Die spiegelnden Mantren 23 W und 30 d
23 W Es dämpfet herbstlich sich Der Sinne Reizesstreben; In Lichtesoffenbarung mischen Der Nebel dumpfer Schleier sich. Ich selber schau in Raumesweiten Des Herbstes Weltenschlaf. (oder Winterschlaf) Der Sommer hat an mich Sich selber hingegeben. |
30 d Es sprießen mir im Seelensonnenlicht Des Denkens reife Früchte, In Selbstbewusstseins Sicherheit Verwandelt alles Fühlen sich. Empfinden kann ich freudevoll Des Herbstes Geisterwachen: Der Winter wird in mir Den Seelensommer wecken. |
Musik zum Mantra 23 W — verloren — komponiert von Herbert Lippmann
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Hellsehen und Ich-Bewusstsein
Das Mantra 23 W wirkt erstaunlich düster, das spiegelnde Mantra 30 d besonders hell. Zusammen wirken sie wie Bewusstseins-Polaritäten, deren Zusammenhang zunächst verborgen ist. Rudolf Steiner beschreibt eine solche Polarität für die alte, verdämmernde Hellsichtigkeit und das inzwischen aufgekeimte Ich- bzw. Selbstbewusstsein. Erst in Zukunft wird es möglich werden, die Helligkeit im Außen mit der Helligkeit im Innern gleichzeitig zu erleben — das heißt auch als bewusstes Ich hellsichtige Erfahrungen zu machen. Die spiegelnden Mantren gemeinsam in der Seele zu erleben ist sicherlich ein Schritt in diese Richtung.
Rudolf Steiner sagt: „In der Zukunft wird es nun so sein, daß die Menschen das, was sie ursprünglich im dumpfen Traumbewußtsein besessen haben, wiederum, aber jetzt in hellem, klarem Bewußtsein, aus der Seele heraus haben werden. Der Mensch wird sein gegenwärtiges helles, klares Bewußtsein haben und dazu die Erleuchtung. Zur Erlangung des Selbstbewußtseins mußte der Mensch die ursprüngliche Hellsichtigkeit aufgeben, und je mehr diese ursprüngliche Hellsichtigkeit heruntergedämpft wurde, desto mehr ging das innere Ich-Bewußtsein auf. Wird das einmal an seinem Gipfel angelangt sein, so wird der Mensch bei seiner letzten Inkarnation angekommen sein, in sich als Frucht seines Lebens die alte Hellsichtigkeit und ein neuerworbenes Element noch dazu.“ (Lit.: GA 96, S. 222ff Hervorhebung A.F.)
Den gleichen Sachverhalt beschreibt Rudolf Steiner durch folgendes Bild: “Das, was nach dem Mysterium von Golgatha der Mensch in sich selber als den Christus-Impuls zu suchen hatte, das er zu finden hatte im Sinne der Paulinischen Form: «Nicht ich, sondern der Christus in mir», das mußte er vor dem Mysterium von Golgatha nach außen suchen, das mußte er so suchen, als ob es ihm aus den Weltenweiten wie eine Offenbarung hereinkäme. Und je weiter wir im Zeitenlauf zurückgehen, desto glanzvoller, desto impulsiver war die äußere Offenbarung. Man kann also sagen: In den Zeiten vor dem Mysterium von Golgatha ist eine gewisse Offenbarung an die Menschheit vorhanden, eine Offenbarung an die Menschheit, die so geschieht, wie wenn der Sonnenschein von außen einen Gegenstand bestrahlt. Wie wenn das Licht von außen auf diesen Gegenstand fällt, so fiel das Licht der geistigen Sonne von außen auf die Seele des Menschen und überleuchtete sie.
Nach dem Mysterium von Golgatha können wir das, was in der Seele wirkt als Christus-Impuls, also als das geistige Sonnenlicht, so vergleichen, daß wir sagen: Es ist, wie wenn wir einen selbstleuchtenden Körper vor uns hätten, der sein Licht von innen ausstrahlt. Dann wird uns, wenn wir die Sache so betrachten, die Tatsache des Mysteriums von Golgatha zu einer bedeutsamen Grenze der Menschheitsentwickelung, dann wird uns dieses Mysterium von Golgatha zu einer Grenze. Wir können das ganze Verhältnis symbolisch darstellen.
Wenn uns dieser Kreis (links) die menschliche Seele bedeutet, so können wir sagen: Das Geisteslicht strahlt von allen Seiten von außen an diese menschliche Seele heran. Dann kommt das Mysterium von Golgatha, und nach ihm hat die Seele in sich selber den Christus-Impuls und strahlt aus sich heraus dasjenige, was in dem Christus-Impuls enthalten ist (rechts).
Wie ein Tropfen, der von allen Seiten bestrahlt wird und in dieser Bestrahlung erglänzt, so erscheint uns die Seele vor dem Christus-Impuls. Wie eine Flamme, die innerlich leuchtet und ihr Licht ausstrahlt, so erscheint uns die Seele nach dem Mysterium von Golgatha, wenn sie in die Lage gekommen ist, den Christus-Impuls auf-zunehmen.“ (Steiner, GA 142, 4. Vortrag 31.12.1912, S. 81ff, Hervorhebungen A.F.)
Über die Spiegelsprüche 23 W und 30 d
Die Mantren 23 W und 30 d zeigen vollkommen gegensätzliche Stimmungen, die ein Ich-Sprecher jeweils als eigenes Erleben beschreibt. In beiden Mantren zeigt sich also die Seelensituation des modernen, sich seiner selbst bewussten Menschen, jedoch polar gestimmt.
So wenig wie in der Moderne die Denksituation der Welle-Teilchen-Natur den Kundigen befremdet, so wenig befremden den Kundigen die Seelensituationen polarer Stimmungen. Die Mantren können analog zu Theatermasken, die eine für die Komödie, die andere für die Tragödie betrachtet werden, durch die ein einziger Ich-Sprecher sich äußert. Dann können die zweimal acht Verse als eine Dramaturgie begriffen werden, die ein Äußeres in ein Inneres invertiert.
Im Mantra 23 W richtet der Ich-Sprecher seinen Blick nach außen. Er beobachtet die Wahrnehmungsseite seiner Seele. Im Mantra 30 d richtet der Ich-Sprecher seinen Blick nach innen. Er beobachtet die Denkseite seiner Seele. Der Blick nach außen zeigt eine herbstliche Stimmung, dem Blick nach innen zeigt sich Sprießen und damit Frühlingsstimmung. Dem inneren Licht, dem Seelensonnenlicht (30 d) steht ein gedämpfter Wahrnehmungshunger, ein reduziertes Streben nach Sinnesreizen (23 W) gegenüber. Im Außen ist also nicht weniger Licht als vorher vorhanden, nur die Aufnahmemöglichkeit des Lichtes durch die Wahrnehmung nimmt ab. Der Prozess entspricht der abendlichen Ermüdung vor dem Einschlafen. Der reduzierten Sinnesaktivität (23 W) steht die vermehrte Produktivität des Denkens gegenüber (30 d). Reife Denk-Früchte sprießen im Licht der Seelensonne. Wohl gereifte Erkenntnisse, über einen längeren Zeitraum gewachsene Urteile, finden ihre Vollendung. Hier ist die Seele offensichtlich besonders wach.
Die Themen der Mantren betreffen offensichtlich den Gegensatz von Wahrnehmung und Denken, den Rudolf Steiner den Halbjahren von Sommer und Winter zuordnet. Das Mantra 23 W steht im letzten Viertel des Sommer-Halbjahres, das Mantra 30 d im ersten Viertel des Winter-Halbjahres. Gemeinsam beschreiben sie die Situation, die für konzentriertes, geistiges Arbeiten unabdingbar ist — die Außenreize müssen ausgeblendet werden, während im Innern das Bewusstsein sonnenhell ist. Bis hierher schildern die Mantren in poetisch-bildhafter Sprache Erfahrungen, die der gewöhnlichen Selbstbeobachtung zugänglich sind.
Nun heißt es im Mantra 23 W, dass sich in die Lichtesoffenbarung dumpfe Nebelschleier mischen. Nicht nur die Sinnesaktivität ist reduziert, auch die Offenbarung des Lichtes selber wird nun als vernebelt beschrieben. Nicht das, was das Licht beleuchtet hat sich verändert, das Licht selber ist ein anderes geworden. Was offenbarte denn das Licht, als es noch ungetrübt war? Und was ist mit den dumpfen Nebelschleiern gemeint? Eine Offenbarung meint das nach außen in die Sichtbarkeit Treten von etwas Wesenhaftem. Das Wesen des Lichtes zeigt sich in der Lichtesoffenbarung. Und diese Wesensoffenbarung ist nun vermischt, verunreinigt durch Nebelschleier. Die geistige Seite der Materie ist Licht, die irdische ist Maya, Täuschung. Offensichtlich ist die vom Licht vermittelte Geisterkenntnis nicht rein, sondern vermischt mit materialistischer Täuschung. Und diese Verdunkelung der Licht-Offenbarung ist unabhängig vom erkennenden Menschen. Um im oben verwendeten Bild Rudolf Steiners zu sprechen ist das von außen einstrahlende Licht minderwertig geworden. Dem steht im Mantra 30 d das Selbstbewusstsein gegenüber, das sich aus dem Fühlen speist. Alles Fühlen verwandelt sich in die Sicherheit des Selbstbewusstseins. Das Fühlen richtet sich nicht nach außen, es gewinnt die Sicherheit, ein Eigenwesen zu sein, nicht aus der Gegenüberstellung mit der Welt, sondern aus der fühlenden Wahrnehmung eigenen Bewusstseins. Aus Bewusstsein ist Selbstbewusstsein geworden. Der Ich-Sprecher nimmt wahr, dass das ausstrahlende Bewusstsein sein eigenes ist. Das Bewusstsein beleuchtet nicht nur die Welt, sondern auch die Quelle, seine Herkunft. Im Bild von Rudolf Steiner verwandelt sich das Fühlen in die aus dem Selbst ausstrahlende Lichtquelle.
Bis hierher war das Mantra 23 W eine sachliche Beschreibung, der Ich-Sprecher trat nicht auf. Er war am Prozess nicht beteiligt — nicht mal beobachtend. Doch nun betritt er die Bühne. Wie Rudolf Steiner oben ausführt, kann er erst auftreten, wenn das Offenbarungslicht dem Innenlicht des Ich-Bewusstseins gewichen ist. Nun steht der Ich-Sprecher als ein Selbst der in Schlaf gefallenen, verdunkelten, kalt gewordenen Welt gegenüber. Die einst in der Lichtesoffenbarung vorhandene Begegnungsmöglichkeit mit geistigen Wesen ist toter Leere gewichen. Die Situation beschreibt den modernen Menschen, dem die Natur und alle Geistwesen erstorben sind. Der Ich-Sprecher steht mutterseelen allein und schaut in Raumesweiten — und was er sieht ist Schlaf, Welten- bzw. Winterschlaf. Die einst ihm im Licht begegnenden, sich ihm offenbarenden Wesen sind in Schlaf gefallen. Sie sind nicht mehr ansprechbar für ihn. Doch dieser Geist, der vordem im Außen wahrnehmbar war, erwacht auf der anderen Seite — im Mantra 30 d. Hier empfindet der Ich-Sprecher voller Freude das Geisterwachen des Herbstes. Der Sterbeprozess, der im Herbst mit dem Welken der Pflanzen stattfindet, befreit den im Leben gebundenen Geist aus der Materie. Der Geist erwacht, wenn das Leben stirbt.
Beide Ich-Sprecher kommen nun zu einem Fazit und verwenden die Halbjahre, Sommer und Winter, als bildhafte Zusammenfassung der jeweiligen Prozesse. Dadurch wird ihre wechselseitige Abhängigkeit als höhere Einheit deutlich. Der inzwischen vergangene Sommer (23 W) hat sich selber dem Ich-Sprecher hingegeben. Der Sommer, die Offenbarung göttlichen Lichtes, hat sich dem Ich-Sprecher hingeopfert. Im Wahrnehmungsprozess ist die Lichtesoffenbarung eingezogen in den Menschen und deshalb im Außen nicht mehr zu finden. Hier herrscht nun “Weltenwinter”. Der Winter (30 d), der nach dem Herbst kommen wird, weckt eine Erwartung. Es ist der Seelensommer, die Kulmination innerer Produktivität, auf die der Ich-Sprecher hoffnungsvoll vorausblickt. Dieser Seelensommer muss geweckt werden durch den Winter. Der Seelensommer folgt auf das Geisterwachen des Herbstes. Der erwachte und winterlich kristallin und klar gewordene Geist muss nun in der Seele den Sommer wecken. Der Geist muss in der Seele Bewusstsein erweckend tätig werden, damit Seelensommer, reges seelisches Leben eintritt. Es lässt sich vermuten, dass es nun der Mensch ist, der sein Licht der Welt offenbart, indem er denkend tätig ist.
Schon zu Beginn des Mantras 30 d erlebte der Ich-Sprecher die sprießenden reifen Denk-Früchte — eine Verbindung von sprießendem Frühlings- und reifendem Herbst-Prozess. Hier erscheint die erste Achse im Jahreskreis, die zweite wird durch die innere Abhängigkeit des Seelensommers vom Winter gebildet. Gemeinsam bilden die vier Jahreszeiten ein Kreuz. Der in Raumesweiten schauende Ich-Sprecher des Mantras 23 W lässt dagegen mit den Raumesweiten das Bild des Umkreises entstehen, in dessen Mittelpunkt der Ich-Sprecher steht. Sowohl das Kreuz als auch der Kreis mit Mittelpunkt sind Sonnensymbole. Der frisch getaufte Jesus von Nazareth, in den der große Sonnengeist gerade eingezogen war — der sich ihm gerade hingegeben hatte — mag sich in der Welt gefühlt haben wie der Ich-Sprecher im Mantra 23 W. Mit Blick in die eigene Seele könnte er sich erlebt haben wie der Ich-Sprecher im Mantra 30 d — war er doch selber gerade 30 Jahre alt — durch das eigene Sonne-Sein die Kreuzform schimmernd, den Kreuzestod ahnend vorausverkündigend.