18 R
Kann ich die Seele weiten,
Dass sie sich selbst verbindet
Empfangnem Welten-Keimesworte?
Ich ahne, dass ich Kraft muss finden,
Die Seele würdig zu gestalten,
Zum Geisteskleide sich zu bilden.
Was ist die Seele?
Unser Wort Seele stammt von urgermansch *saiwalō bzw. *saiwlō und wurde vermutlich von *saiwaz, “See” abgeleitet. Von den Griechen wurde sie in der Antike Psyche (ψυχή, psychḗ = „Atem, Atemhauch“) genannt, auf lateinisch anima. Es ist jenes Glied des Menschen, das seine leibliche und geistige Existenz miteinander verbindet.
Aus anthroposophischer Sicht entsprechen Leib, Seele und Geist einer Substanz in unterschiedlichen Erscheinungsformen. So wie Wasser als Eis, Flüssigkeit oder Dampf erscheinen kann, so kann auch die “Menschensubstanz” als Leib fest, als Seele fließend und als Geist geistig in Erscheinung treten. Die volle Entfaltung einer seelischen Innenwelt ist nur dem Menschen möglich. Ihrer substantiellen Natur nach entstammt die Seele dem Astralleib, dem dritten Wesensglied des Menschen. Die Seele ist Organ des Bewusstseins, in dem die Begierden und Empfindungen aufleben. Sie agiert mit der Welt durch die Seelenfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens. Verbildlicht wird die Seele meist in weiblicher Gestalt. Rudolf Steiner erklärt die Dreiheit von Körper, Seele und Geist so: „Mit Leib ist hier dasjenige gemeint, wodurch sich dem Menschen die Dinge seiner Umwelt offenbaren […] Mit dem Worte Seele soll auf das gedeutet werden, wodurch er die Dinge mit seinem eigenen Dasein verbindet, wodurch er Gefallen und Mißfallen, Lust und Unlust, Freude und Schmerz an ihnen empfindet. Als Geist ist das gemeint, was in ihm offenbar wird, wenn er, nach Goethes Ausdruck, die Dinge als «gleichsam göttliches Wesen» ansieht. — In diesem Sinne besteht der Mensch aus Leib, Seele und Geist.“ (Lit.: GA 9, S. 26f)
Was meint der Begriff “Jungfrau” in Bezug auf die Seele?
In der Seele sind sowohl gute als auch böse, egoistische Anteile vereinigt. Sie ist auf Entwicklung angelegt. Egoistische, für andere Lebewesen schädigend wirkende Anteile müssen überwunden und in leben-fördernde Anteile verwandelt werden. Dieser Reinigungsprozess wird seit der griechischen Antike Katharsis genannt. Ein wesentlicher Aspekt ist die Haltung der physischen Welt gegenüber. Ist das, was die äußeren fünf Sinne des Menschen zeigen die einzige Wahrheit? Oder kann die physische Welt als Ausdruck eines Göttlichen gedacht, verstanden und gesehen werden? Dieser Entwicklungsprozess eines tieferen Verständnisses kann als eine Art Reinigung von Missverständnissen, von falschen Urteilen erlebt werden. Deshalb strebte der Mensch schon immer danach, seine Seele zu kultivieren und zu reinigen.
Von entscheidender Bedeutung war und ist diese Bewusstseinsentwicklung für Menschen, die Zutritt zur geistigen Welt erhalten wollen, d.h., die Einweihung anstreben. Rudolf Steiner erklärt, wie der Begriff “Jungfrau” auf die Seele bzw. den Astralleib bezogen, gemeint ist: “Die christliche Esoterik nannte diesen gereinigten, geläuterten astralischen Leib, der in dem Augenblick, wo er der Erleuchtung unterworfen ist, nichts von den unreinen Eindrücken der physischen Welt in sich enthält, sondern nur die Erkenntnisorgane der geistigen Welt, die «reine, keusche, weise Jungfrau Sophia». Durch alles das, was der Mensch aufnimmt in der Katharsis, reinigt und läutert er seinen astralischen Leib zur «Jungfrau Sophia». Und der «Jungfrau Sophia» kommt entgegen das kosmische Ich, das Welten-Ich, das die Erleuchtung bewirkt, das also macht, daß der Mensch Licht um sich herum hat, geistiges Licht. Dieses Zweite, das zur «Jungfrau Sophia» hinzukommt, nannte die christliche Esoterik — und nennt es auch heute noch — den «Heiligen Geist». So daß man im christlich-esoterischen Sinne ganz richtig spricht, wenn man sagt: Der christliche Esoteriker erreicht durch seine Einweihungsvorgänge die Reinigung und Läuterung seines astralischen Leibes; er macht seinen astralischen Leib zur «Jungfrau Sophia» und wird überleuchtet — wenn Sie wollen, können Sie es überschattet nennen — von dem «Heiligen Geiste», von dem kosmischen Welten-Ich.” (Lit.: GA 103, S. 201)
Wie kann ich mir Einweihung vorstellen?
Wie Einweihung erreicht werden kann, war für jede Kultur und Zeit anders, denn sie musste vom Entwicklungsstand der Seelen dieser Menschen ausgehen. Ausführlicher beschreibt Rudolf Steiner den Vorgang der Einweihung früherer Zeit so: „Erst ist es eine unbewußte Arbeit, die der Mensch an seinem Ätherleibe und seinem Astralleibe verrichtet. Diese vollzieht sich im allgemeinen Entwickelungsgang der Menschheit. Der Chela [Geistesschüler A.F.] beginnt diese Arbeit bewußt in die Hand zu nehmen. Es wird bei unablässigem Üben ein bestimmter Moment erreicht, wo der ganze astralische Leib umgewandelt ist. Dann kann sich alles, was im astralischen Leibe ist, in den Ätherleib hinein abdrücken. Dann erst darf dieses geschehen, früher nicht, denn früher kämen schlimme Eigenschaften hinein. Das Erworbene geht dann mit dem Kausalleib durch alle Inkarnationen hindurch. Die Verewigung, Verlebendigung alles dessen, was der Astralleib enthält, ist ein ungeheuer wichtiger Vorgang. Das kann er in keinem Kamaloka abwerfen, das trägt er für immer in sich. Deshalb ist die vorherige Reinigung sehr notwendig.
Das Abdrücken dessen, was der Astralleib enthält, in den Ätherleib, wurde in der alten Einweihung so vollzogen, daß der Schüler in eine Krypta gebracht und dort in eine Art Sarg gelegt wurde. Manchmal wurde er auch an eine Art Kreuz gebunden und in einen lethargischen Zustand versetzt, bei dem der Ätherleib zugleich mit dem Astralleib aus dem physischen Leib heraustrat. Etwas ähnliches, nämlich das Heraustreten eines Teiles des Ätherleibes, geht beim Einschlafen eines Gliedes vor sich; man kann dann den betreffenden Teil des Ätherleibes aus dem Körper heraushängen sehen. Die Einweihung selbst nahm ein besonders hoher Initiierter vor. Vieles andere noch wurde da nach vorgeschriebenen Regeln gemacht. Solch ein Schlaf war etwas anderes als ein gewöhnlicher Schlaf. Es blieb bloß der physische Leib in dem sogenannten Sarg zurück, und der Ätherleib und Astralleib gingen heraus; es war also eine Art Tod. Dies war notwendig, daß man den Ätherleib frei bekam, denn nur dann kann sich der Astralleib in den Ätherleib abdrücken. Dreieinhalb Tage dauerte dieser Zustand. Wenn der Novize dann von dem Initiator wieder hingelenkt wurde zu dem physischen Leib, so wurde ihm noch eine letzte Formel eingeprägt, mit der er aufwachte. Das waren die Worte: «Eli, Eli, lama sabachthani!», das heißt: «Mein Gott, mein Gott, wie hast Du mich verherrlicht!» Zugleich schien ihm ein bestimmter Stern, in der ägyptischen Einweihung der Sirius, entgegen. Jetzt war er ein neuer Mensch geworden. Man nannte nun den ganz vergeistigten Astralleib aus einem ganz bestimmten Grunde mit einem ganz besonderen Namen: «Jungfräulich» nannte man diesen Astralleib, die «Jungfrau Sophia». Und den Ätherleib, der aufnimmt, was die Jungfrau Sophia in sich trug, nannte man den «Heiligen Geist». Und das, was aus beiden entstand, das war der «Menschensohn». Der Verkündigung und Geburt des Jesus von Nazareth liegen diese Mysterieninhalte zugrunde.
Dieses innere Erlebnis wurde im Bilde auch so dargestellt, daß der Heilige Geist als die Taube über dem Kelch schwebt. Das ist der Moment, der im Johannes-Evangelium 1,32 beschrieben wird: «Und Johannes zeugete und sprach: Ich sah, daß der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf Ihm.» Denken Sie sich das auf dem astralen Plan erlebt, so haben Sie ein wirkliches Ereignis.“ (Lit.: GA 94, S. 290f)
Was sagt mir das Mantra 18 R?
Das Mantra 18 R beginnt mit einer Frage. Diese Frage richte ich als Leser an mich selber. Ich frage mich: Kann ich die Seele — natürlich meine Seele — weiten? Und, wie geht das, die Seele zu weiten? Welcher Art ist dieses Können, das die Seele weitet? Verschiedene innere Bewegungen kommen in Betracht: Fühlend weite ich die Seele, wenn ich mich frage: Kann ich fühlen, was ein anderer Mensch fühlt – nicht was ich an seiner Stelle fühlen würde, sondern was er fühlt? Kann ich Empathie entwickeln? Mein Denken weite ich, wenn ich frage: Kann ich aus dem linearen Entweder-Oder-Denken ein ganzheitliches Sowohl-als-auch-Denken machen? Kann ich einen Sachverhalt aus verschiedenen Perspektiven betrachten, sodass jeweils andere Aspekte als wahr erscheinen? Kann ich den Widerspruch aushalten? Meinen Willen weite ich in die Polarität von Innen und Außen, wenn ich frage: Kann ich in einer Sinneswahrnehmung ganz versinken und gleichzeitig in mir wahrnehmen, wie mein Fühlen antwortet? Kann ich den Abendhimmel genauso intensiv wahrnehmen, wie meine Freude in mir über den Himmel – kann ich dadurch wie eins werden mit dem Wahrgenommenen?
Durch die Frage an sich selber entsteht eine Gegenüberstellung des Ich-Sprechers und der Seele. Dadurch tritt das Ich als Gestalter der Seele hervor. Es ist das Ich, dessen Aufgabe die Kultivierung und Weitung der Seele heute ist. In der Parzivalerzählung wird die Bedeutung des Fragen-Könnens deutlich. Fragen zu stellen war auf alten Einweihungswegen hinderlich. Der kritische, fragenstellende Verstand durfte keinen Zutritt erhalten, er musste schweigen. Nur so war es einerseits möglich, die überlieferte Urweisheit möglichst unverändert von Generation zu Generation weiterzugeben. Und nur so war es andererseits dem Einweihungsschüler möglich, die unumstößliche Sicherheit im Glauben zu erlangen, die für die Wahrnehmung in geistigen Welten unumgänglich ist. Parzival verhält sich bei seinem ersten Besuch auf der Gralsburg entsprechend der alten Seelenhaltung. Doch genau daran scheitert er. Er muss die Gralsburg wieder verlassen, ohne dass Amphortas von seinem Leiden erlöst ist. Auf langen Schicksalswegen muss er sich das Fragen-Können, das Interesse am Anderen, die Weitung der Seele erarbeiten, bevor er ein zweites Mal die Gralsburg findet und die entscheidende Frage stellt.
Die Seele erhält, durch die vom Ich geleistete Weitung, die Möglichkeit, sich mit dem Welten-Keimeswort zu verbinden. Es ist die Seele, die diese Verbindung leisten muss. Im Mantra 17 Q der vorhergehenden Woche war es das Weltenwort, das ich durch Sinnestore in meine Seelengründe führen durfte. Nun ist es zum Welten-Keimeswort geworden, zum Weltenwort, das in der Seele keimen will, das im Begriff ist, neues Leben aus sich hervorkeimen lassen zu lassen.
Lässt sich dieser Lebenskeim in der Seele beobachten, der durch die Sinneswahrnehmung in ihr liegt? Als diesen Keim kann ich mein Ich-Bewusstsein ansehen. Es bildet sich durch den Kontrast von sinnlich wahrgenommener Außenwelt und emotional gefühlter Innenwelt. Meine Innenwelt-Wahrnehmung ist rein subjektiver Natur. Hier erlebe ich sympathische oder antipathische Reaktionen auf die Wahrnehmung der Außenwelt. Es sind meine Bewertungen — objektiven Charakter tragen sie nicht, denn jeder Mensch reagiert anders. Durch diese Bewertungen in gut und schlecht begrenze und verenge ich mich in der Seele. Schule ich meine Objektivität der Wahrnehmung gegenüber, das heißt, schule ich mich darin, die Wahrnehmung ohne Bewertungen einfach nur aufzunehmen, weite ich meine Seele. Die egoistische Verengung meines Ich-Bewusstseins überwinde ich in der Hingabe an die nun unbewertet bleibende Wahrnehmung. Das Ego strebt nach seinem Vorteil und verengt die Seele dadurch. Ohne Bewertungen in gut oder schlecht fehlt dafür — für die Vorteilsnahme durch das Ego — die Grundlage. Ist die Seele solcher Art geweitet, kann sie sich auf neue Art mit der Wahrnehmung verbinden. Nun kann ich erleben, wie die Wahrnehmung in mir beginnt zu leben, zu keimen. Wie sie beginnt, in mir lebendiges Bild zu werden für das Leben selber. Mein Ich-Bewusstsein wird zum stillen Beobachter und durchlebt vor allem durch die Wahrnehmung der Natur Geburt, Tod und Wiedergeburt. Denkend erfasse ich mich mit meinem Ich-Bewusstsein nun als ein Wesen, das durch Geburt und Tod hindurchgehen kann.
Nach der Frage zu Beginn des Mantras folgt nun eine Feststellung. Nach der Weitung in der Frage, in der die Aufforderung liegt, Weltinteresse zu entwickeln, kommt nun die Wendung zurück zu mir. Nun wird gesagt, was diese Weitung für mich bedeutet. Nun spüre ich, dass sie mich Kraft kostet, denn in mir muss einiges anders werden. Neudeutsch gesagt muss ich an mir arbeiten, meine Persönlichkeit entwickeln, begrenzende Muster auflösen, meine eigene moralische Haltung den Lebensfragen gegenüber finden. Ich ahne, dass ich Kraft finden muss für diese Arbeit. Es ist anstrengend an der Seele zu arbeiten. Ich muss die Seele würdig gestalten. Fragt sich also, was ist bisher unwürdig an mir? Alles unbewusste, reflexhafte Handeln zeugt nicht von Würde, sondern offenbart mangelndes Bewusstsein. Oft möchte ich sicherlich ganz anders reagieren. Alle niederen Triebe und Emotionen, alle Selbstsucht, Stolz und Überheblichkeit muss ich in mir ausfindig machen, fühlen und verwandeln. Ich muss alle Enge und Hartherzigkeit in liebevolle und dem Leben aller Wesen dienende Haltungen und daraus folgende Handlungen verwandeln.
Der Lohn dieser Kraftanstrengung steht mir noch nicht klar vor Augen. Noch ist das Welten-Keimeswort nur Keim und nicht voll entwickelte Pflanze. Noch kann ich nur ahnen, nicht wissen, dass ich diese Kraft aufbringen muss. Als Ziel dieser Anstrengung gibt das Mantra ein Bild. Die Seele soll zum Geisteskleid werden. Sie soll das Welten-Keimeswort würdig umkleiden können. Das Welten-Keimeswort ist Geist, mithin Keim einer neuen Welt, und die Seele soll diesem Keim einer neuen Welt die Hülle zur Entwicklung geben. Die Seele muss sich selber zum Geisteskleide bilden. Es heißt nicht, dass ich die Seele zum Geisteskleide bilden muss, denn dann würde es „sie zu bilden“ heißen. Es heißt aber: „Zum Geisteskleide sich zu bilden.“ Indem das Ich seine Arbeit der Weitung und würdigen Gestaltung erfüllt, bildet die Seele sich zum Kleid für den Geist. Die Seele wird würdige Hülle für den Geist.
Diese besondere Formulierung weist darauf hin, dass es sich hier um die Verwandlung des Astralleibs zum Geistselbst handelt. Die Seele wird Geistselbst. Das Geistselbst oder höhere Selbst kann sich mit dem Welten-Keimeswort, dem Christus verbinden, die Keimkraft neuen Lebens in sich leben und wachsen lassen.
Das Bild des Kleides oder Gewands findet sich in vielen Märchen und auch im Evangelium. Im Märchen von Aschenputtel zum Beispiel kann das Mädchen sich himmlische Gewänder vom Baum schütteln, der auf dem Grab ihrer Mutter wächst. Die Verbindung mit den Ahnen, die auch im Spruch durch das Wort “ahnen” anklingt, ist hier deutlich. Im Matthäusevangelium (22,11) wird von jemandem erzählt, der kein hochzeitliches Gewandt auf dem Fest trägt. Dieser wird gefragt, wie er denn in den Festsaal hineingekommen sei? Denn es war Brauch gewesen, dass alle Gäste ein Gewandt geschenkt bekamen. Im Urchristentum erhielten die neu getauften Menschen ein weißes Gewand als Zeichen, dass die Taufe sie reingewaschen hatte. Immer wieder ist das reine, weiße oder himmlisch schöne Gewand Bild für die sich würdig gemachte, reine Seele.
An zwei große Bilder kann ich mich durch das Mantra 18 R erinnert fühlen: Das erste wird angeregt durch das empfangne Welten-Keimeswort. Es ist die Seele, die empfangen hat. Hier kann ich sie als Maria sehen, die das Welten-Keimeswort, das Christkind, empfangen hat. Das zweite Bild entsteht, weil die Seele sich selbst verbinden soll mit dem Welten-Keimeswort. Sich zu verbinden heißt zu heiraten. Die mystische Hochzeit meint die Verbindung der (weiblichen) Seele mit dem (männlichen) Geist.
Das Mantra 18 R zeigt die Seele gleichzeitig sowohl als Mutter als auch als Braut. Das Ich nimmt sich in diesem Zusammenhang wie der Diener der Prinzessin-Seele aus. Das Ich muss die Arbeit des Weitens tun, es muss Kraft finden, die Seele würdig zu gestalten. Doch das Geisteskleid webt die Seele aus sich selber. Das Ich ist hier der Parzival, der die Frage stellen muss, den Handlungsbedarf erkennen muss.
Das himmlische Palladion — die ewige Urweisheit und Schutz der Menschheit
Bisher lag die Perspektive auf dem individuellen Geistkleid. Diesem von jedem einzelnen zu erringenden “kleinen” Geistkleid entspricht ein kosmisch-menschheitliches “großes” Geistkleid. Dieses makrokosmische Geistkleid wird seit der griechischen Antike als Palladion bezeichnet und als unbesiegbare Schutzmacht beschrieben. (Fanfact: Eine Firma für Feuerwehr-Schutzbekleidung heißt Palladion) Bei Wikipedia erscheint beim Stichwort Palladion das unten verwendete Bild. Es ist ein Relief, auf dem Athene als Statue mit Speer in der Hand auf einer Säule zu sehen ist. Um die Säule windet sich eine Schlange. Auf der linken Bildseite steht Nike, die geflügelte Göttin des Sieges, auf der rechten ein nicht näher bestimmter Krieger. Und hinter der Säule erscheint ein Ring. Keine der Beschreibungen, die ich las, erwähnen diesen Kreis.
Heute wird unter Palladion eine geheimnisvolle Schutzmacht verstanden und alle möglichen Dinge, die diesen Schutz versprechen, wie z. B. Reliquien, werden mit diesem Wort qualifiziert. Das Palladion ist zunächst nach der griechischen Mythologie ein Standbild der waffentragenden Athene, wie es das Relief zeigt. Dieses im Original verlorene Standbild war in Troja der Garant für das Wohlergehen der Burg. Von diesem Standbild wird erzählt, dass Athene auf einer Säule stand und in ihrer Rechten den Speer, in der Linken Spindel und Rocken oder ihren Schild hielt. Zeus selber soll Troja das Palladion vom Himmel herabgeworfen haben. (Nebenbei bemerkt hört sich diese Angabe nicht wirklich danach an, dass das Palladion ursprünglich ein Standbild war.)
Die Mythologie erzählt über die Entstehung dieses Standbildes, dass Athene eine Ziehschwester hatte, die Tochter des Meergottes Triton, Pallas mit Namen. Im Spiel tötete Athene diese versehentlich. Sie schuf das Standbild zum Andenken und übernahm selber deren Namen. Fortan heißt sie Pallas Athene, was Jungfrau Athene bedeutet.
Aus Troja wurde das Palladion von Odysseus geraubt und nach Athen gebracht. Anders hätte die Stadt nicht erobert werden können. Verschiedene Personen rühmen sich, im Besitz des Palladions zu sein, unter anderem Argos und Aeneas. Letzterer nahm es nach Rom mit, wo es im Tempel der Vesta auf das Strengste vor profanen Blicken gehütet wurde. Weiter heißt es, dass Konstantin der Große es um 330 n. Chr. nach Konstantinopel brachte und unter der Konstantinsäule vergraben ließ.
Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem Palladion? Was wird so sehr gehütet, dass im übertragenen Sinn heute jede heilig gehaltene Sache, die etwas schützt, auf deren Erhaltung viel ankommt, als Palladion bezeichnet werden kann? Was ist es, das den so nötigen heiligen Schutzraum bildet?
Ein anderes Attribut von Athene kann helfen, hinter das Geheimnis zu kommen. Zu Athenes Schmuck auf Brust und Schild gehört das Gorgonenhaupt, das Haupt der Medusa. Bevor sie — Medusa — von Perseus besiegt wurde, ließ sie alle Menschen zu Stein erstarren, die ihr ins Gesicht sahen. Medusa war eine von drei Schwestern, den Gorgonen, doch nur Medusa war sterblich. Alle drei waren Töchter eines Meergottes und einer Meergöttin und von Geburt an hässlich. Perseus gelingt es unter Athenes Schutz, der Medusa das Haupt abzuschlagen. Da Poseidon Medusa vorher geschwängert hatte, entstieg ihr Pegasos, das geflügelte Pferd der Phantasie. Fortan trägt Athene das Gorgonenhaupt auf Brust und Schild.
Athene ist die Göttin der Weisheit und des Kampfes. Sie entsprang dem Haupt des Zeus in voller Rüstung. In der Jungfrau Pallas und in der Meduse sind zwei Aspekte der sonnengleichen Macht des Unterbewusstseins, der Regenerationskräfte des Ätherleibes beschrieben. Athene ist eine bewusstmachende, Bewusstsein erkämpfende Kraft der Seele. Damit tötet sie Pallas, die unschuldig jungfräuliche Kraft und auch Medusa, die Macht der Tradition und Gewohnheit, die jeder Entwicklung widersteht. Doch zum Bewusstsein gehört immer auch das Unterbewusstsein und so gehört Pallas hörbar im Namen und Medusa sichtbar auf Brust und Schild untrennbar zu Athene. Pallas, die Jungfrau steht für die viel weiseren, ewig jungen Lebenskräfte, deren Zugriff dem wachen Bewusstsein entzogen ist. Und Medusa steht für die überwältigende, riesenhafte Macht, die das Unterbewusstsein auch ausübt. Durch diese beiden Attribute wird gezeigt, dass Athene, wenn auch in neuer Form, mit Bewusstsein und Unterbewusstsein verbunden ist. Sie ist mit dem größeren Bewusstsein der All-Einheit verbunden und trägt es durch die Dualität hindurch. Daher die schützende Macht des Palladions.
Das Palladion, Standbild der Athene auf einer Säule, um die sich eine Schlange windet. Links die Siegesgöttin Nike, rechts ein Krieger. Römische Kopie eines hellenistischen Originals
Ich denke, dass der Jahreslauf diese umfassende Einheit ist, die alle Erscheinungen in sich birgt. Und ich vermute, dass der Kreis am Fuß der Säule auf dem abgebildeten Relief den Jahreslauf als dieses ewig heile größere Ganze darstellt. Nun erklärt sich auch, warum Nike und der Krieger so viel augenfälliger und größer als Athene abgebildet sind. Athene steht hoch oben auf der Säule und ist so klein, dass sie wie in weite Ferne gerückt erscheint – Bild eines zukünftigen Ziels, einer wiedererrungenen jungfräulichen Kraft der Seele.
Gemeinsam bilden Athene mit Nike und dem Krieger die drei Säulen, über die ich schon bei anderen Abbildungen geschrieben habe. Nike steht für die ins Sein sich siegreich entfaltende, wie Wasser aus der Geistwelt herabfließende Kraft der Inkarnation. Der Krieger steht für die Todeskraft der Exkarnation. Er schaut nach unten, als ob er in ein Grab schaut. Nike wurde in anderen Abbildungen meist so dargestellt, dass sie von oben durch die Luft herabläuft. Ich denke, dass Nike und der Krieger für die Halbjahre als Säulen stehen und Athene für das Zusammenwirken beider Kräfte, ausgedrückt in der mittleren Säule. Indem Wahrnehmung und Denken zusammenwirken, entsteht Entwicklung, Bewusstseinserweiterung — Athene. Nike bietet auf dem Relief der Schlange ein Ei an. Sie übergibt der Zeit-Schlange ein neues Wesen, das nun ins Dasein tritt und dadurch wahrnehmbar wird. Urweisheit des Daseins, Werden und Vergehen zeigt das Relief.
Rudolf Steiner sagt über das Palladion: „Das drückte sich aus in einem bedeutsamen Symbolum, das eine Imagination ist, aber nicht nur eine Imagination, sondern auch eine weltgeschichtliche Kulthandlung, wie diese Imaginationen sehr häufig in Kulthandlungen sich ausdrückten; das drückte sich aus darin, daß man sagte: Die Weisheit war früher nicht von den Menschen erdacht gewesen, sondern aus der geistigen Welt heraus geoffenbart. So haben sie auch noch unsere allerersten urväterlichen Priester gehabt, allerdings nicht in Rom, sondern drüben in Ilion, in Troja, wo unsere urväterlichen Priester waren. Und das drückt sich aus in der Sage von dem Palladium, dem so genannten Bildnis der Athene; das Palladium, das vom Himmel gefallen war in Troja, das in einem Heiligtum aufbewahrt wurde, das dann nach Rom gekommen war und unter einer Porphyr-Säule begraben war.“ (Lit.: GA 175, S. 290ff)
Wenn das Palladion die Urweisheit ist, wie wird sie durch das abgebildete Relief vermittelt? Wie schon oft erwähnt, gibt Rudolf Steiner für den Jahreskreis an, dass das Sommer-Halbjahr die Wahrnehmungsseite der Seele zeigt, das Winter-Halbjahr die reflektierende Seite des Denkens. Der Jahreslauf wird dadurch als ein makrokosmischer Seelenraum erkennbar. In diesem Jahreslauf-Seelenraum leben wir darin. Wir können ja gar nicht anders.
Kannst du spüren, wie du darin gehalten und geborgen bist? Kannst du erleben, wie du am Herzen dieses makrokosmischen Wesens ruhst? Kannst du die Tage und Wochen des Jahres als Puls und Atem dieses Wesens erspüren?
Athene und Maria, die Mutter Jesu sind verschiedene Imaginationen der Seele der Menschheit — Bilder verschiedener Entwicklungsstufen. Athene ist die ewige Jungfrau. Sie ist eine Göttin aus vorchristlicher Zeit. Sie trägt noch kein Kind unter dem Herzen oder auf dem Arm, wie es zur Maria gehört. Athene steht hoch und fern auf der Säule dieses Reliefs. Ihr Schutz, das Palladion wandelte sich neben anderen schutzspendenden Aspekten der zum Schutzmantel der Maria – und verbarg sich dadurch noch mehr. Der Kreis oder Ring am Fuß der Säule zeigt den Jahreskreis, das offenbare Geheimnis viel deutlicher, als das Bild des Schutzmantels, selbst wenn er als das blaue Himmelszelt vorgestellt wird.
Der Wortlaut des Mantras hat mich auf die Fährte der Athene und des Palladions gebracht. Auch von Athene selber gibt es einen Bezug zu dieser Woche: die große Feier zu ihrer Geburt, die mehrtägigen Panathenäen, fanden Ende Juli bzw. Anfang August statt — also ungefähr in der Woche 18 R.
Der Eintritt in den Sternbereich
Das “Jahres-Ei” mit dem Mond-Bereich der zu Ostern gehörenden Wochen, dem Sonnen-Bereich und dem Stern-Bereich
Mit dem Mantra 18 R betreten wird das obere Drittel des Jahres in der Ei-Orientierung. Die Osterscholle, der Mond-Bereich im Ei umfasst 9 Mantren vor und neun nach Ostern. Auch der Sternbereich umfasst zweimal neun Mantren; neun, die zu Michaeli hinführen und neun danach. Das Mantra 18 R ist das erste, das Michaeli-Mantra 26 Z wird das neunte dieses Weges sein. Mit dieser Woche beginnt also der neunstufige Aufstieg durch den Sternbereich. Es ist der Bereich der Sternenkrone der Maria, der Bereich, der zur Seelenfähigkeit des Denkens gehört. Oft wird diese Krone so dargestellt, dass sie von Engeln herabgetragen wird die sie schwebend über ihrem Haupt halten. In das Denken kann die göttliche Welt hineinleuchten, was durch die himmlische Krone ausgedrückt wird.
Zur himmlischen Weisheit gehört die Lehre der neun Hierarchien. Jede Woche, jedes Mantra dieses Weges kann nun in Beziehung zu einer Hierarchie betrachtet werden. Alanus ab Insulis (um 1120 – 1202 n. Chr.) beschreibt die Hierarchien in seiner Michael-Predigt als vom Menschen zu erringende Entwicklungsstufen. Aus dieser Predigt möchte ich bis Michaeli jeweils zitieren:
„Es gibt eine niedrigere Ordnung, die als Engel (Angeli) bezeichnet wird; durch sie wird Kleineres verkündet. Zu dieser Ordnung werden diejenigen [menschlichen, A.F.] Lehrer gehören, durch die Kleiners verkündet wird.
Arbeite also, o Mensch, damit du … (nun geht Alanus in absteigender Reihenfolge alle Hierarchien durch) … oder indem du Kleineres verkündest, bei den Engeln einen Platz findest.“ (Übersetzt und veröffentlicht von Wolf-Ulrich Klünker, Alanus ab Insulis, 1993, S. 55)
Unter diesem Gesichtspunkt lehrt uns die Woche 18 R, die Stufe der Engel zu erringen. Es wird uns „Kleineres“ verkündet. Inwiefern die weiteren Mantren mit den jeweils nächst höheren Hierarchien harmonieren, lade ich dich ein, nach und nach zu erspüren.