11 L
Es ist in dieser Sonnenstunde
An dir, die weise Kunde zu erkennen:
An Weltenschönheit hingegeben,
In dir dich fühlend zu durchleben:
Verlieren kann das Menschen-Ich
Und finden sich im Welten-Ich.
Auflösung des Astralleibs — die zweite Stufe nach dem Tod
Unser Astralleib, in Ableitung von griechisch “Aster” auch “Sternenleib” genannt, ist der Träger unseres Bewusstseins, das selber noch nicht Selbstbewusstsein ist, dieses aber aus sich hervorbringt. Der Astralleib ist der Erreger jeder Begierde und Leidenschaft. Jeder als sympathisch oder antipathisch beurteilten Empfindungen liegt der Astralleib zu Grunde, ebenso unseren Gedanken und Vorstellungen. Auch unsere Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit beruht auf den Kräften des Astralleibs. Rudolf Steiner sagt: “In diesem astralischen Leib sieht das hellseherische Bewußtsein alles abgebildet, was man seelische Erlebnisse nennt, von dem niedersten Triebe an bis hinauf zum höchsten sittlichen Ideale.“ (GA 104, S. 52).
Diese Fülle von irdisch-seelischen Erlebnissee muss nach dem Tod verarbeitet und aus einem neuen Bewusstsein heraus beurteilt werden. Dies geschieht, indem das Leben rückwärts erlebt wird in dreifach beschleunigter Lebenszeit. Rudolf Steiner beschreibt: „Nachdem man … die Handlungen durchgemacht hat, zurückgelaufen ist mit den Handlungen bis zu seiner Geburt, ist es so, daß man diese Handlungen eben vom Sternenstandpunkte aus beurteilt. Man bekommt jetzt über sich nicht das Urteil, daß man bloß zurückschaut, sondern man bekommt das Urteil nach vorwärts; man bekommt das Urteil: Dies mußt du tun, um auszugleichen diese Handlung; dies mußt du tun, um auszugleichen eine andere Handlung. — Darinnen steht man für die nächsten zwanzig, dreißig Jahre seines Lebens nach dem Tode, je nachdem man alt geworden ist, etwa ein Drittel der irdischen Zeit. Kinder machen das sehr kurz durch. Es kommt kaum in Betracht bei ganz kleinen Kindern, wie Sie sich denken können nach meinen Ausführungen. Man durchlebt auf diese Weise tatsächlich, indem man noch einen geistig-seelischen Zusammenhang hat mit seinem Irdischen, sein Leben rückwärts noch einmal. Und wenn man angekommen ist bei der Geburt, dann stellt sich das heraus, daß einem von alldem die Erinnerung bleibt. Es ist jetzt gerade so, wie wenn man wieder einen Leib ablegen würde. Man sagt, man legt den astralischen Leib ab. Aber was in Wirklichkeit geschieht, ist, daß sich das lebendige Tun, in dem man vorher war, verwandelt in ein Gedankenbild, nur daß jetzt ein ganz anderes Bewußtsein, ein Sternenbewußtsein denkt, während hier ein irdisches Bewußtsein gedacht hat.“ (GA 218, S. 166f). Eine ganz neue Sinnhaftigkeit, ein neues Verstehen der Zusammenhänge des eigenen Lebens stellt sich ein — verbunden mit dem Willen zum Ausgleich. Ein Karma-Bewusstsein entwickelt sich. Dadurch wird der Same bereitet für das Karma eines neuen Lebens. Wenn ich im Leben mein Ich als die meine Gedanken willenshaft führende Instanz erlebt habe, so fragt sich, welcher Art das Ich des neuen Sternenbewusstseins ist, das nach Ablegen des Astralleibs nun denkt. Das Mantra 11 L scheint mir darauf eine Antwort zu geben.
Das nicht von Menschenhand gemalte Antlitz Christi
Im Zitat oben wird gesagt, dass sich auf dieser Stufe der Entwicklung das lebendige Tun, also der gewohnte Fluss des Lebens in ein Gedankenbild, in ein ruhig stehendes Gesamtbild verwandelt. Diese Aussage möchte ich zum Anlass nehmen, einer sehr alten Tradition nachzuspüren, der Verehrung des sogenannten Abgar-Bildes. Das Abgar-Bild, auch Mandylion genannt, ist der Legende nach das nicht von Menschenhand gemalte Bild des Antlitz Christi. (Die Abbildungen dieses Tuches sind natürlich gemalte Ikonen.) Dieses heute verlorengegangene Tuch zeigt Parallelen zum Turiner Grabtuch bzw. dem Schweißtuch der heiligen Veronika. Diese zeigen das Antlitz Christi, das durch Abdruck seines Gesichtes auf diesem Tuch entstanden sein soll.
Mandylion kommt von altgriechisch μανδύλιον‚ was Tuch, Handtuch‘ bedeutet. Ein Bote soll dem kranken mesopotamischen König Abgar V. Ukamma statt Jesus in Person, ein Tuch mit dessen Gesicht mitgebracht haben, woraufhin der König gesund wurde. Dieses Bild gilt als die erste Ikone und wird auch das Christusbild von Edessa (heute Şanlıurfa, Türkei) genannt.
Typischer Weise wird bei Darstellungen dieses Bildes das Haupt Christi frontal, ohne Halsansatz, dargestellt. Seine Haare fallen beidseits in zwei bis drei Flechten bis auf die Schultern, auch der Bart läuft in älteren Exemplaren in zwei Spitzen aus. Wie drei Kraftströme fließen die Haare aus dem Kreis des Heiligenscheins und erinnern an die drei Geistgestalten der Verklärung: Elias, Christus und Mose, die wie drei Säulen im Bild stehen (siehe dazu beim Mantra 10 K.)
Mandylion, Jaroslawel Anfang 13. Jhd.
Beim Anblick dieses Bildes kam mir der Gedanke, dass der König damals geheilt wurde, weil er im Jahreskreis das Angesicht Christi als die Leben spendende Sonnenmacht schauen konnte, die den Jahreslauf hervorbringt.
Auf der ältesten Darstellung, die ich fand, ragen die Haare nicht aus dem Heiligenschein heraus. Dadurch bleibt der goldene Nimbus geschlossen und erscheint wie erfüllt vom Gesicht. Der Jahreskreis als Gewebe, als Tuch, in dem Christi Antlitz erscheint, wird hier noch deutlicher.
Mandylion von Edessa, das nicht von Menschenhand gemaltes Antlitz Christi, Novgoroder Ikone, 1100
Warum sind es immer mindestens zwei (manchmal links drei) Haarstränen, zwei Bartspitzen? Ich habe dazu keine erklärende Äußerung gefunden. Möglicherweise ist dadurch auf die auf Erden waltende Dualität gewiesen, die in Vereinigung Ganzheit darstellt. Auch die beiden Halbjahre bilden erst gemeinsam den Jahreskreis.
Was sagt mir das Mantra 11 L?
Das Mantra 11 L spricht mich als Leser direkt an. Trotz der beiden Verse, die mit je einem Doppelpunkt abgeschlossen sind, und die der eigentlichen Botschaft vorangestellt sind, liest sich das Mantra 11 L als eine einzige und zusammenhängende “Wörtliche Rede”. Ich werde als Leser durchgängig als Gegenüber mit Du angesprochen.
Wer ist es, der hier spricht und redet, aber ungenannt bleibt? Im vorhergehenden Spruch 10 K wurde das Bild der Sonne vor die Seele gestellt, deren Wesen am Schluss als ein Gottesgeist benannt wurde. Im Spruch 1 A wird die Sonne als Sprechende genannt, doch folgt keine Rede. Alle drei Mantren sind besonders prominente Vertreter der Qualitäten der Zahl Eins. Dadurch kommt als Sprecher für dieses Mantra das Sonnenwesen in Frage. Der Stil ist eindringlich, auffordernd, belehrend. Ich komme mir als Leser vor wie ein Schüler, der eine Unterweisung erhält, die mich streng anspricht und wach macht.
Es ist in dieser Sonnenstunde an dir, die weise Kunde zu erkennen: Wenn ich etwas in dieser Stunde erkennen soll, so soll ich es sofort, jetzt, auf der Stelle, zu dieser Stunde erkennen. Es ist dringlich! Die Sonnenstunde sagt, dass das zu erkennende jetzt möglich, beleuchtet ist – zu anderen Zeiten aber nicht, dass es dann sozusagen im Dunkel liegen wird. Es ist an mir es zu erkennen. Ich bin der, auf den es in diesem Prozess ankommt, ich bin gefragt, Bewusstsein zu entwickeln. – Von der anderen Seite ist alles vorbereitet, es herrscht Sonnenstunde und die Kunde, das Wissen ist vorhanden.
Eine weise Kunde soll ich erkennen. Kunde hat mit künden und verkünden zu tun. Im Mantra 9 i kündet die Ahnung mir kraftvoll mich zu verlieren, um mich finden zu können. Im Mantra 10 K ist es die Empfindung, die dumpf kündet, dass ich einst erkennen werde, was sich dort gegenwärtig zuträgt. Hier im Mantra 11 L ist die Tätigkeit des Kündens zur Kunde geworden. Es ist ein Wissen, dass ich erkennen soll. Es lautet: Verlieren kann das Menschen-Ich und finden sich im Welten-Ich. Was vorher in den beiden Mantren spezielles Erlebnis war, ist nun Kunde geworden — ein fertiges Wissen, von dem ich in Kenntnis gesetzt werde.
Doch vor der eigentlichen Kunde ergeht eine zweifache Aufforderung an mich. Ich erhalte die Anleitung für eine spirituelle Praxis: Während ich an die Weltenschönheit hingegeben bin, soll ich mich fühlend durchleben. Dieser Anweisung muss ich folgen, wenn ich ein Kundiger werden will.
Was ist die Weltenschönheit, der ich mich wahrnehmend hingeben soll? Über die heilsame “Essenz” der Schönheit schreibt Eckhart Tolle: “Gegenwärtigkeit ist nötig, um zur Schönheit, zur Majestät, zur Heiligkeit der Natur aufzuwachen. … Jenseits der Schönheit aller äußeren Formen gibt es noch mehr: etwas, das nicht benannt werden kann, etwas Unaussprechliches, eine tiefe, innere, heilige Essenz. Wann und wo immer Schönheit ist, da scheint diese innere Essenz quasi durch. ” (Eckhart Tolle, Jetzt, die Kraft der Gegenwart, Bielefeld, 28. Aufl. 2014, S. 108). Die Weltenschönheit ist die Schönheit der Welt, all ihrer Geschöpfe und Gestalten im stetigen Wandlungsprozess des Jahres. Alles Schöne ist in seiner Art vollkommen. Ich bekomme also gesagt, ich soll die Vollkommenheit in allem wahrnehmen und ganz darin aufgehen. Ich soll die Schönheit nicht nur im Werden sehen, sondern auch im Vergehen, denn das macht die Welt aus. Sie ist in ständiger Wandlung begriffen. Diese Bilder der Vollkommenheit der Welt soll ich ganz in mich aufnehmen. In diesem Wahrnehmen bin ich gewöhnlich ganz im Außen, ganz beim Wahrnehmungsgegenstand. Hier werde ich jedoch aufgefordert, mich gleichzeitig fühlend zu durchleben, mich nach innen zu wenden. Ich soll mich fühlen.
Mich zu fühlen bedeutet zunächst, meine Emotionen und Gefühle wahrzunehmen. Aber außerdem sind auch meine Willensimpulse und Gedanken in ihren sympathischen oder antipathischen Tingierungen für mich innerlich erfühlbar. Für kundige Menschen offenbaren die Muskeln die vergangenen Erlebnisse eines Menschen. Sie speichern alle Traumata. Die Emotionen und der Körper reagieren auf jede gedankliche Bewertung, die der Geist vornimmt und bewahren sie als Muskelspannung, bis eine Neubewertung erfolgt. Das sympathisch bewertete Erlebnis wirkt entspannend, das antipathisch bewertete führt zu höherer Anspannung. Werde ich mir meines Fühlens bewusst, bin ich ganz gegenwärtig. So ist ungeschminkte Selbsterkenntnis möglich.
Gewöhnlich gelingt es mir entweder bewusst die sinnliche Außenwelt wahrzunehmen, oder meine seelische Innenwelt. Eckhard Tolle beschreibt im obigen Buch, dass es mit etwas Training möglich ist, in beiden Richtungen gleichzeitig “bewusst zu sein”. Dadurch hebe ich meine unterbewussten Reaktionen auf ein neues Niveau, meine sonst unbewusst bleibende Gefühls-Antwort tritt ins Bewusstsein. Diese doppelt gerichtete Aufmerksamkeit ermöglicht mir eine neue Sicht auf die Welt und auf mich. So ganz gegenwärtig zu sein, beschreibt er als frei von der Zeit zu sein. Dadurch erhält sowohl die Wahrnehmung eine tiefere Dimension, als auch mein Fühlen des Körpers: “Die zeitlose Dimension bringt eine andere Art von Wissen mit sich, eine, die den Geist, der in allen Lebewesen und allen Dingen lebt, nicht <tötet>. Ein Wissen das die Heiligkeit und das Geheimnis des Lebens nicht zerstört, sondern eine tiefe Liebe und Verehrung für alles beinhaltet, was ist. Ein Wissen, von dem der Verstand nichts weiß.” (Eckhart Tolle, Jetzt, s.o., S. 65).
Und über das Fühlen des eigenen Körpers schreibt er: “Indem du tiefer in deinen Körper gehst, bist du über ihn hinausgegangen.” Und kurz darauf: “Wenn du nun mit deiner Aufmerksamkeit tief in den inneren Körper hineingehst, erreichst du vielleicht diesen Punkt, diese Einzigartigkeit, wo sich die Welt im Unmanifesten auflöst und das Unmanifeste als Energiefluss des Chi Form annimmt, der dann die Welt wird. Das ist der Punkt von Geburt und Tod. Wenn dein Bewusstsein nach außen gerichtet ist, entstehen der Verstand und die Welt. Ist es nach innen gerichtet, erkennt es seine eigene Quelle und kehrt nach Hause zurück ins Unmanifeste. …
Lasse dies deine spirituelle Praxis sein: Während du mit deinem Leben befasst bist, gebe der äußeren Welt und deinem Verstand nicht hundert Prozent deiner Aufmerksamkeit. Behalte einen Teil im Innern. Ich habe darüber schon gesprochen. Fühle den inneren Körper auch, wenn du alltägliche Dinge tust, besonders wenn du [mit Menschen oder] … mit der Natur in Kontakt bist. Fühle die Stille in deinem Innersten. Halte das Portal geöffnet. Es ist wirklich möglich, dein ganzes Leben lang ein Gewahrsein für das Unmanifeste zu haben. Du spürst es als ein tiefes Gefühl von Frieden, irgendwo im Hintergrund, eine Stille, die dich nie verlässt, ganz gleich was da draußen passiert. Du wirst zu einer Brücke zwischen dem Unmanifesten und den Manifestationen, zwischen Gott und der Welt. Das ist der Zustand von Verbundenheit, den wir Erleuchtung nennen. … Das Unmanifeste… ist das Leben innerhalb einer jeden Form, die innerste Essenz von allem, was lebt.” (Eckhart Tolle, Jetzt, s.o. S. 140ff)
Nach dieser Anleitung für ein spirituelles Training folgt die eigentliche Kunde: Verlieren kann das Menschen-Ich und finden sich im Welten-Ich. Schon im Mantra 9 I (Neun und großes i) leuchtete dieses Thema auf. Dort hieß es noch: Verliere dich, um dich zu finden, — eine Aussage, die sich nur auf mich bezog. Daraus ist nun eine verallgemeinerte Lehre geworden, eine Kunde, die in ihrer Bedeutung über die Aussage von 9 I hinaus geht. Ich soll nicht nur mein irdisch-egoistisches Mittelpunkts-Gefühl verlieren und mich in meinem geistigen Sein finden. Nun soll ich dieses geistige Sein, mein Menschen-Ich, ebenso verlieren können, um mich zu integrieren im Welten-Ich.
Es heißt: Verlieren kann das Menschen-Ich … Das Menschen-Ich kann also in einen Zustand kommen, in dem es sich verliert. Und es kann — nicht wird oder muss — sich finden im Welten-Ich. Es sind zwei Möglichkeiten beschrieben. Um hier eine Vorstellung dieses Prozesses entwickeln zu können, ist die schon öfter erwähnte Punk-Kreis-Meditation hilfreich. Im irdischen Leben erfahre ich mein Ich als Zentrum meiner Seele. (Die Unterscheidung des Ichs vom Ego soll hier nicht thematisiert werden.) Das Ich kann sich vom Zentrums-Sein weiten und Umkreis werden. Ein Umstülpungsprozess kann sich vollziehen. Im Leben im physischen Leib spiegeln mir die anderen Menschen mein Ich durch die Art, wie sie auf mich reagieren. Auch wenn ich mich einer Wahrnehmung ganz hingebe, gehe ich aus mir heraus und werde für den Moment Umkreis. Betrachte ich dieses Umkreis-Werden aber für das Leben nach dem Tode, so stellt sich die Frage: was bleibt von meinem individuellen Sein, wenn ich mich zum Umkreis weite? Gehe ich ins Nirvana ein, verhauche ich mich dann? Nein, sagt das Mantra 11 L, ich kann mich auch finden im Welten-Ich.
Doch worin kann ich mich eigentlich finden? Was oder wer ist das Welten-Ich? Das Welten-Ich ist eine Bezeichnung Rudolf Steiners für den Christus, wie folgendes Zitat deutlich macht: „Das Ich ist im Menschen dasselbe wie Christus in der Welt. … Christus ist das Weltenzentrum. Er ist das Wort, das in der Mitte der ganzen Entwicklung steht. … Das Göttliche hatte sich mit der eigenen Schöpfung vollständig vereint, als Christus sich herabsenkte auf die Persönlichkeit des Jesus von Nazareth und in ihm seinen Einzug hielt. Dieser Christus war ein Ausdruck des ganzen Weltenlebens in einem physischen Körper, in der Hülle der Persönlichkeit des Jesus, der in Palästina lebte. Dort war das ganze Weltenleben zusammengestrahlt wie in einem Mittelpunkt. Dort wohnte während drei irdischen Jahren das Welten-Ich. Dort kam das Welten-Ich zu sich, zum Bewusstsein seiner ganzen Aufgabe für die Welt, die vorher von ihm ausgegangen war. Hatte zuerst der Logos die Welt aus sich hervorgehen lassen durch das Schöpferwort, hielt er selbst diese aus ihm hervorgeströmte Welt in seinen Armen und durchpulste er sie mit seinem eigenen Leben, so nahm er jetzt das große Opfer auf sich, nicht länger nur als Schöpfer und Erhalter dieser Welt zu leben und über sie zu herrschen, sondern er zog mit seinem Leben in das Zentrum dieser Welt ein. Die Welt hatte er sich gestaltet als eine Hülle, als den Tempel, in dem er wohnen wollte. Da verband sich das Wort mit allem, was durch dasselbe gedacht war. Das Wort ward Fleisch.“ (GA 91, S. 241)
Das, was beim Menschen das Ich ist, seine ganz individuelle geistige Essenz, die von Inkarnation zu Inkarnation geht, die im Leben Mittelpunkt der Seele ist, dieses Ich gehört zum Mikrokosmos — zum Innenraum des Menschen. Dem Mikrokosmos steht der Makrokosmos gegenüber. Auch der Makrokosmos hat ein Ich, wie Rudolf Steiner ausführt: „Der Christus unterscheidet sich ganz radikal von anderen Wesenheiten, die an der Erdenentwickelung teilnehmen. … Er war eine makrokosmische Wesenheit vom Beginn der Erdenentwickelung an, eine Wesenheit, welche also ganz anderen Entwickelungsbedingungen ausgesetzt ist als die mikrokosmischen Wesenheiten. Und seine Entwickelungsbedingungen waren eigener Art. Sie waren so, daß diese makrokosmische Christus- Wesenheit außerhalb des Irdischen das makrokosmische vierte Prinzip, das makrokosmische Ich entwickelt hatte. … Es war also für die Entwickelung der Christus-Wesenheit normal — als sie von dem Makrokosmos niederstieg auf unsere Erde -, hereinzubringen den großen Impuls vom makrokosmischen Ich, damit das mikrokosmische Ich, das Menschen-Ich, diesen Impuls aufnehme und weiterkommen könne in der Entwickelung. … So ist das Christus-Wesen ein Wesen, das in einer gewissen Beziehung dem Menschen gleicht, nur daß der Mensch mikrokosmisch ist und seine vier Prinzipien mikrokosmisch zum Ausdruck gebracht hat, also auch sein Ich mikrokosmisch hat als Erden-Ich, der Christus aber als Welten-Ich. … Und wie der Mensch während der Erdenzeit die Mission hat, sein Ich auszubilden, um empfangen zu können, so hatte der Christus sein Ich auszubilden, um geben zu können. Als er herunterstieg auf die Erde war er so, daß alles in seiner Wesenheit verwendet war, um in möglichst vollkommener Gestalt sein viertes Prinzip [Hervorhebung A.F.] zum Ausdruck zu bringen. Nun hat ein jedes gleichzahlige Prinzip des Makrokosmos und des Mikrokosmos eine innige Verwandtschaft zum entsprechenden anderen, das die gleiche Zahl hat. Das vierte makrokosmische Prinzip im Christus entspricht dem vierten mikrokosmischen im Menschen und das fünfte im Christus wird dem Geistselbst im Menschen entsprechen.“ (Lit.:GA 130, S. 213ff)
Ich erhalte in diesem Mantra die Kunde, dass ich mein Menschen-Ich nicht verlieren muss im Nirvana, wenn ich mich vollständig zum Umkreis geweitet habe, sondern dass ich mich finden kann im Welten-Ich, in Christus als dem Makrokosmischen Ich. Diese Kunde scheint mir auch in dem Rosenkreuzerspruch enthalten zu sein, der lautet: «Ex deo nascimur — In Christo morimur — Per spiritum sanctum reviviscimus» (Aus dem Gotte sind wir geboren — In dem Christus sterben wir — Durch den Heiligen Geist werden wir auferstehen).
In Christus zu sterben, mein irdisches Menschen-Ich zu verlieren, aufzugeben, um mich im Welten-Ich des Christus zu finden, bedeutet für mich im Leben, das unbewusste Zusammenwirken meiner drei Seelenfähigkeiten (Denken, Fühlen und Wollen) ins Bewusstsein zu heben. Dadurch kann ich das unbewusst-reflexhaft ablaufende Zusammenwirken dieser drei Seelenfähigkeiten beenden, meinen Astralleib ein Stück auflösen und die drei Seelenfähigkeiten unter die ordnende Kraft des Ichs stellen.
Erstaunlicherweise zeigt die Struktur des Mantras einen deutlichen Bezug zu den drei Seelenfähigkeiten. Es besteht aus drei Zeilenpaaren. Jedes dieser Paare wird beherrscht einem bzw. zwei Verben, die einen deutlichen Bezug zu einer der drei Seelenfähigkeiten aufweisen:
In den ersten beiden Zeilen werde ich angewiesen zu erkennen, was Kunde geworden ist: also zu erkennen, was aus der Vergangenheit stammt. Das ist die Welt des Denkens.
In den mittleren beiden Zeilen soll ich mich hingeben und fühlen: das ist ein gegenwärtiger Prozess, die Seelenfähigkeit des Fühlens.
In den letzten beiden Zeilen geht es um das Verlieren und das Finden, das sind Prozesse, die passieren können. Sie werden ausgedrückt durch Verben der Handlung, die Zukunftsbezug zeigen. Dahinter steht das Wollen.
So zeigt sich mir, dass sich die den Seelenfähigkeiten eigenen Zeitqualitäten in den entsprechenden Zeilen entdecken lassen. Das Mantra zeigt sich dadurch als Ausdruck des Astralleibs.
Einen letzten Gedanken will ich an die im Mantra genannte Sonnenstunde anfügen: Einst, so sagt Rudolf Steiner, war der Astralleib sonnenhaft. Dann wurde er mondenhaft, um das Ich als neue Sonne aus sich zu gebären. Im Mantra scheint es mir genau um diesen Geburtsprozess zu gehen.