19 S
Geheimnisvoll das Neu-Empfang´ne
Mit der Erinn´rung zu umschließen,
Sei meines Strebens weitrer Sinn:
Es soll erstarkend Eigenkräfte
In meinem Innern wecken
Und werdend mich mir selber geben.
Über den Prozess der Erinnerungsbildung
Im Zentrum des Mantras 19 S steht die Erinnerung. Für Rudolf Steiner bedeutet Erinnerung viel mehr, als unser alltägliches Verständnis beinhaltet. Rudolf Steiner betont, dass die Vorstellung, die ich mir an der Wahrnehmung bilde, nicht einfach im Unterbewusstsein versinkt und als Erinnerung wieder aufsteigt oder hervorgeholt wird. Der Vorgang der Erinnerungsbildung ist komplexer. Er bedeutet jedes Mal eine Neuschöpfung. Damit diese möglich wird, muss die im Astralleib durch das Erleben gebildete Vorstellung dem Ätherleib eingeprägt werden. Dies geschieht vor allem während des Schlafs. Diese Form-Abdrücke gleichen nicht dem Vorstellungsinhalt, sondern sind kleine Menschenbilder (mehr dazu im vorletzten Kapitel „1. Ergänzung: „Ein Gedanke zur Menschenform des Abdrucks“). Sie transportieren nur den Inhalt, so wie die Buchstaben beim Lesen, gelangen aber selber nicht ins Bewusstsein. Sie sind, wie Rudolf Steiner ausführt, nur der hellsichtigen Beobachtung erkennbar.
„Das heutige Bild gibt mir die Wahrnehmung, das heißt meine Sinnesorganisation. Wer aber zaubert das gestrige in meine Seele herein? Es ist dasselbe Wesen in mir, das gestern bei meinem Erlebnis dabei war und das auch bei dem heutigen dabei ist. Seele ist es in den vorhergehenden Ausführungen genannt worden. Ohne diese treue Bewahrerin des Vergangenen wäre jeder äußere Eindruck für den Menschen immer wieder neu. Gewiß ist, daß die Seele den Vorgang, durch welchen etwas Erinnerung wird, dem Leibe wie durch ein Zeichen einprägt; doch muß eben die Seele diese Einprägung machen und dann ihre eigene Einprägung wahrnehmen, wie sie etwas Äußeres wahrnimmt. So ist sie die Bewahrerin der Erinnerung.“ (Lit.: GA 9, S. 65f)
„Stellen wir die Frage: Warum haben wir ein Gedächtnis im physischen Leben? — da müssen wir sagen: Jedesmal, wenn wir eine Vorstellung bilden, wird ein Eindruck auf den physischen Leib gemacht. Dieser Eindruck ist sogar mehr oder weniger menschenähnlich. Jede Vorstellung, die wir uns bilden, macht nicht nur, wie der materialistisch-phantastisch Denkende meint, da oder dort im Gehirn einen Eindruck, sondern auf den ganzen Menschen macht jede Vorstellung einen Eindruck. Und mit Bezug auf eine Art Nachformung des Kopfes und noch sogar des oberen Teiles der Brust des Menschen, liefert wirklich jede Vorstellung, die wir uns bilden, einen Abdruck. … Diese Menschenbilder sind mehr oder weniger gleich in ihrer äußeren Gestalt, aber doch wiederum ungleich; keines ist dem andern vollständig gleich. Jedes ist von dem andern verschieden, wenn auch eben nur etwas verschieden. Es ist eine kindliche Vorstellung, wenn etwa jemand glauben wollte, daß, wenn er jetzt einen Eindruck der Außenweit hat und sich morgen daran erinnert, dieser Eindruck in irgendeiner Form in ihm gesessen habe. Er hat gar nicht gesessen, sondern ein Bild, das menschenähnlich ist, ist in dem Menschen geblieben. … Und wenn Sie sich morgen wieder an den Eindruck erinnern, dann versetzen Sie Ihre Seele in dieses Menschenbild, das in Ihnen ist. Und der Grund, warum Sie morgen nicht dieses Menschenbild sehen, sondern sich an den Eindruck erinnern, ist der, daß Sie in Ihrem Astralleib lesen. Es ist eine richtige Lesetätigkeit, eine unterbewußte Lesetätigkeit; geradeso wie wenn Sie irgend etwas aufschreiben und später lesen wollen, Sie nicht die Buchstaben beschreiben, sondern das, was die Buchstaben bedeuten, so ist es morgen, wenn Sie sich an das heute Erlebte erinnern. Sie schauen nicht das Bild an, das in Ihnen entstanden ist, das Menschenphantom, das da in Ihnen lebt, sondern Sie deuten es. Sie versetzen sich in der Seele in dieses Menschenphantom, und Ihre Seele erlebt etwas ganz anderes als dieses Menschenphantom. Sie erlebt dasjenige, was sie gestern erlebt hat, noch einmal.“ (Lit.: GA 159, S. 351f)
Ohne Erinnerungsfähigkeit geht dem Menschen der Zusammenhang seiner Biographie und damit das Bewusstsein der eigenen Individualität verloren. Die Rolle des Ichs im Erinnerungsgeschehen ist eine zweifache: Durch seine Kraft ist es sowohl Initiator der Erinnerungsbildung, indem es die Gedanken lenkt und die Vorstellungen bildet, die im Ätherleib abgedrückt werden, als auch die Instanz, die die Erinnerungsbilder wieder wachruft. Ganz leise tönt in diesem Prozess ein Auferstehungsgeschehen an.
„Das Wesen der Erinnerung ist, daß der Mensch etwas, was er durch das Werkzeug seines physischen Leibes wahrgenommen hat, als Bild im Innern wiederum aufrufen kann in sich selbst durch seine eigene Ich-Kraft, so daß er nicht den physischen Leib dazu braucht, sondern aus dem Meer des ätherischen Leibes heraus sich ein Bild schafft dessen, was er vorher durch den physischen Leib wahrgenommen hat. Aus dem Äthermeer geformt ist das Bild, das zu einer neu wachgerufenen Vorstellung wird.“ (Lit.: GA 266b, S. 480f)
Über die Christuskraft in der Erinnerung
Heute ist Erinnerung noch ganz individuell persönlich. Doch das soll sich in fernerer Zukunft ändern, wie Rudolf Steiner ankündigt. Die individuelle Erinnerung wird mit der selbstlos-sozialen Christus-Kraft durchdrungen werden: “Hineinzuleiten diesen Christus-Impuls in das aufrechte Gehen, in Sprechen und Denken, das ist durch dasjenige möglich, was seit Jahrtausenden für die Menschen da ist mit der Menschheitskultur. In ein viertes Element hineinzuleiten den Christus-Impuls, vorzubereiten dieses Hineinleiten in ein viertes menschliches Vermögen, daran müssen wir auch denken, wenn wir uns im rechten Sinn auf den Boden der Geisteswissenschaft stellen. Daran müssen wir auch denken! Wo hinein der Christus- Impuls noch nicht geleitet werden kann, wo hineingeleitet zu werden er sich aber vorbereitet, das ist die menschliche Erinnerung, das Erinnern des Menschen. Denn außer dem Aufrechtgehen und ‑stehen, dem Reden oder Sprechen, dem Denken, tritt jetzt die Christus-Kraft in das Erinnern ein. Wir können verstehen den Christus, wenn er durch die Evangelien zu uns spricht. Aber wir werden als Menschen erst dazu vorbereitet, daß der Christus auch eintritt in die Gedanken, die dann als erinnerte Gedanken und Vorstellungen in uns leben und sind und so weiter in uns leben. Und eine Zeit wird herankommen für die Menschheit, die allerdings erst vollständig werden wird in der sechsten größeren Periode der Menschheitsentwickelung, aber jetzt sich vorbereitet, wo die Menschen hinsehen werden auf das, was sie erlebt und erfahren haben und was als Erinnerung in ihnen lebt, und werden sehen können, daß in der Kraft des Erinnerns der Christus mitlebt. Durch jede Vorstellung wird der Christus sprechen können. Und auch wenn wir unsere Vorstellungen in der Erinnerung wiederbeleben, so wird in der Erinnerung, in dem, was so eng, so intim mit uns verbunden ist wie unsere Erinnerung, der Christus mit verbunden sein. Zurückblicken wird der Mensch können auf sein Leben und sagen wird er sich: So wie ich mich erinnere, so wie die Kraft des Gedächtnisses in mir lebt, so lebt in diesem Gedächtnis der hineingegossene Christus- Impuls. Der Weg, der den Menschen geboten wird, immer mehr und mehr wahr zu machen die Worte: Nicht ich, der Christus in mir, — der Weg wird dadurch geebnet, daß in die Erinnerungskraft allmählich der Christus-Impuls einziehen wird. Er ist jetzt noch nicht darinnen. Wenn er darinnen sein wird, wenn nicht nur im Verständnis des Menschen der Christus-Impuls lebt, sondern wenn der Christus-Impuls sich über den ganzen Saum, über den ganzen Streifen von Erinnerungen ausgießen wird, dann wird der Mensch zum Beispiel nicht nur angewiesen sein darauf, aus äußeren Dokumenten Geschichte zu lernen, denn dann wird sich seine Erinnerungskraft erweitern. Der Christus wird in dieser Erinnerung leben. Und der Mensch wird dadurch, daß der Christus in seine Erinnerungskraft eingezogen ist, dadurch, daß der Christus in der Erinnerungskraft lebt, der Mensch wird dadurch wissen, wie bis zum Mysterium von Golgatha hin der Christus außerirdisch gewirkt hat, wie er es vorbereitet hat und durchgegangen ist durch dieses Mysterium von Golgatha, und wie er als Impuls weiterwirkt in der Geschichte. So wahr und wirklich wird der Mensch das überschauen, wie jetzt im gewöhnlichen Leben die Erinnerung da ist. Man wird die irdische Entwickelung der Menschheit nicht anders überschauen können innerlich als so, daß man dann den Christus-Impuls im Mittelpunkt erblickt. Alle Erinnerungskraft wird durchsetzt und zugleich verstärkt werden durch das Eindringen des Christus-Impulses in die Gedächtniskraft, in die Erinnerungskraft.” (Lit.: GA 152, S. 115f)
Denken und Erinnerung in den vier Varianten des Prologs im Johannesevangelium
Rudolf Steiner hat zum Prolog des Johannesevangeliums (Joh. 1,1–18) vier Varianten geschrieben. Zwei stellen die Erinnerung ins Zentrum, zwei andere den Gedanken (Rudolf Steiner, GA 152, 7.3.1914, Zitat siehe unten): Diese Übersetzungen sind so frei, dass sie einer Neuschöpfung nahekommen. Sie stellen für mich vier Perspektiven auf das in seiner Tiefe unaussprechliche Schöpfungsgeheimnis dar.
Indem zweimal der Gedanke im Zentrum steht und zweimal die Erinnerung, besteht für mich ein Zusammenhang mit den Vierteljahren im Seelenkalender. Die von mir vorgenommene Zuordnung möchte ich folgender Maßen begründen: Im Vorwort zur ersten Ausgabe des Seelenkalenders 1912/13 wird die Beziehung des Jahreslaufes zur menschlichen Seele von Rudolf Steiner so charakterisiert: “Es kann vielmehr fühlen der Mensch sein an die Sinne und ihre Wahrnehmungen hingegebenes Wesen als entsprechend der licht- und wärme-durchwobenen Sommernatur. Das Gegründetsein in sich selber und das Leben in der eigenen Gedanken- und Willenswelt kann er empfinden als Winterdasein.” Das Sommer-Halbjahr steht also für die Wahrnehmung, das Winter-Halbjahr für das Denken. Erinnern ist ein inneres Wahrnehmen, weshalb ich es dem Sommer-Halbjahr zuordne.
Für die göttliche Seele, die sich in den vier Varianten des Prologs ausspricht, verhält es sich kompementär — nach meinem Dafürhalten: Der göttliche Gedanke ist die göttliche Weisheit, die in allen Sinneserscheinungen enthalten ist, weshalb der göttliche Gedanke zum Sommer-Halbjahr gehört. Die göttliche Erinnerung lebt im menschlichen Denken. Hier erfasst der Mensch sein Ich, seinen göttlichen Funken, weshalb die göttliche Erinnerung zum Winter-Halbjahr gehört.
Vollziehe ich durch die vier Varianten eine innerliche U Bewegung — das rote Sommer-Halbjahr als inkarnierende, absteigende Säule und das blaue Winter-Halbjahr als exkarnierende, aufsteigende Säule gedacht — so zeigen die vier Variationen einen Prozess an:
“… Und scheinen möge der göttliche Gedanke in mein Ich, / Dass die Finsternis meines Ich ergreife / Den göttlichen Gedanken.” — hineinscheinen, aufnehmen
„… Erfüllen möge der leuchtende Gedanke / Die Finsternis meines Ich, …“ — erfüllen, sich darin ausbreiten
„… Und die Finsternis so, wie sie gegenwärtig ist, / Möge begreifen das Licht der göttlich gewordenen Erinnerung.“ — reagieren auf das Licht
“… Und als strahlendes Erinnerungsleben / wird der Christus leuchten / In jede unmittelbar gegenwärtige Finsternis.” — zukünftiges Ausstrahlen
Der Jahreslauf in der Tabelle ist so gedacht, dass ein Jahreskreis den gedachten Rahmen bildet: Dieser Jahreskreis zeigt das Sommer-Halbjahr in der linken und das Winter-Halbjahr in der rechten Spalte. Die vier großen Feste liegen jeweils zwischen den Prolog-Varianten: Ostern unten, Michaeli oben, Weihnachten rechts im blauen Winter-Halbjahr und Johanni links im roten Sommer-Halbjahr.
Vier Varianten des Prologs im Johannesevangelium
Rudolf Steiner, GA 152, 7.3.1914, zitiert in Bühler, Der Stern der Weisen, 1982, S. 142ff (die Hervorhebungen und Zuordnungen zu den Vierteljahren sind von mir)
Was sagt mir das Mantra 19 S?
Das Mantra 19 S beginnt mit dem Wort „geheimnisvoll“. Was ist so geheimnisvoll daran, wenn ich mir ein Erlebnis so einpräge, dass ich es erinnern kann? Das tun wir mehr oder weniger ständig. Und doch können wir alle erleben, dass nicht jede Erinnerung jederzeit abrufbar ist für uns. Die Irritation, die dadurch entsteht, lässt erahnen, dass mit der Erinnerung etwas Größeres, Bedeutsameres verbunden ist, als es zunächst den Anschein hat.
Was ist in diesem Zusammenhang das Neu-Empfangene? Es ist mein gegenwärtiges Erleben, meine Wahrnehmungen, Gefühlsreaktionen, mein Verstehen und Handeln im gegenwärtigen Moment: es ist all das, was ich später erinnern möchte. Und damit dieses mit der Gegenwart verbundene Erleben wachrufbar ist, wenn die Gegenwart Vergangenheit geworden ist, müssen die Vorstellungen einen geheimnisvollen Prozess durchlaufen.
Das Neu-Empfangene soll mit der Erinnerung umschlossen werden. Es soll eingeschlossen werden. Für mich klingt hier die menschenähnliche Form an, in die jede Vorstellung gebracht wird, um in den Äther- und physischen Leib eingeprägt zu werden. Aus den Zitaten oben geht hervor, wie komplex und eigentlich geheimnisvoll dieser Vorgang ist. (Unter „Ergänzungen“ finden sich konkretisierende Gedanken von mir über die Menschenform als „Abdruck“)
Dieses Mantra markiert einen deutlichen Abschluss eines langen Prozesses. Erst Vergangenes lässt sich erinnern. Dieses Umschließen des Neu-Empfangenen mit Erinnerung soll in Zukunft der Sinn meines Strebens sein. Das heißt, nur durch den Vorgang des Umschließens kann ich bewahren, was ich erhalten habe, Nachschub kommt nicht mehr.
Der Sinn meines Strebens soll es sein, das Neu-Empfangene mit der Erinnerung zu umschließen. Diese Formulierung klingt nach zielgerichteter Arbeit, nach einer Anstrengung, die ein Fernes Ziel verfolgt. Sie klingt danach, dass das Erstrebte gegenwärtig nur näherungsweise erreicht werden kann.
Bedeutet das Umschließen vielleicht, das ein vollständiger Wahrnehmungs-Gedanken-Zyklus, mithin ein ganzer innerer „Jahreslauf“ durchlaufen werden muss, damit Wahrnehmung zu Erinnerung werden kann?
Darstellung des Ouroboros auf dem Sarkophagschrein von Tutanchamun ca. 1320 v.Chr.
Das Bild des Ouroboros, wörtlich des „Schwanzverzehrenders“ (griechisch οὐρά ourá, „Schwanz“ und bóros „verzehrend“) kommt mir dazu in den Sinn. Der Ouroboros ist ein Symbol für die ewige Wiederkehr, für alles Zyklische — für die Zeit und Ewigkeit. Das Symbol zeigt, dass jedem Ende ein neuer Anfang innewohnt.
Der Ouroboros auf dem Sarkophagschrein gilt als die älteste Darstellung dieses Symbols. Der Ouroboros umschließt den Kopf des Pharaos, wodurch das Ewigkeits-Bewusstsein desselben verdeutlicht wird. Und ein solches Ewigkeitsbewusstsein haben wir alle. Denn jeder, der einen größeren Zeit-Zyklus überblickt, als die Dauer der eigenen Gegenwärtigkeit zulässt (das ist schon ein 24-Stunden-Tag, erst recht ein Jahr), erschafft sich dieses umschließende Bewusstsein. Zwei Fähigkeiten ermöglichen das Erfassen dieser größeren Zyklen: Erinnern und Vorausdenken. Für das Jahr heißt das: nur indem ich mich an den vergangenen Herbst erinnern und den kommenden gedanklich vorausnehmen kann, schließt sich in der Vorstellung der Jahreslauf zu einem Kreis zusammen und lässt mich seinen zyklischen Charakter erkennen.
Das Wort „Sinn“ („sei meines Strebens weitrer Sinn“) beinhaltet nicht nur „Ziel“, sondern auch „Bedeutung“. Den Sinn von etwas zu wissen, bedeutet auch den Beweggrund, das Woher-und-Wohin, zu kennen. Mein Streben ist mein Entwicklungs-Wille. Die aus der göttlichen Weisheit stammende Wahrnehmungswelt wurde in mir zur Vorstellung. Als physische Welt ist sie dem Tod verfallen. Umschließe ich sie mit Erinnerung, bereite ich sie für eine winzige Auferstehung vor, die geschieht, wenn ich das in der Vergangenheit erlebte mit dem Leben der Gegenwart erfülle und es erinnere – d.h. in der Vorstellung erneuert erschaffe.
Dieser Teil schließt mit einem Doppelpunkt. Das Folgende erklärt den Sinn dieses Strebens näher.
Für das Verständnis gibt es an dieser Stelle ein Problem, denn es existieren zwei Versionen des Mantras: In der Ausgabe der Eurythmieformen und bei der Plattform Anthrowiki.at heißt es: „Er soll erstarkend Eigenkräfte ….“ Dann bezieht es sich auf den Sinn. In der Faksimile Ausgabe von Steiners Handschrift steht „Es soll erstarkend Eigenkräfte …“, ebenso in der Ausgabe von Michael Debus. Dadurch wird auf das Neu-Empfangene Bezug genommen.
Erstere Formulierung beleuchtet die Bedeutung meines Strebens näher, die zweite stellt das Neu-Empfangene als das Wirksame dar.
- Version: Er, der Sinn, Ziel und Bedeutung meines Strebens soll erstarkende Eigenkräfte im Innern wecken. Der Sinn ist eine aus dem Innern des Menschen kommende Ausrichtung und Bedeutung.
- Version: Es, das Neu-Empfangene, soll Eigenkräfte, die immer stärker werden, in meinem Inneren wecken. Das Neu-Empfang´ne kommt dagegen von außen.
Diese durch mein Streben oder durch die empfangenen Eindrücke erstarkenden Eigenkräfte sollen im meinem Innern geweckt werden.
Um welche Eigenkräfte handelt es sich? Was das gegenwärtige Erleben betrifft, verstehe ich meine vom Ich geführte Bewusstseinskraft, in Denken, Fühlen und Wille wirksam, als meine dreifach differenzierte Eigenkraft. Diese Eigenkräfte wirken zusammen, um aus einem Erlebnis Vorstellung und schließlich die einzuprägende Menschenform zu bilden, die es mir später ermöglicht, das Erinnerungsbild wachzurufen. Dieses Erinnerungsbild ist nun rein geistiger Natur, denn ihm entspricht keine gegenwärtige physische Wahrnehmung. Dadurch kann ich die zu weckenden Eigenkräfte gleichzeitig als meine höheren Erkenntniskräfte verstehen.
Nun schließt mit „Und“ ein zweites Ziel an. Werdend soll ich mir selber gegeben werden. Hier klingt der Gedanke meines seit Ewigkeit bestehenden Ziels an, meine Vollkommenheit, die schon immer da war und zu der ich als Entwicklungswesen stetig hingeführt werde. Indem ich im Werden, in Entwicklung begriffen bin, werde ich mir selber gegeben. Mein Schicksal als mein geistiges Sein wird mir gegeben, damit ich mich auf dieses Ziel zubewegen kann, indem ich die Erlebnisse verinnerliche.
Die Fähigkeit der Erinnerung ermöglicht es mir, ein Ich-Bewusstsein aufzubauen, dass die nichtbewussten Zeiten während des Schlafs überbrückt. Der Lebenslauf wird dadurch zur selber gestalteten, erschaffenen und in karmischer Hinsicht auch selbst verantworteten Biographie. zur eigenen Biographie. Selbstbewusstsein, das Bewusstsein vom eigenen Selbst entsteht. Dieses Selbst ist ein Werdendes. Ich kann es als werdendes Geistselbst ansehen, dessen Entwicklung Rudolf Steiner als Ziel der Erdenmission angibt. Betrachte ich das Mantra vor dem Hintergrund der Umwandlung des Astralleibs in das Geistselbst, so geben alle gesammelten Erinnerungen, die ich auferstehen lassen kann im Erinnern, mir meinen geistigen Körper, mein Geistselbst.
Zwei Ergänzungen:
1. Ein Gedanke zur Menschenform des Erinnerungsbildes als „Abdruck“
Rudolf Steiner beschreibt den „Abdruck“, der im Ätherleib als Erinnerungsbild gelesen werden kann, als menschenähnlich geformt. Auf der Suche nach beobachtbaren Anhaltspunkten für diese Aussage, fiel mir ein, wie das Gedächtnis durch drei Wege unterstützt werden kann. Drei Gedächtnis-Träger lassen sich unterscheiden, die offensichtlich auf den drei Daseinsbereichen von Körper, Seele und Geist beruhen:
- Erinnerungen binden sich fast von selber an Gegenstände, Orte oder Körperregionen. Jeder kennt das. Kaum kommen wir an einen Ort, fällt uns alles Mögliche ein, was damit in Zusammenhang steht. — Der äußere Raum und die Körper tragen dies Gedächtnis.
- Sprache bewahrt Erinnerungen. Sie trägt den Inhalt durch ihre Klänge und Rhythmen, weshalb dieses Gedächtnis auch das rhythmische Gedächtnis heißt. Es ist immer dann aktiv, wenn ein Lied oder Gedicht nur von Anfang bis Ende aufgesagt werden kann und nicht partiell. — Die Zeit und ihre Gestaltung trägt dies Gedächtnis.
- Begreife ich einen Sachverhalt, fällt es mir leicht, ihn zu erinnern. Dies ist das abstrakte Gedächtnis. Überblicke ich den Zahlenraum und die Gesetzmäßigkeiten, der Multiplikation, kann ich entsprechende Aufgabe lösen ohne die 1x1-Reihe vom Anfang bis zur gesuchten Lösung aufzusagen. Dies ist das am freiesten zugängliche Gedächtnis und benötigt das klarste Bewusstsein. — Die Gegenwärtigkeit im inneren Raum ermöglicht dies Gedächtnis.
An der Bildung einer Erinnerung ist immer ein körperlicher Aspekt beteiligt, denn wir leben in einem physischen Körper. Ferner ist auch ein sprachlicher Aspekt beteiligt, insoweit wir in Begriffen denken. Und schließlich wirkt auch ein geistiger Aspekt im Bemühen um Verständnis. So könnte der dreigliedrige Abdruck seine menschenähnliche Form erhalten. Dieses menschenähnliche Abbild beschreibt Rudolf Steiner so: „Er, der Abdruck, ist nur ein Zeichen. Und dieses Zeichen ist merkwürdigerweise ähnlich der menschlichen Gestalt selber. Und zwar, wenn Sie von der menschlichen Gestalt die oberen Teile nehmen, den Kopf und höchstens noch etwas vom Oberleib und von den Händen, so haben Sie das, was jedesmal im Ätherleibe beobachtet werden kann, wenn sich der Mensch Erinnerung bildet von einem Erlebnis.“ (Lit.: GA 162, S. 50ff). In dieser Beschreibung ist der dreigliedrige Mensch zu erkennen: mit dem Nerven-Sinnessystem lokalisiert im Kopf, dem rhythmischen System lokalisiert in der Brust und dem Stoffwechsel-Gliedmaßen-System vertreten durch die Hände. Denkbar ist, dass Erlebnisse, deren Erinnerungen an Gegenstände gebunden wurden, Abdrücke aufweisen, die besonders dominant ausgebildete Hände zeigen. Entsprechend weisen Erinnerungen des rhythmischen Gedächtnisses Abdrücke auf mit hervortretendem Brustkorb und Erinnerungen des abstrakten Gedächtnisses Abdrücke mit besonders ausgeprägter Kopfgestaltung.
2. Die zweite Stufe im Sternbereich
Das Mantra 19 S ist die zweite von neun Stufen des Sternbereichs.
Alanus ab Insulis (um 1120 – 1202 n. Chr.) beschreibt die Hierarchien in seiner Michael-Predigt als vom Menschen zu erringende Entwicklungsstufen. Aus dieser Predigt zitiere ich die zweite Stufe, die der Erzengel:
„Es gibt eine weitere Ordnung, die den Menschen die göttlichen Geheimnisse verkündet; daher bezeichnet sie die Theologie als Erzengel (Archangeloi). Zu dieser Ordnung werden diejenigen gehören, die lehren und Höheres verkünden.
….
Arbeite also, o Mensch damit du …. Zu den Erzengeln gezählt werden wirst, indem du andere über Höheres belehrst; …“ (Alanus ab Insulis, Übersetzt und veröffentlicht von Wolf-Ulrich Klünker unter dem Titel, „Alanus ab Insulis“, 1993, S. 55)
Über die Engel schreibt Alanus in einer kleinen Schrift, genannt „Hierarchia Alani“ (Hierarchienlehre des Alanus), dass: „die Engel vollkommener denken als die Menschen; daher wird ihre Erkenntnis als Gotteserscheinung (theophania) bezeichnet. … Wenn wir [die Menschen] nämlich … die Schönheit der [geschaffenen] Dinge, ihre Größe und ihre Ordnung sehen, dann begreifen wir Gott nicht vollkommen, sondern halbvollkommen (semiplene). Jedoch wird, was in der [menschlichen] Erkenntnisweise unvollkommen ist, in der Zukunft vervollkommnet werden. Im Engel aber ist die Erkenntnis Gottes bereits vollkommen ausgebildet.“ (Klünker, s.o. S. 17)
Wenn die vollkommene Gotteserkenntnis schon den Engeln möglich ist – was verkünden dann wohl die Erzengel an Großem?
Rudolf Steiner hat beschrieben, wie jede der vier Jahreszeiten einem Erzengel unterstellt ist: Der Frühling Raphael, der Sommer Uriel, der Herbst Michael und der Winter Gabriel. Auch Zeitepochen von 300 — 350 Jahren, so sagt er, unterstehen jeweils einem Erzengel. Erzengel regieren also Abschnitte eines größeren Ganzen wie es zum einen das Jahr ist, zum anderen die Gesamtheit der sieben Zeitepochen, denn nach sieben solcher Zeitabschnitte beginnt der Zyklus von Erzengelregenten von vorne. Die Kraft, die einen neuen Zyklus initiiert und leitet, gehört wiederum der nächst höheren Hierarchie an. Diese wird uns in der Woche 20 T beschäftigen.
Vielleicht lässt es sich so verstehen: Die Engel haben die vollkommene Erkenntnis, sie haben die Übersicht über eine Ganzheit. Ich habe immer den Eindruck, jede Woche steht unter der Herrschaft eines Engels, der den ganzen siebentägigen Prozess der Woche zu einer Ganzheit zusammenfasst. Sie verkünden Kleines – jeder ein Mantra. Die Erzengel sind dagegen die göttlichen Spezialisten für Details. Sie verkünden Großes, denn mit ihnen lernen wir eine viel umfassendere, größere Ganzheit kennen – so wie ein Jahr viel größer als eine Woche ist. Die Ganzheit, die die Engel verkünden ist eine statische, in der erneuernde, umwälzende Veränderung noch nicht inbegriffen ist. Die sich entwickelnde Vollkommenheit ist ein größerer Gedanke als die statische Vollkommenheit. Die große Veränderung, die durch Geburt, Tod und Auferstehung Christi für die Menschheit möglich wurde, begann mit der Verkündigung eines Erzengels — des Erzengel Gabriel an Maria (Luk 1,26–38).
Das Hineinspüren in das Mantra 19 S mit der Frage, was es über die Stufe der Erzengel aussagt, überlasse ich dem Leser.