Das Urbild des Jahreslaufs als Ursprung alter Weisheit
… Mit 26 Fußknochen je Fuß wandert der Mensch seinen Lebensweg, und steht er auf beiden Füßen, so sind es 52 Knochen. Auch die Zeit schreitet mit zweimal 26 Wochen durch das Jahr. Eine tiefe Beziehung besteht zwischen dem Menschen und dem Jahreslauf. Seit Urzeiten war er Bild für die großen Fragen des Lebens, des Werdens und Vergehens. So verwundert es auf den zweiten Blick eigentlich nicht, in Kunstwerken Aspekte desselben ausgedrückt zu finden.
Die Venusfigurine — Zeit als Raum erleben
Die erste und offensichtlichste Struktur des Jahreslaufs ist der Kreis, der Jahreskreis. Jeder, der an die stete Wiederholung der Jahreszeiten denkt, wird im inneren Bild eine Kreisbahn sehen, auf der wir entlang leben. Sicher gleicht kein Jahr dem anderen, eine Jahres-Windung legt sich über die andere, doch das Urbild dieser Bewegung ist der Kreis.
In einem der ältesten Zeugnisse menschlichen Kunstschaffens tritt deutlich die Idee des Kreises zu Tage. Das charakteristische dieser, von den Pyrenäen bis Sibirien gefundenen, 35.000 – 12.000 Jahre alten kleinen Frauenstatuetten, ist ihre Körperfülle und ihr fehlender oder vergleichsweise ausdrucksloser Kopf. Sie sind ganz Körper; ihr Bewusstsein ist nicht erweckt. Sie leben in der Hingabe der Wahrnehmung, in Gegenwärtigkeit, ganz im Sein.
Die in Österreich gefundene sogenannte Venus von Willendorf drückt dieses Bewusstsein für mich am klarsten aus: Der Körper in seiner Rundheit ist so gebildet, dass ein Kreis sichtbar wird mit dem Bauchnabel als Mittelpunkt. Die auffallend dünnen Ärmchen liegen über den Brüsten und markieren den oberen Kreisbogen, die Knie deuten den unteren an. Der Kopf ist leicht geneigt, doch dort, wo das Gesicht sein müsste, ist nur eine leere Fläche. Ein vollständig in sich gekehrtes oder schlafendes Bewusstsein zeigt sich darin — ich kann es auch als ein Ruhen in der Gegenwärtigkeit ansehen.
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Venus von Willendorf (ca. 11 cm groß, knapp 30.000 Jahre alt, 1908 in Österreich gefunden), Quelle: Wikipedia
Lineares und räumliches Zeiterleben
Unser Zeiterleben gliedert sich in drei Zeiträume, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Doch von diesen ist nur die Gegenwart real, Vergangenheit und Zukunft entstehen als individuelle Konstrukte des Bewusstseins. Da es eine Echtzeit auf der Erde gibt, die für alle Menschen gilt, vereint Gegenwärtigkeit uns mit allen. Räumlich sind wir Menschen auf der Erde getrennt voneinander. Doch durch die Zeit, in der Gegenwart, sind wir alle verbunden. Aus diesem Zeitstrom kann kein einziger Mensch herausfallen. Die Zeit trägt und bewegt uns alle als große Gemeinschaft. Vergangenheit und Zukunft sind für jeden individuell, doch jeder Gegenwarts-Moment ist Gegenwart aller Menschen.
Bin ich gegenwärtig, so bin ich in dem Zeitraum, den alle Menschen teilen. Gegenwärtigkeit zu erleben, ist eine Frage des Bewusstseins. Es ist eine Frage der Wachheit, der Präsenz. Gelingt diese Wachheit, kann ich Zeit als Raum wahrnehmen. Dieser Gegenwarts-Zeit-Raum hat die Form eines Kreises, dessen Mittelpunkt ich bin – ganz so, wie ich der Mittelpunt meiner Horizont-Wahrnehmung bin, sofern keine Erhebungen die Kreislinie stören. Dieser kreisrunde Raum meiner Gegenwärtigkeit ist mein Bewusstseinsraum, in dem ich ruhen kann. Es ist das in vielen Meditationen angestrebte leere Bewusstsein, die unmittelbare Präsenz. Tritt ein Gedanke oder ein Willensimpuls auf, bin ich in der Gefahr, meine Gegenwärtigkeit zu verlieren. Dann falle ich aus diesem Raum heraus.
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Venus von Willendorf – Die Zeit als Raum, als Zeitenleib der Großen Göttin, oder das Ruhen in der Gegenwärtigkeit des Augenblicks
Der kreisrunde Raum der Gegenwärtigkeit verhält sich zum Zeitraum eines Jahres wie der Same zum Baum. Verstehe ich den Jahreslauf als den in der Venusfigurine angedeuteten Kreis, so macht die Figur einen Zeitenleib sichtbar, den Leib einer großen Göttin. Möglicherweise drückt sich darin das Lebensgefühl der Menschen vor der letzten Eiszeit aus. Vielleicht fühlte sich der Mensch ruhend im Zeitenleib dieser Mutter-Göttin, als ihr Kind. So lange er in der Gegenwärtigkeit ruhen konnte, fühlte er sich während des Frühlings und Sommers ihren nährenden Brustbereich durchwandernd und während des Herbstes und Winters in ihren Fortschritt bringenden Beinen lebend. Im Winter wurden traditionell die Kinder geboren, da ging das Leben von Generation zu Generation weiter. In diesem Zeitenleib konnte er sich geborgen erleben, solange sein Kopfbewusstsein schlief – so lange er kein zweifelndes, trennendes, sich gegenüberstellendes Denken entwickelte.
Auch ich kann dieses Lebensgefühl für mich herstellen, gibt es doch den Jahreslauf nach wie vor, der in der Vorstellung ganz von alleine das Bild des Kreises annimmt. Dann lebe ich geborgen im Zeitenleib der Großen Göttin, die die Zeit selber ist, die alles Leben hervorbringt. Sie trägt auch mich wie alle Menschen in ihrem Leib. Ich bin ihr Kind und stets mit ihr vereint. Es liegt nur an mir, ob ich meinen kritischen Kopf zum Schweigen bringen kann, ob mein Trennung und Distanz schaffender Verstand schlafen kann. Vielleicht waren diese Kopflosen, weiblichen Figuren Meditationshilfen, um diesen in tiefer Gegenwärtigkeit ruhenden Bewusstseinszustand herzustellen. Jedenfalls erweist sich mir diese Vorstellung als hilfreich!
Das Aufleuchten des erkennenden Bewusstseins — Die Einheit wird gegliedert
Etwas jünger als die Venusfigurinen sind die Steinzeichnungen aus Kasachstan, die sogenannten Sonnenmenschen. War bei den weiblichen Figuren vor allem der Körper wichtig, so ist es hier der Kopf, an dem ein dünner, eher männlicher Körper hängt. Diese, aus der Bronzezeit stammenden Petroglyphen zeigen einen Menschen, dessen Kopf hell ist. Die Licht-Punkte im Außen korrespondieren mit denen im Kopf. Jede Wahrnehmung im Außen lässt eine Erkenntnis innen aufleuchten. Jede Idee ist ein leuchtender Stern. Dieser Mensch ist ganz erkennendes Bewusstsein, das vereinzeln, unterscheiden gelernt hat und in sich, in seiner Vorstellung, ein Abbild erschaffen kann.
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Sonnenmensch im Seelenkalender (Tamgaly, Kasachstan, ca 25.000 v.Chr.)
Erkenntnisse sind ein sonnenhaftes Aufstrahlen
Um Erkennen zu können, ist sowohl Unterscheidungsvermögen als auch Zusammenzufassung von Einzelaspekten nötig. Die Vielzahl der Punkte steht dem einen, der wie ein Auge in einem eigenen kleinen Kreis liegt, gegenüber. Dies könnte auf Analyse und Synthese deuten, zwei elementare Fähigkeiten im Denkprozess. Möglicher Weise ist in den neun Punkten auch eine Zeitgliederung, die neuntägige Woche des alten slawischen Kalenders, dargestellt. In jedem Fall veranschaulicht diese Menschendarstellung ein Bewusstsein von Vielfalt und Differenzierung ‑sowohl zeitlich als auch gegenständlich — im Vergleich zu der Venusfigurine, die Einheit ausdrückt.
Das Quadrat der Krisensprüche — Grenzen der vier Wesensglieder-Wirkungen im Bild der Pyramide
Im Seelenkalender findet sich ein Quadrat. Es bildet sich aus den vier Krisensprüchen. Sie unterscheiden sich von den anderen, indem sie warnend auf eine bedrohliche Situation aufmerksam machen. Dies sind die Sprüche 7‑G, 20‑T, 33‑g, 46‑u. Sie bilden die Mitte jedes der 13 Wochen umfassenden Vierteljahre und dadurch ein Quadrat.
Aus dem Quadrat kann ich gedanklich eine Pyramide entstehen lassen, wenn ich mir vier von außen zum Zentrum wirkende Kraftströme vorstelle, die sich zur Mitte hin stauen. Gerade so beschreibt Rudolf Steiner das Zusammenwirken der Wesensglieder „Da sehen Sie den einen Strom, und Sie sehen den anderen Strom. Jetzt aber denken Sie sich, Sie könnten den einen und den anderen Strom nicht sehen, sondern Sie könnten nur dasjenige sehen, was an der Stelle durch das Durcheinanderwirbeln der zwei Ströme zum Vorschein kommt. Das ist das Stück an Ihrer äußeren Leiblichkeit, was Ihr Auge oder sonst irgendein äußerer Sinn an Ihnen selber wahrnehmen kann. Sie können geradezu an Ihrer Haut begrenzen, wo dieses Zusammentreffen von Empfindungsseele und Empfindungsleib stattfindet. Hieraus sehen Sie an einem Beispiel, wie dasjenige, was wir geistig betrachtet haben, wie diese verschiedenen Glieder des Menschen an dem Menschen selber formen. Wir sehen, wie die Seele am Leibe selber formt“ (GA 115, S. 59). Diese gegenseitige Stauung beschreibt Rudolf Steiner im selben Vortrag auch für die vier Wesensglieder Ich, Astralleib, Ätherleib und Physis. Sie bilden den Raum-Leib, der durch Empfindungsleib und Empfindungsseele der Entwicklung, der Zeit unterworfen ist.
Von vier Richtungen des Raumes streben die vier Wesensglieder-Kräfte zum Zentrum und stauen sich. Sind die Kräfte gleich stark, schiebt sich im inneren Bild eine Pyramide hoch. Lege ich dieser geistigen Schöpfung das Quadrat der vier Krisensprüche zu Grunde, so entsteht im Seelenkalender eine Pyramide, deren zur Spitze führende Seitenkanten die Krisensprüche sind. Gerade diese Sprüche drücken eine Gratwanderung aus, ein Ringen um Gleichgewicht, das durch die Pyramidenkanten sprechend ins Bild gesetzt wird.
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Die Pyramide von Gizeh im Seelenkalender und die Wirkrichtungen der Wesensglieder von Rudolf Steiner (GA 115, S. 39, ohne die in die Dreidimensionalität führenden Richtungen von Empfindungsleib und Empfindungsseele) im Seelenkalender
Die Pyramide von Gizeh veranschaulicht die gedanklich gebildete Pyramide. Bei genauer Betrachtung dieses Bauwerks fällt auf, dass die vom Betrachter rechte Fläche eine Teilungslinie zeigt. Diese entsteht durch den Schattenwurf, denn ebenso wie die anderen Flächen ist sie leicht nach innen geknickt. Das verstärkt den Eindruck von vier nach innen wirkenden Kräften. Diese vier Grundkräfte können damals durch die vier Elemente ausgedrückt worden sein. Heute sind sie durch Rudolf Steiner als die vier Wesensglieder-Wirkkräfte beschrieben. Möglicherweise war eine geheime Jahreslauf-Weisheit die Inspirationsquelle für den Pyramidenbau, wie er an vielen Orten der Welt vielfältig verwirklicht wurde.
Die Halbjahre als eigene Ganzheiten — das Yin- und Yang-Zeichen
Die beiden Alphabete der Spruchbezeichnungen teilen das Jahr in eine Sommer- und eine Winter-Jahreshälfte. Der Sommer ist hell, der Winter dunkel. Yin und Yang werden als die Wandlungsphasen bezeichnet, wodurch allein schon der Bezug zum Jahreslauf deutlich wird: Yang gilt als durchdringende helle Kraft, Yin als aufnehmende dunkle. Im Seelenkalender können die “Augen” dieser „Fischchen“, die traditionell in ein Kreissymbol gezeichneten werden, im Spruch 23 W und 48 w gesehen werden. Der Spruch 23 W zeigt in der hellen Sommer-Jahreshälfte einen erstaunlich dunklen Charakter. Der Gegenspruch 48 w ist im äußerlich dunklen Winter-Halbjahr ein Lichtspruch:
23 W
Es dämpfet herbstlich sich
Der Sinne Reizesstreben,
In Lichtesoffenbarung mischen
Der Nebel dumpfe Schleier sich,
Ich selber schau in Raumesweiten
Des Herbstes Weltenschlaf,
Der Sommer hat an mich
Sich selber hingegeben.
48 w
Im Lichte, das aus Weltenhöhen
Der Seele machtvoll fließen will
Erscheine, lösend Seelenrätsel,
Des Weltendenkens Sicherheit
Versammelnd seiner Strahlen Macht
Im Menschenherzen Liebe weckend.
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Das Yin-Yang-Symbol im Seelenkalender von 1912/13
Die Gegensprüche 23 W und 48 w bilden die „Augen“ der Halbjahres-„Fischchen”, die Integration der gegenteiligen Kraft
Jedes Halbjahr ist im Seelenkalender nicht nur durch ein eigenes Alphabet als Ganzheit gekennzeichnet, sondern auch, indem der Gegensatz integriert wird. Die “Augen” der Halbjahres-“Fischchen” sind der Keim des Neuen, die Gewähr des Ausgleichs der Einseitigkeit, des ewigen Wandels. Im Licht aus Weltenhöhlen (48 w) kündigt sich der helle Sommer an, in den dumpfen Nebelschleiern (23 W) der dunkle Winter. Mit dem Keim oder Samen des Neuen beginnt sich dieses Neue einzuleben. Sichtbar wird dies durch die “Schwänzchen” des jeweils entgegengesetzten “Fischchens”. Ganz zart und fein beginnt es, bevor der eigentliche Wechsel der Halbjahre stattfindet. Ab der Woche 23 W bereitet sich der dunkle Winter vor, ab der Woche 48 w der helle Sommer.