17 Q
Es spricht das Weltenwort,
Das ich durch Sinnestore
In Seelengründe durfte führen:
Erfülle deine Geistestiefen
Mit meinen Weltenweiten,
Zu finden einstens mich in dir.
Was ist denn das “Weltenwort”?
Das Weltenwort ist der Logos. Die Lehre vom Logos, der alles durchdringenden Gottesvernunft und dem daraus hervortretenden schöpferischen Weltenwort, ist sehr alt. In der Weisheitsdichtung des Rig-Veda heißt das schöpferische Weltenwort »vâk« (skrt., verwandt mit lat. vox, Stimme). In der Lehre des Zarathustra, dem Zendavesta, heißt das Schöpferwort Honover (»ahuna-vairja«), durch das die Welt erschaffen wird. In der Genesis, dem Schöpfungsbericht der Bibel, sind es die Elohim, die durch ihr Sprechen die Welt im Sechstage-Werk erschaffen. Im Johannes-Evangelium wird das schöpferische Weltenwort im Christus erkannt: “Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.” (Joh. 1,14 / Luth.).
Zugleich wird auch sowohl die Fähigkeit des Menschen zu sprechen als auch zu denken auf diese Logoskraft zurückgeführt. Logos (griech. λόγος „Wort, Rede, Sinn“; lat. verbum) bedeutet somit einerseits Wort, ausgesprochener Gedanke (griech. λόγος προφορικός logos prophorikos), andererseits unausgesprochener, rein innerlich gefasster Gedanke (griech. λόγος ἐνδιάθετος logos endiathetos), Begriff, Definition, Vernunft, göttlicher, schöpferischer Gedanke, Weltgedanke, Weltvernunft, Weltgeist (lat. mens mundi), Weltenwort. Die Stoiker nennen es den logos spermatikos (griech. λόγος σπερματικός „Vernunftkeim“), der jedem vernunftbegabten Wesen innewohnt. Es ist der göttliche Funken, der in jedem Menschen wohnt. Dadurch sind wir alle Söhne und Töchter der allumfassenden Schöpfermacht.
Die Lage der beiden Weltenwort-Sprüche im Seelenkalender-Jahreskreis
Zwei Mantren handeln im Seelenkalender explizit vom Weltenwort. Das sind die Sprüche 17 Q und 36 k. Sie zeigen im grammatischen Aufbau Parallelen, wodurch sie als Spiegelsprüche zu erkennen sind. Erstaunlicherweise liegen beide Mantren dort, wo das auf dem Arm getragene Kind der im Jahreskreis erscheinenden Maria zu erwarten ist. In vielen Kirchen ist ihr Bild zu finden: die Maria auf der Mondsichel im Strahlenkranz mit einer Krone auf dem Haupt.
Diese Marienimagination erscheint im Jahreskreis, wenn die zu Ostern gehörenden Wochen (Osterscholle) als Mondsichel betrachtet werden. Darüber erscheint die Sonne, gebildet aus den vom Mittelpunkt ausgehenden Wochensegmenten. Da die Osterscholle dem Jahr eine Drittelung einprägt, die auch geschichtet gedacht werden kann, ist oben der Bereich ihrer Krone. Ich stelle ihn als Sternbereich dar, weil das Vorbild dieser Mariendarstellung das Weib der Apokalypse ist:
„Und es erschien ein groß Zeichen im Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen.“ (Offenb. 12.1)
In der Apokalypse heißt es, dass sie im Begriff ist zu gebären, doch die Marien auf der Mondsichel tragen zumeist ihr Kind auf dem Arm – mal rechts und mal links. So sind die Weltenwort-Mantren für mich eine Bestätigung dieser Marienoffenbarung im Jahreslauf.
Der Seelenkalender-Jahreskreis mit seinen drei übereinander liegenden Bereichen: dem Mondenbereich der Osterzeit, dem Sonnenbereich und dem Sternbereich – und die Weltenwort-Sprüche
Die Maria auf der Mondsichel stilisiert
Die Zeichnung der Maria auf der Mondsichel ist meiner Lieblingsmadonna nachempfunden. Das auf dem Kunstwerk notierte Jahr 1693 dokumentiert das Jahr der Stiftung an das Kloster, nicht das Entstehungsjahr
Madonna auf der Mondsichel im Strahlenkranz, St. Johanniskloster vor Schleswig
Und wie lernt man das Weltenwort zu verstehen — die geheime Schrift zu lesen?
Das “Hören” und “Verstehen” des in der Schöpfung ausgebreiteten Weltenwortes wird “das Lesen der okkulten Schrift” genannt. Rudolf Steiner beschreibt diese Stufe auf dem Einweihungsweg folgendermaßen: “Die dritte Stufe [auf dem siebenstufigen Rosenkreuzer-Einweihungsweg A.F.] ist das Lesen der okkulten Schrift, das heißt, nicht nur einzelne Bilder sehen, sondern das Verhältnis dieser verschiedenen Bilder auf sich wirken lassen. Das wird zu dem, was man okkulte Schrift nennt. Man beginnt die Kraftlinien, die schöpferisch durch die Welt gehen, durch die Imagination zu gewissen Figuren und Farbengestaltungen zu ordnen. Man lernt einen inneren Zusammenhang, der in jenen Figuren ausgedrückt ist, empfinden: das wirkt als der geistige Ton, als die Sphärenharmonie, denn jene Figuren sind den wahren Weltverhältnissen nachgebildet. Unsere Schrift ist ein letzter dekadenter Rest dieser alten okkulten Schrift und ihr nachgebildet.” (Lit.: GA 99, S. 162)
An anderer Stelle gibt Rudolf Steiner eine sehr ausführliche Beschreibung, wie dieses Lesen geübt werden kann: „Sie führt ihn zuerst in die Innenwelt, deren Zugang sie ihm öffnet durch die Außenwelt hindurch, welche der Schüler in allen ihren Formen treu zu beobachten hat. Überall muss er das Symbolische herausfinden lernen, bis dass er einsieht, dass die ganze physische Welt ein Gleichnis ist. Hiermit sei nicht gesagt, dass der Botaniker, Lyriker oder Maler falsch sehen, auch sie sehen richtig, doch bei dem Rosenkreuzerschüler kommt es darauf an, dass er seine Aufmerksamkeit auf das Symbolische der Form richtet, da sein Zweck tiefer liegt als derjenige der anderen Beobachter.
Sieht er zum Beispiel eine Rose, so erkennt er in ihr ein Sinnbild des Lebens und sagt sich: Klarer grüner Saft steigt im Stengel empor, fließt von Blatt zu Blatt, doch oben, in der die Pflanze krönenden Blüte, transformiert er sich in den roten Saft der Rose. – Dann wendet er den Blick von der Blume ab und sieht auf den Menschen und sagt sich: Betrachte ich die Pflanze neben dem Menschen, so erscheint sie mir auf den ersten Blick als viel tieferstehend als er, sie hat weder Bewegung noch Gefühle noch Bewusstsein. Auch der Mensch ist vom roten Nährsafte durchströmt, doch er bewegt sich frei, wohin er will, er sieht die Außenwelt und empfindet ihre Eindrücke als Lust und Leid und ist sich seiner Existenz bewusst. Eines jedoch hat die Pflanze voraus: Sie kann nicht irren wie er; keusch und rein, niemandem Böses zufügend, lebt sie dahin. Das rote Blut ist der Ausdruck höherer Geistigkeit und steht über dem grünen Pflanzensaft, der oben in der Blüte symbolisch rot gefärbt ist, doch das Blut ist zugleich der Träger von Begierden, von Leidenschaften, von Irrtum und Fehlern. Die Rose ist wohl ein untergeordnetes Wesen, aber sie ist wie ein Ideal für den Menschen. Einst wird er Herr werden seiner selbst, und sein Ich wird sich erheben über das Alltags-Ich. Er wird sich veredeln, läutern, und sein Blut wird keuch und rein werden wie der grüne Pflanzensaft. Und dieses geläuterte Blut des vergeistigten Menschen sehe ich im roten Rosenblute versinnbildlicht.
Das Niedere in uns muss in unsere Gewalt kommen, wir müssen Herr werden alles dessen, was sich unserem Aufstiege entgegensetzt und es transformieren in reine Kräfte. Im Symbol des Rosenkreuzes, dem toten, schwarzen Kreuzesholz, auf dem die lebenden Rosen erblühen, sehen wir uns selbst. Das finstere Holz ist unsere niedere Natur, welche dem Tode verfällt und überwunden werden muss, die roten Rosen sind unsere höhere, dem Leben geweihte Natur, die siegreich aus dem sterbenden Unlauteren emporsprießt.
Solche Symbole soll der Rosenkreuzer mit aller Macht auf sich einwirken lassen; überall in der Natur ringsum soll er sie suchen, sie sich bilden und über sie meditieren. Bei dieser Vorstellung kommt es weniger auf das Wahre als auf das Richtige, das symbolisch Richtige an. Besonders bei der Meditation des Rosenkreuzes soll die ganze Empfindung, das ganze Herzblut miteinbezogen werden, es soll uns durchleben und durchglühen vor dem Bilde der Transformation unserer Natur. Bis zu solch einer Stärke hat der Schüler den Eindruck zu steigern und dann stets zu wiederholen, so dass er nicht mehr aus ihm schwindet und abends von seinem Astralleib mit hinübergenommen wird in die geistige Welt. Der Rosenkreuzerschüler fühlt dann, wie die Bewusstlosigkeit, in die er früher während des Schlafes fiel, allmählich schwindet, es ist ihm, wie wenn ein langsames Seelenfeuer sich in ihm entzündete. Wie eine Leuchte trägt er es in sich, welche in das Dunkel der Nacht hineinstrahlt und ihm sichtbar macht, was bisher die Finsternis verhüllte. Er ist sehend geworden im Jenseits. Ein lichtspendendes, aktives Auge hat sich in ihm erschlossen im Gegensatz zum physischen, passiven Auge, welches keinen Lichtquell in sich hat, sondern nur mit fremdem Lichte wahrnimmt.
Der Rosenkreuzer sieht, wenn er sich so eingeschult hat, die äußere Realität nur da, wo er sie zu Symbolen gestalten kann, die sein Inneres in Fähigkeiten versetzen und zu Licht umwandeln, was er sich an Meditationsfähigkeiten erworben hat.
Auf diese Art ist das Ich des Schülers geschützt vor der Verhärtung im Egoismus, ebenso wie vor der Ohnmacht, und er dringt ohne Gefahr in die höheren Welten ein. In richtigem Maße eignet er sich die Stärke der Mystik an und verwendet sie in der Ekstase. Bei ernster Übung kommt er schließlich so weit, dass er die Sonne um Mitternacht schaut, wie man es in den alten okkulten Schulen nannte, das heißt, er sieht hinter der physischen Form gleichzeitig den Geist“ (Rudolf Steiner, GA 118, Vortrag vom 12.4.1910, S. 212 — 214).
Zwei Weisheitssprüche zur Einstimmung
„Jede Idee, die dir nicht zum Ideal wird, ertötet in deiner Seele eine Kraft.
Jede Idee, die aber zum Ideal wird, erschafft in dir Lebenskräfte.“
(Rudolf Steiner)
„Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt,
die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.
Jeder neue Gegenstand wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.”
(J.W. v. Goethe)
Was sagt mir das Mantra 17 Q?
Im Mantra17 Q spricht das Weltenwort! Die göttliche Schöpfermacht spricht zu mir, dem Ich im Mantra und damit auch zu mir als Leser! Das Weltenwort ist bereits eingezogen in mich. Es spricht aus meinen Seelengründen, von innen heraus. Ich durfte es in mich aufnehmen durch die Tore meiner Sinne. Ist mir das eigentlich bewusst, dass ich mit jeder Wahrnehmung das göttliche Schöpferwort in mich aufnehme? Die ganze physische Welt wird, wie oben beschrieben, seit alters her aus dem göttlichen Wort entstanden gedacht. Deshalb kann ich eigentlich gar nicht anders, als fortwährend das Weltenwort durch meine Sinne in mich aufzunehmen.
Doch so einfach, so automatisch geschieht es wohl nicht. Ich darf das Weltenwort durch meine Sinnestore in Seelengründe führen. Ich bin dazu berechtigt — doch habe ich es auch getan? Habe ich meine Sinne so hingebungsvoll betätigt, wie es mir möglich war? Habe ich mit allen Sinnen gehorcht auf das Weltenwort? Oder bin ich achtlos an vielen Blumen, dem Vogelgesang oder der Not eines Mitmenschen vorbei gegangen? War ich in so große Sinnesdumpfheit gehüllt (Mantra 15 O), dass mir die Kraft fehlte, die Heiligkeit jeder Wahrnehmung zu bemerken? Die Frage ist: höre ich das göttliche Wort auch in mir? Höre ich sein Sprechen, oder sind es nur immer meine Gedanken, die in mir kreisen? Ist in mir nur Geräusch und Lärm? Und wenn ich es höre, ist es mir noch dazu möglich, das Schöpferwort auch zu verstehen? Höre ich die Zukunft, wie sie sich in mir vorbereitet?
Sowohl im Mantra 16 P als auch im Mantra 17 Q werden die Seelengründe als ein Ort des Geschehens genannt. Im Mantra 16 P sollten reifende Gottesgaben in Seelengründen fruchtend der Selbstheit Früchte bringen — ein ganz pflanzenhaftes Geschehen, das sich im Unterbewusstsein vollzieht. Hier im Mantra 17 Q ist es das Weltenwort, das ich durch Sinnestore in Seelengründe führen durfte — ein Prozess, der mit der Wahrnehmung und deshalb im Bewusstsein startet und trotzdem in seiner Größe schwer zu erfassen ist.
Wie führe ich also das Weltenwort durch Sinnestore in Seelengründe? Das in allem Geschaffenen enthaltene schöpferische Prinzip, die schöpferische Intention des Schöpfers nehme ich mit jeder Wahrnehmung in mich auf — und dadurch dieses göttliche Wesen selber, den göttlichen Sohn, den Christus. Ich säe das Weltenwort wie einen Samen in meine Seelengründe, in meine fruchtbare, dunkle Tiefe der Seele, in meinen Seelenschoß — mein tiefstes Unterbewusstsein. Das Weltenwort spricht, aber der Christus ist für mich noch kein sichtbares Gegenüber. Das Weltenwort sagt mir, dass ich es (den Christus) erst einst, also erst in Zukunft, selber in mir finden werde. Um dies vorzubereiten, gibt mir das Weltenwort einen Auftrag. Ich erhalte eine Anweisung: ich soll meine Geistestiefen mit seinen Weltenweiten erfüllen.
Was ist damit gemeint? Um welchen Prozess geht es hier? Zunächst eine Bedeutungsklärung von Seelengründen und Geistestiefen: beide Orte liegen tief unten, am Grund. Doch handelt es sich das eine Mal um den Grund der Seele, das andere Mal um die Tiefe des Geistes. In den Seelengründen wogen tief im Unterbewusstsein die Emotionen, Begierden und instinkthaften Antriebe des Menschen. Hier wird jeder eintreffende Sinnesreiz als angenehm oder unangenehm bewertet, zumeist ohne dass diese Bewertung bewusst wahrgenommen wird. In diese Seelengründe durfte ich das Weltenwort durch die Tore meiner Sinne führen. Die Seelengründe, das Unterbewusstsein sammeln die Erlebnisse des gegenwärtigen Lebens und auch die Bewertungen. Die bewertende Instanz in mir ist der Geist. Die unbewusst getroffenen Entscheidungen beruhen in der Regel auf gewohnheitsmäßigen Urteilen. Diese Urteile werden getroffen, noch bevor in Ruhe wahrgenommen wurde, weshalb es sich eigentlich um Vorurteile handelt. Diese muss der Mensch lernen zu unterlassen.
“Der Lernende muß die Eigenschaft in sich entwickeln, sich den Dingen und Menschen gegenüber in deren Eigenart zu verhalten, ein jegliches in seinem Werte, in seiner Bedeutung gelten zu lassen. Sympathie und Antipathie, Lust und Unlust müssen ganz neue Rollen erhalten. Es kann nicht davon die Rede sein, daß der Mensch diese ausrotten soll, sich stumpf gegenüber Sympathie und Antipathie machen soll. Im Gegenteil, je mehr er in sich die Fähigkeit ausbildet, nicht alsogleich auf jede Sympathie und Antipathie ein Urteil, eine Handlung folgen zu lassen, eine um so feinere Empfindungsfähigkeit wird er in sich ausbilden. Er wird erfahren, daß Sympathien und Antipathien eine höhere Art annehmen, wenn er diejenige Art in sich zügelt, die schon in ihm ist. Verborgene Eigenschaften hat selbst das zunächst unsympathischste Ding; es offenbart sie, wenn der Mensch in seinem Verhalten nicht seinen eigensüchtigen Empfindungen folgt. Wer sich in dieser Richtung ausgebildet hat, der empfindet feiner nach allen Seiten hin als andere, weil er sich nicht von sich selbst zur Unempfänglichkeit verführen läßt.” (Lit.: GA 9, S. 82)
Das ist das Lernfeld der dritten Nebenübung, die Entwicklung der Gelassenheit. „Bei der dritten Nebenübung, dem Ausgleich zwischen Freud und Leid, sollen wir uns ganz hineinfinden und hineinfügen in alles Geschehen. Dann wird sich allmählich unser Ätherleib ausdehnen bis in die Himmelsweiten hinein. Wir werden uns dann nicht mehr in unserem Körper drinnen fühlen und die ganze Welt um uns herum, sondern wir fühlen unseren Körper in den ganzen Umkreis ausgebreitet; ausgeweitet und hineinergossen fühlen wir uns in die geistigen Welten. Man erfühlt, man «erweiß» sich in der geistigen Welt.“ (Lit.: GA 266c, S. 258)
Durch die Entwicklung von Gleichmut weiten sich Seele und Geist und es entsteht innerer Raum, neue Perspektiven einzunehmen. Dies ist sicherlich eine Voraussetzung, um das Weltenwort einst in sich zu finden.
Das Mantra unterscheidet Seelengründe und Geistestiefen als Orte des Geschehens. Was könnte mit den Geistestiefen über das schon Ausgeführte hinausgehend gemeint sein? Die Geistestiefen gehören zum Geist, zum unsterblichen Teil des Menschen. In den Geistestiefen ruhen die verborgendsten Geheimnisse des Geistes. Es sind z.B. die tief im Unterbewusstsein wirkenden karmischen Gesetze, die regeln, wie das irdische Menschenleben mit der Geistwelt zusammenhängt. Sie begründen die Notwendigkeit einer neuen Inkarnation und dadurch das Leben aus dem Tod neu entstehen zu lassen. Diese Geistestiefen soll ich erfüllen mit den Weltenweiten des Weltenwortes — dazu fordert das Weltenwort auf.
Das Weltenwort fordert meine Aktivität. Der Schritt, der nötig ist, passiert nicht von alleine. Die Weltenweiten, mit denen ich meine Geistestiefen erfüllen soll, gehören zum Weltenwort. Sie sind Teil von ihm. Das Weltenwort ist groß wie die weite Welt, denn es hat die Welt, wie oben dargestellt, hervorgebracht. Diese Größe und weltumspannende Majestät soll in mich einziehen. Die Schöpfungskeime von allem, was es in der Welt gibt, sollen Raum haben in meinem Geist. Alle wiederstrebenden und sich gegenseitig im Gleichgewicht haltenden Kräfte und Organismen sollen Platz finden in meinen Geistestiefen. Das Weltenwort fordert mich auf, meinen Geist in den Tiefen, in den Wurzeln, den Keimpunkten geistiger Prozesse zu weiten, so dass diese gewaltige Größe entsteht, in der die ganze Welt Platz hat.
Die beiden W‑Laute in Weltenweiten lassen unmittelbar den Wind spüren, der über die weite Ebene meiner Geistestiefen weht. Die Weltenweiten des Weltenwortes, des Logos, sind seine unerschöpfliche Kreativität der Gestaltung und Umgestaltung, sind die Vielfalt an Lebewesen, die in stetiger Entwicklung begriffen sind und sind auch seine unversiegliche Lebenskraft, die sich in die unendlich vielen einzelnen Wesen auf diesem Planeten ergießt: sie beinhalten neben der Macht von Ideen, und neben den Fakten auch die Kräfte der Wirksamkeit, des Tuns im Materiellen.
Meinen Geist weiten Unvoreingenommenheit, Staunen, Verehrung, Dankbarkeit, bedingungslose Liebe, Hingabe, um nur einige zu nennen. Immer kommt es darauf an, die Urteile, die gewohnheitsmäßig gefällt werden, zurückzuhalten. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, es muss ausgehalten werden, kein Urteil zu fällen, es nicht vermeintlich im Vorhinein zu wissen, “was” wahrgenommen wurde. Die Wahrnehmung muss Zeit haben, einzusinken, in mir zu wohnen, ohne dass der Prozess durch ein Urteil abgeschlossen wird. Ich nenne das “auf einer Frage zu brüten”, das heißt, geduldig zu warten und sie in mir zu bewegen.
Am Beispiel unserer Lautbildung möchte ich dies verdeutlichen. Hier sind wir die Schöpfer der Klanggestalt der Rede. Jeder Sprach-Laut erfordert eine andere Art der Luftführung, mal mit Stimmeinsatz, mal ohne. Jede inkorrekte Bildung wird sofort hörbar. Die Lautbildung folgt strengen Gesetzen. Gelingt es mir, jede einzelne Lautbildung als ein eigenes Schöpfungsprinzip zu erkennen? Können die Laute mir Bild werden für die Schöpferkraft des Logos, des Weltenwortes?
Meine Geistestiefen zu erfüllen mit den Weltenweiten heißt, die Wahrnehmung zur Meditation zu vertiefen, sie in mir hallen, in mir klingen, zu mir sprechen lassen. Nur die Wahrnehmung darf in mir sprechen. Ich selber muss still, wie bewusst schlafend und ohne eigenen Willen sein — Leere in mir erzeugen. Dann füllt mich jede Wahrnehmung aus und wird gewaltig „laut“. Dann kann sie mich erreichen, dann entsteht eine ganz neue Beziehung zum Wahrgenommenen. Dann kann es sein, dass die Wahrnehmung zu mir „spricht“.
Es heißt, dass ich einstens das Weltenwort in mir finde — also lange nachdem ich es durch die Sinnestore in meine Seele aufgenommen habe. Ich werde es also im Rückblick als eine Erinnerung in mir finden, und diese Erinnerung ist selbst die wirksame Macht. Ein Widerspruch? Nein. Die Erinnerungsfähigkeit ermöglicht es, dass ich weiß, wer ich bin. Sie ermöglicht mir das durchgehende Identitätsgefühl, die eigene Biographie. Sie schenkt mir das Ich-Bewusstsein, dass die Zeiten des Schlafs, der Unbewusstheit überspannt, sodass ich nahtlos an die Vergangenheit anknüpfen kann und nicht das Gefühl habe, jede Nacht ausgelöscht zu werden. Von Rudolf Steiner gibt es tatsächlich zwei Varianten des oben zitierten Prologs im Johannesevangelium, die statt vom “Wort” von der “Erinnerung” sprechen.
Im Mantra 19 S gehe ich ausführlicher darauf ein. Hier nur die eine Variante von Rudolf Steiner:
“Im Urbeginne war die Kraft der Erinnerung.
Die Kraft der Erinnerung soll werden göttlich,
Und ein göttliches soll werden die Kraft der Erinnerung.
Alles was im Ich entsteht,
Soll werden so,
Dass es ein Entstandenes ist
Aus der durchchristlichten, durchgöttlichten Erinnerung.”
(GA 152, 7.3.1914)
Das Weltenwort soll ich einst, also in der Zukunft, in mir vorfinden. Ich soll das, was schon jetzt in mir ist, finden, und damit erkennen können. Die Schöpferkraft, die in mir wirkt, soll ich bewusst erkennen. In diesem Mantra wird der im Verborgenen sich vollziehende Einzug des makrokosmischen Weltenwortes in die Seele geschildert, damit das Weltenwort mikrokosmisch in ihr geboren werden kann. Hier erfahre ich, wie ich mir die Geist-Augen bilde, um dereinst das Weltenwort, den Christus, in mir zu finden, ihn in mir zu erkennen und vollbewusst sagen zu können: “Christus in mir”.