Was ist eigentlich der “Seelenkalender”?
Da kann ich dir eine schnelle und äußerliche Antwort geben. Doch wenn du eine tiefergehende, wirklich-wirkliche Antwort möchtest, dann komm mit auf eine Reise zu den großen Geheimnissen des Lebens. Bist du bereit?
Hier sind die Fakten für alle, denen die schnelle Übersicht reicht:
- 52 mantrische Sprüche
- mit Ostern beginnend den Wochen des Jahres zugeordnet
- von Rudolf Steiner
- 1912 veröffentlicht
Wer diesen Sprüchen begegnet, spürt unmittelbar ihre kraftvolle Energie, ihre magische Macht. Der Intellekt steht jedoch ratlos, wie ausgesperrt davor, obwohl die Mantren in deutscher Sprache verfasst sind. Sie bleiben dem Verstand mehr oder weniger unzugänglich.
An dieser Stelle wenden sich viele Menschen wieder ab, geben auf, resegnieren. Andere leben in der Stimmung des Spruchs, verbinden sich fühlend mit seiner Kraft und lassen sich durch das Jahr leiten. Wenn es dir so geht wie mir, dann reicht dir das nicht.
Die Frage bleibt: Was ist der Seelenkalender wirklich?
Ich sage an dieser Stelle immer, die 52 kurzen, stimmungsvollen Sprüche für jede Wochen im Jahres einen, sind auf “seelisch” geschrieben — und “Seelisch” ist für uns eine Fremdsprache. Die Mantren sind wie Tore, in eine andere Dimension. In ihnen sind 52 Licht-Pfade, Transformationsprozesse der Seele, 52 Entwicklungsstufen im großen Lebenszyklus der Seele beschrieben. Der Seelenkalender ist ein Jahreslauf der Seele, ein Führer im Prozess des Stirb-und-Werde, das Leben ist.
Ja, sagst du vielleicht, was nützt mir das? Wenn ich die einzelnen Sprüche und damit die Schritte des Prozesses nicht verstehen kann, wie soll ich dann eine Vorstellung davon entwickeln, an welchem Punkt des großen Weges ich jeweils stehe? Was rückt auf den verschiedenen Stufen in meinen Horizontkreis ‑was tritt in mein Bewusstsein?
Wieder scheint die Tür verschlossen, oder doch nicht ganz? Der Kreis als Jahreskreis steht deutlich vor dem Bewusstsein. Wir sprechen vom Hochsommer und Tiefwinter. Das Sommer-Halbjahr erscheint im inneren Bild als die obere Kreishälfte, der Winter als die untere. Nach meiner Erfahrung sehen die meisten Menschen spontan den Frühling links, den Herbst rechts vor sich. Damit bewegt sich das Jahr im Uhrzeigersinn.
Mal angenommen, der Jahreszyklus als Ganzheit wäre ein Wesen, eine große Mutter, die alles Leben in sich birgt, hervorbringt und transformiert — wie könnte diese Große Göttin dargestellt werden?
Ich habe eine Darstellung aus der Steinzeit gefunden, die mich vermuten lässt, dass der Künstler genau diese Inspiration verwirklichen wollte.
Die Venus von Willendorf — die Große Göttin
In einem der ältesten Zeugnisse menschlichen Kunstschaffens tritt deutlich die Idee des Kreises zu Tage. Das charakteristische dieser, von den Pyrenäen bis Sibirien gefundenen, 35.000 – 12.000 Jahre alten kleinen Frauenstatuetten, ist ihre Körperfülle und ihr fehlender oder vergleichsweise ausdrucksloser Kopf. Sie sind ganz Körper; ihr Bewusstsein ist nicht erweckt. Sie leben in der Hingabe der Wahrnehmung, in Gegenwärtigkeit, ganz im Sein.
Die in Österreich gefundene sogenannte Venus von Willendorf drückt dieses Bewusstsein für mich am klarsten aus: Der Körper in seiner Rundheit ist so gebildet, dass ein Kreis sichtbar wird mit dem Bauchnabel als Mittelpunkt. Die auffallend dünnen Ärmchen liegen über den Brüsten und markieren den oberen Kreisbogen, die Knie deuten den unteren an. Der Kopf ist leicht geneigt, doch dort, wo das Gesicht sein müsste, ist nur eine leere Fläche. Ein vollständig in sich gekehrtes oder schlafendes Bewusstsein zeigt sich darin — ich kann es auch als ein Ruhen in der Gegenwärtigkeit ansehen.
Venus von Willendorf (ca. 11 cm groß, knapp 30.000 Jahre alt, 1908 in Österreich gefunden), Quelle: Wikipedia
Lineares und räumliches Zeiterleben
Unser Zeiterleben gliedert sich in drei Zeiträume, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Doch von diesen ist nur die Gegenwart real, Vergangenheit und Zukunft entstehen als individuelle Konstrukte des Bewusstseins. Da es eine Echtzeit auf der Erde gibt, die für alle Menschen gilt, vereint Gegenwärtigkeit uns mit allen. Räumlich sind wir Menschen auf der Erde getrennt voneinander. Doch durch die Zeit, in der Gegenwart, sind wir alle verbunden. Aus diesem Zeitstrom kann kein einziger Mensch herausfallen. Die Zeit trägt und bewegt uns alle als große Gemeinschaft. Vergangenheit und Zukunft sind für jeden individuell, doch jeder Gegenwarts-Moment ist Gegenwart aller Menschen.
Bin ich gegenwärtig, so bin ich in dem Zeitraum, den alle Menschen teilen. Gegenwärtigkeit zu erleben, ist eine Frage des Bewusstseins. Es ist eine Frage der Wachheit, der Präsenz. Gelingt diese Wachheit, kann ich Zeit als Raum wahrnehmen. Dieser Gegenwarts-Zeit-Raum hat die Form eines Kreises, dessen Mittelpunkt ich bin – ganz so, wie ich der Mittelpunt meiner Horizont-Wahrnehmung bin, sofern keine Erhebungen die Kreislinie stören. Dieser kreisrunde Raum meiner Gegenwärtigkeit ist mein Bewusstseinsraum, in dem ich ruhen kann. Es ist das in vielen Meditationen angestrebte leere Bewusstsein, die unmittelbare Präsenz. Tritt ein Gedanke oder ein Willensimpuls auf, bin ich in der Gefahr, meine Gegenwärtigkeit zu verlieren. Dann falle ich aus diesem Raum heraus.
Venus von Willendorf im Jahreskreis, das Sommerhalbjahr rot, das Winterhalbjahr blau markiert
Der kreisrunde Raum der Gegenwärtigkeit verhält sich zum Zeitraum eines Jahres wie der Same zum Baum. Verstehe ich den Jahreslauf als den in der Venusfigurine angedeuteten Kreis, so macht die Figur einen Zeitenleib sichtbar, den Leib einer großen Göttin. Möglicherweise drückt sich darin das Lebensgefühl der Menschen vor der letzten Eiszeit aus. Vielleicht fühlte sich der Mensch ruhend im Zeitenleib dieser Mutter-Göttin, als ihr Kind. So lange er in der Gegenwärtigkeit ruhen konnte, fühlte er sich während des Frühlings und Sommers ihren nährenden Brustbereich durchwandernd und während des Herbstes und Winters in ihren Fortschritt bringenden Beinen lebend. Im Winter wurden traditionell die Kinder geboren, da ging das Leben von Generation zu Generation weiter. In diesem Zeitenleib konnte er sich geborgen erleben, solange sein Kopfbewusstsein schlief – so lange er kein zweifelndes, trennendes, sich gegenüberstellendes Denken entwickelte.
Auch ich kann dieses Lebensgefühl für mich herstellen, gibt es doch den Jahreslauf nach wie vor, der in der Vorstellung ganz von alleine das Bild des Kreises annimmt. Dann lebe ich geborgen im Zeitenleib der Großen Göttin, die die Zeit selber ist, die alles Leben hervorbringt. Sie trägt auch mich wie alle Menschen in ihrem Leib. Ich bin ihr Kind und stets mit ihr vereint. Es liegt nur an mir, ob ich meinen kritischen Kopf zum Schweigen bringen kann, ob mein Trennung und Distanz schaffender Verstand schlafen kann. Vielleicht waren diese Kopflosen, weiblichen Figuren Meditationshilfen, um diesen in tiefer Gegenwärtigkeit ruhenden Bewusstseinszustand herzustellen. Jedenfalls erweist sich mir diese Vorstellung als hilfreich!
Der Sonnenmensch von Tamgaly — das Aufleuchten der Erkenntnis im Bewusstseins
Etwas jünger als die Venusfigurinen sind die Steinzeichnungen aus Kasachstan, die sogenannten Sonnenmenschen. War bei den weiblichen Figuren vor allem der Körper wichtig, so ist es hier der Kopf, an dem ein dünner, eher männlicher Körper hängt. Diese, aus der Bronzezeit stammenden Petroglyphen zeigen einen Menschen, dessen Kopf hell ist. Die Licht-Punkte im Außen korrespondieren mit denen im Kopf. Jede Wahrnehmung im Außen lässt eine Erkenntnis innen aufleuchten. Jede Idee ist ein leuchtender Stern. Dieser Mensch ist ganz erkennendes Bewusstsein, das vereinzeln, unterscheiden gelernt hat und in sich, in seiner Vorstellung, ein Abbild erschaffen kann.
Sonnenmensch im Jahreskreis (Tamgaly, Kasachstan, ca 25.000 v.Chr.)
Erkenntnisse sind ein sonnenhaftes Aufstrahlen
Um Erkennen zu können, ist sowohl Unterscheidungsvermögen (Analyse) als auch Zusammenzufassung von Einzelaspekten (Synthese) nötig. Die Lichtpunkte außerhalb des großen Kopfes verstehe ich als die Namen der Dinge, die mit der Wahrnehmung zusammengehören. Die bewusst gebildeten eigenen Vorstellungen leuchten innen auf. Von diesen nochmals abgegrenzt ist ein Punkt im Zentrum, der wie ein Auge wirkt. Zeigt der Punkt vielleicht, dass dieser Mensch sich seiner selbst bewusst ist? Dass da jemand ist, der sieht? Die Begriffe sind Schöpfungen des Menschen aus Wahrnehmung und Denken. Der Sonnenmensch ist Schöpfer und in seinem dritten Auge ist er sich dessen bewusst. Wirkt es nicht wie der Brennpunk der ganzen Umwelt, wie ihre Samen-Bildung?
Die Venus von Willendorf zeigt uns, wie das Ruhen im Bewusstseinsraum der Gegenwärtigkeit zum Erleben des Jahreskreises als Leib der großen Göttin führt. Der Sonnenmensch ermutigt uns, zu erkennen, dass wir Schöpfer sind. Wir erschaffen mit jeder Idee leuchtende Lichtpunkt-Fischchen, die unseren Bewusstseinsozean durchschwimmen. Könnte es sein, dass der Jahreslauf auch ein Erkenntnisorgan ist, ein großer Spiegel des dritten Auges?
Möglicherweise war in den Anfängen der Kulturentwicklung, aus der beide Beispiele stammen, gerade der Jahreskreis Quelle tiefster Weisheit und allgegenwärtige göttlich-mütterliche Gegenwart. Ist es vielleicht denkbar, dass die Sprüche des Seelenkalenders deshalb so kraftvoll und gleichzeitig so verschlossen sind, weil sie die Kraft der Großen Göttin und die Grundlage hellsichtiger Erkennnis bergen?