich-Sprecher gibt es nicht — der sich konzentriert und dadurch das Denken festigt, nein die Gedankenmacht wird selber dichter, irdischer könnte man vielleicht sagen. Dies geschieht im Bund mit der Geistgeburt. Die Geistgeburt hat einen Bund geschlossen mit der Gedankenmacht. Es klingt der Bund Gottes an, den Jahve einstmals mit dem jüdischen Volk geschlossen hatte. Deshalb war ihr Heiligstes die Bundeslade. Es war Moses, der im brennenden Dornbusch Jehova erlebte, der sich ihm kundtat als der „Ich-bin-der-ich–bin“. Damit stand Mose auch die Göttlichkeit des eigenen Ichs vor Augen. Mit diesem im eigenen Inneren insgeheim wohnenden Gott schloss Mose einen Bund, um diesem Ich zur Verwirklichung im Menschenleben zu verhelfen. Im Denken wird dieses Ich erkannt. Gedankenmacht und das geist-geborene Ich sind aufeinander angewiesen, sind verbunden. Sie haben einen Bund geschlossen. Dieser Bund ist dem Zugriff des Egos entzogen und deshalb auch nicht lösbar. Er wird als Tatsache im Mantra vor uns hingestellt.
Und noch ein weiterer Gedanke schließt sich an den Bund der Gedankenmacht mit der Geistgeburt an. Auch im Mantra 44 s spielte die Geistgeburt eine Rolle. Es hieß dort: „Eingedenk vollzogener Geistgeburt“. Im gegenwärtigen Mantra 45 t heißt es: „Im Bunde mit der Geistgeburt“. Im erstgenannten Mantra verhalf die Geistgeburt zu Seelenklarheit. Dort habe ich die Geistgeburt als mein vom Körper unabhängiges Sein, mein Geist-Sein beschrieben. Auch im Mantra 45 t wirkt sie und verhilft der Gedankenmacht zu Festigkeit. Das Denken wird urteilssicher. Die Geistgeburt, der Geist in mir wirkt als Logik, als Logoskraft im Denken. Es ist die Logik, die der Gedankenmacht Festigkeit verleiht. Den “alten Griechen” war es ein selbstverständliches Erleben, dass die im Denken wirkenden logischen Gesetze mit dem Logos, dem alles weisheitsvoll erschaffenden Weltenwort im Zusammenhang stehen. Logik im Denken walten zu lassen bedeutete, mit dem Geist verbunden, mit dem Geist im Bunde zu sein. Auch heute wird logisches Denken als machtvoll, überzeugend erlebt. Durch logisches Denken werden Zusammenhänge hergestellt, die die einzelnen Sinneswahrnehmungen ordnen, zur Klarheit bringen und Wahrheit aufscheinen lassen.
Der zweite Teil des ersten Satzes ist auf zweifache Art lesbar: “Sie”, die Gedankenmacht oder “Sie”, die Geistgeburt hellt die dumpfen Reize der Sinne auf zu voller Klarheit. Da Gedankenmacht und Geistgeburt verbunden wirken, sind beide Lesarten möglicherweise gewollt, zeigen sie doch die unterschiedlichen Perspektiven auf. Ich tendiere dazu, die Geistgeburt zu verstehen (siehe oben), ist sie doch das zuletzt genannte Subjekt und deshalb das vom Satzbau naheliegende.
Der Zustand der Erleuchtung wird hier beschrieben. Der Mensch erhält volle Klarheit, Klarheit über alles außer ihm Befindliche, über alles, was die Sinne erschließen. Er erkennt wie er mit der Welt in Zusammenhang steht, wie Makrokosmos und Mikrokosmos eine Einheit bilden.
An dieser Stelle steht die stumme Form.
Wenn die Wahrnehmung und das Denken sich in unserem Bewusstsein verbinden, gehen sie eine Hochzeit, eine Vereinigung ein. Es kommt zu einer Befruchtung, zu einer Zeugung. Aus der die Seele befruchtenden Wahrnehmung erschafft das Denken den Begriff. Entsprechend der Formulierung des Mantras in der unbewussten dritten Person, beschreibt Rudolf Steiner den Prozess der Begriffsbildung als dem Wachheitsgrad des Schlafes entsprechend. Er sagt, wir schließen durch Logik im wachen Tagesbewusstsein, bilden die Urteile im Traumbewusstsein und den Begriff im Schlafbewusstsein. Der Begriff ist das vom Menschen erschaffene Kind. Die Zeugung eines neuen Wesens, der heilige Moment der Erschaffung eines lebendigen neuen Form-Leibes wird mit der stummen Eurythmieform dokumentiert.
Nun folgt der zweite Satz:
Dieser Satz liefert die Begründung für die Notwendigkeit der Zeugung: Eine “Wenn – will — muss”- Verkettung ist das Grundschema des Satzes. Dies ist fast eine “Wenn – dann” Formulierung, die Ursache-Wirkungszusammenhänge verdeutlicht. Doch zunächst muss die Seele einverstanden sein. Ihre Zustimmung ist Bedingung. Wenn die Seele mit der ganzen Fülle ihres reichen Innenlebens Anteil an der Entwicklung der Welt, am Weltenwerden haben will, wenn sie selber wieder in den Fluss der Zeit und Entwicklung eintreten und die Zukunft mitgestalten will, — wenn sie sich also vereinen will mit dem Werden der Welt, dann muss diese Empfängnis stattfinden. Wenn die Seele also mit dem “Wenn” einverstanden ist, dann allerdings gibt es nur einen Weg. Dann muss sie. Sie muss die Wahrnehmungsseite ihres Wesens in Kontakt bringen mit der Denkseite. Die Sinnesoffenbarung der Wahrnehmungsseite muss das Licht des Denkens empfangen.
Die Seele erscheint hier mit einer weiblich-empfangenden und einer männlich-befruchtenden Seite. Das Pendeln zwischen Wahrnehmung und Denken um die Zeile der Geistgeburt im Mantra 44 s findet nun zu seinem Ziel, der Vereinigung dieser Gegensätze. Diese Vereinigung von Wahrnehmung und Denken geschieht im Menschen in solcher Stetigkeit und Geschwindigkeit, dass Rudolf Steiner im Vorwort zum Seelenkalender vom “zeitlosen Wahrnehmungs- und Gedankenrhythmus” spricht. Dieser Prozess ist uns so alltäglich, kaum dass wir vom Schlaf erwacht sind, dass wir das Gewaltige, was hier geschieht, übersehen.
Sinnesoffenbarung muss das Licht des Denkens empfangen. Eine Empfängnis muss stattfinden! Das, was die Sinne offenbaren, muss durch das Licht des Denkens befruchtet werden. Interessanterweise ist das Denken hier eine männlich-zeugende Kraft, die Wahrnehmung dagegen die empfangend-weibliche. Wie ist das zu verstehen? Die Sinne offenbaren uns die Natur, die materielle Welt. Materie kommt von Mater, Mutter. Mutter Erde schenkt uns die Wahrnehmungen und deshalb sind ihre Offenbarungen ebenso weiblicher Natur. Sie sind ihre Töchter. Mit der Sinnesoffenbarung vermählt sich das Denken. Es entstammt der Gedankenmacht, die im Bunde mit der Geistgeburt ist. Demgemäß ist das Denken die Realisierung dieser Gedankenmacht, ihr Sohn. Sinnesoffenbarung und Denken zeugen nun gemeinsam den Begriff. Der Begriff ist ein geistiges Bild des verstandenen Zusammenhanges, eine primär geistige Wahrnehmung, die durch Worte mitteilbar wird, die aber nicht der verbale Begriff ist.
Im Mantra 45 t tritt das Geheimnis der Empfängnis und Zeugung vor den Leser. Dieses Geheimnis wird im zweiten Satz aus der weiblichen Perspektive geschildert als eine Empfängnis. Es ist die weibliche Kraft, die das Licht des Denkens auf die Erde trägt und als Begriff gebiert. Eine einmal gemachte Wahrnehmung sitzt in der Seele, auch wenn sie vergessen wird. Jede Wahrnehmung wartet sozusagen darauf, vom Licht des Denkens durchdrungen, „geliebt“ und verarbeitet zu werden.
Um das Mantra zu verstehen, habe ich auf den in der Seele stattfindenden Prozess von Wahrnehmung und Denken geschaut. Dies ist der kleine, mikrokosmische Prozess. Das Mantra sagt jedoch deutlich, dass auch der makrokosmische gemeint ist. Das Weltenwerden geht definitiv über den individuellen, kleinen Seelenprozess hinaus. Mit diesem Mantra ist auch der zur Zeugung, zur Inkarnation führende Entschluss der noch nicht verkörperten Seele beschrieben. Sowohl die eigene Zeugung als auch die eigene Empfängnis können in diesem Mantra miterlebt werden.
Der erste Satz des Mantras zeigt den eher männlichen Geist-Aspekt des Menschen der zweite den eher weiblichen Seelen-Aspekt. Zwischen beiden vollzieht sich in absolutem Schweigen die Vereinigung, die als Empfängnis im weiblichen Seelen-Satz zur Erscheinung kommt. Im männlichen Geist-Satz offenbart sich die männliche Qualität als Geistgeburt — als Sohn und damit als Vorwegnahme bzw. Ergebnis der Empfängnis.
In den kommenden Mantren führt der Seelenkalender durch die Stufen der Schwangerschaft bis zur Geburt in der Karwoche.