Die Gegensprüche 4 D und 30 d
4 D
Ich fühle Wesen meines Wesens: So spricht Empfindung, Die in der sonnerhellten Welt Mit Lichtesfluten sich vereint; Sie will dem Denken Zur Klarheit Wärme schenken Und Mensch und Welt In Einheit fest verbinden. |
30 d
Es sprießen mir im Seelensonnenlicht Des Denkens reife Früchte, In Selbstbewusstseins Sicherheit Verwandelt alles Fühlen sich. Empfinden kann ich freudevoll Des Herbstes Geisterwachen: Der Winter wird in mir Den Seelensommer wecken. |
Die Eurythmieformen zu den Mantren 4 D und 30 d
Über den Buchstaben “D”
Das D wird durch einen weichen Verschluss der Zunge hinter den Zähnen gebildet, der dann durch den stimmhaften Luftstrom gesprengt wird. Das D ist also ein Laut, der mit dem sanften Überwinden eines Widerstandes verbunden ist am Artikulationsort der Zähne.
Rudolf Steiner sagt über das D: Wenn Sie jemand frägt, wo etwas ist, und Sie wissen es, so werden Sie die Gebärde des Hinweisens, die Sie machen, am ehesten mit dem Laut D begleiten. … Das D ist Hindeuten, Hinstrahlen. Die Nachahmung dieses Hindeutens, Hinstrahlens, das Aufmerksammachen, dass etwas da ist, liegt in dem D” (zitiert aus GA 279, in Ernst Moll, die Sprache der Laute, S. 93) Das Hindeuten war nach Rudolf Steiner die Aufgabe des orientalischen Erziehers. Er war sozusagen Stellvertreter der Götter bzw. wurden die Götter als die eigentlichen Erzieher der Menschen angesehen. Im gotischen Alphabet wird der D‑Laut ‘Daaz’ genannt, was abgeleitet ist aus dem gotischen Wort ‘dags’ der Tag. Im Lateinischen ist mit ‘deus’ (Gott) ‘dies’ (Tag) verwandt. Ernst Moll schreibt: “Unser großer Erzieher ist ‘dies’, der Tag, der deutende ‘Deus’, der lenkende Gott, der Tag als der kosmische Deuter! Das D ist der Tag! … Der Mensch schaut sich um, gewahrt die Dinge der Welt um sich herum — ‘dies durch dich’ ist die Antwort seiner Seele auf das was er wahrnimmt. Arme und Hände ‘deuten’ hin auf die Gegenstände, die draußen den Sinnen gegenüberstehen, senken sich hinein in die Umgebung, ‘er schwingt mit’. … Das ist das D als der strahlende Tag!” (Die Sprache der Laute, S. 95) Im Tag wurde also das lichtvolle, ausstrahlende Hindeuten des Gottes gesehen, damit der Mensch erkennen möge. Das D bewirkt mit diesem hinstrahlenden Deuten, dass es konkret und detailliert gesehen werden soll. Dadurch hat das D auch den Charakter des Determinierens, wie es im Wort ‘Datum’ erlebbar wird. Was gesehen und darauf gedeutet werden kann, dass ist ein ‘Ding’, dessen Ursprungsbedeutung ‘Gericht’ ist, wie es noch der Thin-Platz, die Gerichtsstätte zeigt, mit der das Wort Ding verwandt ist. Das D ist auch das Richtungsgebende. “Das D drückt immer aus ein Feststellen, ein Richtiges.” (GA 282, zitiert in Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 102) Im ‘Du’ deutet der Mensch auf den Anderen und erkennt ihn als Gegenüber, als von sich verschieden und doch gleich.
Der griechische Buchstabe Delta ist ein Dreieck. Dies ist auch die Form eines spitzen Dachs, welches das Haus nach oben abschließt und gleichzeitig zum Himmel weist. Schon die ältesten griechischen und phönizischen Inschriften zeigen diesen Buchstaben als Dreieck. Der Name Delta stammt vom hebräischen Buchstabennamen ‘Daleth’, was ‘Tür’ bedeutet, was einen weiteren Aspekt des D zeigt. “Immer ist die Tür etwas, das uns aufmerksam machen kann, dass da etwas ist. Und während der Mensch etwa im B noch ‘eingehüllt’, verborgen wie in einem Mantel im Schoße der Gottheit ruht — und zugleich gewahr wird das Andere, …’ wird der Mensch im D‑Laut stark, er dringt durch und findet sich selbst: <Ich muss durch>’.” (Ernst Moll S. 101, mit Zitat Rudolf Steiners nach: Die Grundelemente der Eurythmie, Dubach-Donath) Als gleichschenkliges Dreieck ist es das umfassende Symbol für alles Hindurchstrahlen und Deuten. So wurde es zum göttlichen Auge. Rudolf Steiner sagt: “Das gleichseitige Dreieck mit dem Mittelpunkt ist das Symbolum für das equilibrierte Zusammenwirken von Denken, Fühlen und Wollen, aus dem heraus die Liebeskraft vom Menschen aktiv erzeugt werden soll. … Die Mission der Erdenentwicklung ist, ein vollständiges Gleichgewicht der drei Elemente des Denkens, Fühlens und Wollens zu bewirken. In der okkulten Symbolik wurde das stets durch das gleichseitige Dreieck ausgedrückt, mit dem Mittelpunkt, dem Ich, das dieses Gleichgewicht aktiv schafft und dadurch das vierte, das Element der Liebe schafft. … Die Dreiheit zur Vierheit machen, ist das Geheimnis der Erdenentwicklung.” (GA 212, in Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 100) Das D als Delta-Dreieck deutet also auch immer auf das Erdenziel hin, auf die zu entwickelnden höheren Wesensglieder des Geistselbst, Lebensgeist und Geistmenschen, für die das Symbol des Dreiecks ebenso steht. Diese Wesensglieder spielen für das Denken, das im Deutschen bedeutsamer Weise das Siegel des D trägt, eine entscheidende Rolle, wie Rudolf Steiner sagt: ” Das Denken und Vorstellen wird nicht durch das Gehirn hervorgerufen, sondern ist eine innere übersinnliche Tätigkeit der drei höheren Glieder der menschlichen Wesenheit. Die Gedanken werden gespiegelt durch die Tätigkeit des Gehirns und wiederum zurückgeworfen in den Ätherleib, Astralleib und das Ich” (GA 129, zitiert in Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 100) So wie die Zähne als das festeste im Körper geordnet und gegründet stehen, so bildet der hinter den Zähnen gebildete Zahnlaut D die Kraft ab, sich durch das Denken geistig zu begründen — geistig da zu sein.
Über die Gegensprüche 4 D und 30 d
Das Licht prägt die Stimmung der Mantren 4 D und 30 d, ohne dass es im Zentrum steht. Diese Mantren sind hell, sehr hell sogar. Inneres Licht wird gerne mit Bewusstsein verbunden. Doch das Mantra 4 D hat nur bedingt einen wachen Ich-Sprecher. Es ist die Empfindung, die nicht die Umwelt, sondern sich selbst wahrnimmt, sich selbst fühlt und dies ausdrückt. Doch alles weitere ist in der neutral beschreibenden dritten Person verfasst. Es geht um einen Prozess, der auch dann — oder sogar gerade dann geschieht, wenn kein waches Tagesbewusstsein herrscht. Im Mantra 30 d ist das anders, denn dieses Mantra ist aus der Perspektive eines Ich-Sprechers geschrieben. Auch sein Blick richtet sich nach innen. Er benennt die Ergebnisse seines Denkens, die Veränderung seines Fühlens und schließlich das, was er empfindet. Neben dem Licht (4 D: sonnerhellte Welt, Lichtesfluten und 30 d: Seelensonnenlicht, Seelensommer) spielt in beiden Mantren die Empfindung bzw. das Empfinden eine Rolle.
Im Mantra 4 D spricht die Empfindung. Sie sagt, dass sie das Wesen ihres Wesens fühlt. Die Empfindung ist das erwachende Bewusstsein, die aufkeimende Wahrnehmungsfähigkeit. Ich verstehe die Empfindung als das, was Rudolf Steiner die Empfindungsseele nennt. Diese Seele kennzeichnet ein Bewusstsein, das noch eine Einheit bildet mit dem Wahrnehmungsgegenstand, mit der Welt. Die Empfindung sagt und erkennt damit, dass sie sich selber wahrnimmt. Sie fühlt das Wesen ihres Wesens. Sie sagt, dass sie das selber fühlt: “Ich fühle …” Die Empfindung spricht als Ich, denn das aufkeimende Bewusstsein, das mit zunehmender Wachheit zum Ich-Bewusstsein werden wird, nimmt zuerst die eigene Empfindungsfähigkeit und dadurch sich selber wahr. Die Empfindung nimmt wahr, dass Ihr Wesen fühlendes Gewahrsein ist. Was nun folgt, nimmt die Empfindung nicht selber wahr. Es wird als ein objektiver Vorgang geschildert. Die Empfindung ist in einer Umgebung, in einer Welt, die von der Sonne erhellt ist. Diese Sonne könnte das eigene Bewusstseinslicht sein, denn ohne dieses Licht ist die Empfindung nicht in der Lage überhaupt etwas wahrzunehmen. Doch die Empfindung erkennt es nicht als Eigenlicht. Sie vereint sich mit den Lichtesfluten, mit der auf sie einströmenden, ununterbrochenen Flut an Wahrnehmungen. In jeder Wahrnehmung ist Licht verborgen, Weisheitslicht durch das dieses Wesen oder dieses Ding geschaffen wurde. Auch wenn die Weisheit z.B. einer Pflanze, die geometrischen Gesetze, die sie in der Blüte zum Ausdruck bringt, das weisheitsvolle ihrer Lebensprozesse usw. dem Betrachter nicht bewusstwerden, so ist diese Weisheit doch in der Wahrnehmung dieser Pflanze enthalten. Seine Empfindungsseele vereinigt sich mit diesen Weisheitsfluten der Wahrnehmung. Und gerade aus der wahrnehmenden Vereinigung mit der Welt kann die Empfindungsseele die Wärme gewinnen, die sie dem Denken zu dessen Klarheit schenken will. Für die Empfindungsseele gibt es noch keine Dualität. Sie erlebt ungebrochene Einheit mit der Welt, denn die Trennung kommt erst in der Verstandes- oder Gemütsseele auf. Durch ihr Sein verbindet die Empfindungsseele den Menschen fortwährend mit der Welt, auch wenn dieses Einheitsbewusstsein vom Verstand übertönt wird.
Im Mantra 30 d stellt der Ich-Sprecher fest, dass ihm im Seelensonnenlicht reife Früchte des Denkens wachsen. Sie sprießen ihm in Sonnenlicht seiner Seele. Dieses Seelensonnenlicht ist das Seelenlicht, die zu Bewusstsein sich wandelnde Lebenskraft, die jede Seelenfähigkeit und so auch das Denken erst ermöglicht. Reife Denkfrüchte sind Ideen, Gedankenzusammenhänge, die lebendig gewachsen und an der Wirklichkeit sich gebildet haben. Diese tragfähigen Denk-Früchte verwandeln das situative, schwankende Fühlen in die Sicherheit des Selbstbewusstseins. Die wichtigste Denk-Frucht ist die Erkenntnis von sich selbst, die Selbsterkenntnis. Echte Selbsterkenntnis bewirkt sicheres Selbstbewusstsein. Und durch die Sicherheit des Bewusstseins von sich begründet der Mensch sich als Geist. Der Geist, der im unbewussten Zustand geschlafen hatte, erwacht. Rudolf Steiner sagt, dass die Erde im Herbst erwacht, indem sie alle Lebenskräfte in sich hineinzieht. Zum Herbst gehört also das Erwachen des Geistes. Und das ist erst der Anfang, denn die Wachheit steigert sich bis in den Winter — und mit ihr das Seelensonnenlicht, denn das wird im Seelensommer sicherlich besonders hell und warm scheinen.
Im Mantra 4 D wird die hinstrahlende, hinweisende, die Welt berührende Qualität des D’s erlebbar. Im Mantra 30 d berührt die Welt den Menschen. Diese Berührung zeigt sich in den sprießenden Denk-Früchten und im Sicherwerden des Selbstbewusstseins. Hier steht die befestigende Qualität des Stoßlautes im Vordergrund.