Bildquelle (bearbeitet)
22 V
Das Licht aus Weltenweiten,
Im Innern lebt es kräftig fort:
Es wird zum Seelenlichte
Und leuchtet in die Geistestiefen,
Um Früchte zu entbinden,
Die Menschenselbst aus Weltenselbst
Im Zeitenlaufe reifen lassen.
Das X der Lichtsprüche und die Vogelgöttin der frühen Bronzezeit
Die Lichtsprüche formen im Seelenkalender ein X, insofern die “Ei-Orientierung”, d.h. Ostern unten und Michaeli oben, gewählt wird. Ein ebensolches X kennzeichnet neben dem V die Vogelgöttin der frühen Bronzezeit. Sie ist die große, Leben spendende und erneuernde Muttergöttin des alten Europa, die das Weltenei ausbrütet. Auch heute kann das Vorbeistreichen der Zeit erlebt werden wie der Hauch ihrer Schwingen.
Das Kreuz der Lichtsprüche und das X der Vogelgöttin im Seelenkalender
Vinca Kultur, West-Rumänien, ca. 5000 v.Chr.
Im Mantra 22 V kommt das Licht aus Weltenweiten. Auch Vögel scheinen nicht der Erdenwelt anzugehören, sondern hier nur zu Besuch zu sein. Mit diesem Bild im Hintergrund kann ich mir vorstellen, dass das Licht aus Weltenweiten herangerauscht kommt wie ein großer Vogel, sich in dieser Woche auf der Erde niederlässt, um dann wieder davon zu fliegen. Ich kann mir auch vorstellen, dass eigentlich jede Woche ein neuer Zeit-Energie “Vogel” angeflogen kommt, ausgesandt von der Vogelgöttin, der Göttin der Zeit, die den ganzen Jahreskreis repräsentiert.
Um welches Licht handelt es sich beim “Licht aus Weltenweiten”?
Vier Mantren handeln im Seelenkalender vom Licht, weshalb sie Lichtsprüche genannt werden. Es sind neben dem jetzigen 22 V noch: 5 E, 31 e und 48 w. Auf der Seite der absteigenden Sonne im Jahreskreis beschreiben die Mantren (22 V und 31 e) jeweils eine Lichtquelle, auf der Seite der aufsteigenden Sonne (48 w und 5 E) das Beleuchtete. Im Mantra 22 V kommt das Licht aus Weltenweiten, im Mantra 31 e aus Geistestiefen.
Im Zusammenhang mit dem Weben des Lichtes im Mantra 5 E habe ich den Weg des Lichtes beschrieben, wie er anhand der Lichtsprüche nachvollzogen werden kann. Der Beginn dieses Weges liegt im Mantra 22 V, in der Ankunft des Lichtes aus Weltenweiten und seinem Leuchten in die Geistestiefen. Um die besondere Stellung des Mantras 22 V unter den Lichtsprüchen deutlich zu machen, füge ich die Abbildung nochmals hier ein.
Der Weg des Lichtes in den Lichtsprüchen
An Ende dieses Weges, im Lichtspruch 48 w heißt es: “… Versammelnd seiner Strahlen Macht, / Im Menschenherzen Liebe weckend”. Was ist das für ein Licht, das aus Weltenweiten kommt und letztendlich nach weiteren Lichtspruch-Wegen im Menschenherzen die Liebe weckt? Nach dieser Überschau möchte ich mich zur Beantwortung der obigen Frage ganz dem Lichtspruch 22 V zuwenden.
Aus welcher Quelle strömt also das Licht des Mantras 22 V? Es kommt aus den Weiten der Welt, aus dem ganzen Umkreis und strömt zum Zentrum, ins Innere, auf die Erde — ins Herz. Denke ich mir die Sonneneinstrahlung auf die Erde durch einen ganzen Jahreslauf, denke ich mir, wie die Sonne Tag für Tag von einem etwas anderen Punkt des Tierkreises ihr Licht der Erde schenkt, so gewinne ich ein Bild vom Licht aus Weltenweiten.
Die Weltenweiten bilden im Erleben zum physich-Irdischen einen Gegensatz. Mit den Weltenweiten ist deshalb wohl eher das Immaterielle, das Geistige gemeint. Das Licht aus Weltenweiten ist ein geistiges Licht. Rudolf Steiner beschreibt solch eine Einstrahlung. Sie geschieht jede Nacht für den schlafenden Menschen: “Da ist es so, daß wenn wir hier die Gehirn‑, hier die Herzgegend hätten, so würde für den okkulten Beobachter eine fortwährende Strömung von außen herein, auch von rückwärts herein zum Herzen wahrnehmbar sein. Diese Strömungen aber, die beim schlafenden Menschen von draußen, vom Weltenraum, aus dem Makrokosmos in das Innere dessen, was da im Bette liegt als physischer und Ätherleib, hereinströmen, die stellen, wenn man sie untersucht, in der Tat etwas sehr Merkwürdiges dar. Diese Strahlen sind recht verschieden bei den verschiedenen Menschen. …
In der Tat ist es so, daß sich im hohen Grade die moralischen Qualitäten zeigen in der eigenartigen Färbung dessen, was beim Schlafe in ihn einströmt, so daß der Mensch, der niedere moralische Grundsätze hat, eine ganz andere Strömung hat als ein Mensch mit hohen Grundsätzen. Da nützt es nichts, sich bei Tag zu verstellen. Den höheren Weltenmächten gegenüber kann man sich nicht verstellen. Es ist so, daß in einem, der nur ganz leise Neigung hat zu nicht ganz moralischen Grundsätzen, fortwährend einströmen so bräunlichrote und allerlei sonstige nach dem Rotbräunlichen hinneigende Strahlungen. Und lila-violette Strahlungen treten auf bei denjenigen, die hohe moralische Ideale haben.” (Lit.: GA 130, S. 89f)
Das Licht aus Weltenweiten zeigt sich dadurch als Licht, das insbesondere unser moralisches Seelenleben ausmacht, das Astrallicht.
Das Mantra 22 V steht wie alle Lichtsprüche in der beschreibenden dritten Person (grammatisch er, sie, es). Es gibt keinen bewussten Ich-Sprecher, wie in den Krisen- und Zwischensprüchen. Das, was hier geschildert wird, geschieht ohne bewussten Mitvollzug des Menschen. Das Geschehen hat einen unpersönlichen, objektiven Charakter. Was im Krisenspruch 20 T von mir gewollt zugelassen werden musste, empfange ich nun als Geschenk, unbewusst.
Was wird im Mantra 22 V sichtbar?
Das Licht kommt aus Weltenweiten, aus dem Umkreis, von außen, aus allen Richtungen und strahlt ins Zentrum. Es lebt im Innern. Das Licht ist Wesenhaft, es lebt. Es lebt kräftig. Das Licht wird zum Seelenlicht.
Die Worte “lebt”, “kräftig” und “Seelenlichte” lassen die Bezeichnungen der drei obersten Regionen der Astralwelt anklingen. Diese Astralwelt ist laut Rudolf Steiner in sieben Regionen gegliedert, die die Seele in aufsteigender Reihenfolge, sich Stufe um Stufe läuternd, nach dem Tod durchschreitet. Die an die Erde gebundenen Begierden und die in der Seele lebende Antipathie muss hier immer umfassender überwunden werden. Die drei obersten Regionen heißen in absteigender Reihenfolge: Region des Seelenlebens, Region der tätigen Seelenkraft und Region des Seelenlichtes. Nach meiner Auffassung ergibt sich demnach eine Verwandlung dieses Lichtes, das den Weltenweiten entstammt. Es transformiert sich in drei aufeinander folgenden absteigenden Stufen, indem es die drei Regionen der Astralwelt durchmisst. In der Region des Seelenlichtes erleben wir es als solches.
Um das, was mit dem Seelenlicht im Mantra gemeint ist, klarer erfassen zu können, sollen Rudolf Steiners Mittelungen über die nachtodlichen Lernprozesse in der Region des Seelenlichtes einbezogen werden. „Die fünfte Stufe der Seelenwelt ist die des Seelenlichtes. Die Sympathie mit anderem hat in ihr bereits eine hohe Geltung. Mit ihr sind die Seelen verwandt, insofern sie während des physischen Lebens nicht in der Befriedigung niederer Bedürfnisse aufgegangen sind, sondern Freude, Lust an ihrer Umwelt gehabt haben. Die Naturschwärmerei, insofern sie einen sinnlichen Charakter an sich getragen hat, unterliegt zum Beispiel hier der Läuterung. … ihre Seele ist … [noch A.F.] auf die Sinnenwelt gerichtet und muß durch die in der fünften Region der seelischen Welt herrschende Kraft der Sympathie, der diese äußeren Befriedigungsmittel fehlen, geheilt werden. Die Seele erkennt hier allmählich, daß diese Sympathie andere Wege nehmen muß. Und diese Wege werden gefunden in der durch die Sympathie mit der Seelenumgebung bewirkten Ausgießung der Seele in den Seelenraum.” (Lit.: GA 9, S. 116f) .
“In den höheren Regionen herrscht freies Hinstrahlen, Ergießen. (Mit Recht bezeichnet man das Wesen dieses Gebietes als ein «Hinstrahlen», denn die Sympathie, welche entwickelt wird, wirkt so, daß man als Sinnbild dafür den Ausdruck gebrauchen kann, der von der Wirkung des Lichtes genommen ist.) Wie eine Pflanze im Keller verkümmert, so die Seelengebilde ohne die sie belebenden Seelen-Stoffe der höheren Regionen. Seelenlicht, tätige Seelenkraft und das eigentliche Seelenleben im engeren Sinne gehören diesen Regionen an und teilen sich von hier aus den Seelenwesen mit.“ (Lit.: GA 9, S. 102f)
Das Seelenlicht in seiner reinen, idealen Form zeigt sich dadurch als ausstrahlende Sympathie. Heute würden wir vielleicht auch Hingabe sagen. Das Seelenlicht erlebe ich als mein sich hingebendes Bewusstsein. Das heißt, ich erlebe ein Bewusstsein, das mich beseelt, ein Bewusstsein, das keine Antipathie mehr benötigt, um sich seiner gewahr zu werden. Es ist ein Bewusstsein, das die Wahrnehmung ohne Vorurteil aufnimmt und dadurch durch den physischen Schein hindurchschauen kann.
Die nächste Zeile schließt mit einem “Und” an. Es ist ein Zweites, was nun geschildert wird. Das annehmende, sich verschenkende Seelenlicht leuchtet in die Geistestiefen. Hier sind nicht die Seelentiefen gemeint, nicht mein Unterbewusstsein. Die Geistestiefen kann ich verstehen als die Grundlage der geistigen Strukturen und Gesetze, die hinter allen Erscheinungen stehen. Nichts auf der Welt ist ohne diese Ordnung. Jede Blüte ist auf eine ganz bestimmte Art gebildet und jeder Kristall. Wir würden mit unserem Intellekt nichts zum Verstehen finden, wäre die Welt nicht durchdrungen von Regelmäßigkeit und innerer Ordnung. In diese Geistestiefen leuchtet das Seelenlicht. Es hat dort ein Ziel. Die Weisheit, die hinter allen Erscheinungen steht, will von der Seele errungen werden.
Es entsteht das Bild eines Lichtstrahls, der in einen tiefen Brunnen fällt, in die Dunkelheit, in den Schoß der Erde. Dort unten aus den Geistestiefen, wo die geistigen Gesetze in ihrer Wirksamkeit zu finden sind, wird etwas bewirkt durch das Seelenlicht. Das Seelenlicht leuchtet in die Geistestiefen, um Früchte zu entbinden. Eine Entbindung ist eine Geburt. Die Früchte sollen herausgelöst werden aus ihrem Zusammenhang, der sie wachsen ließ. Sie sollen, wenn sie reif sind, geboren werden durch das Licht.
Um welche Früchte wird es sich hier handeln? Wie oben schon erwähnt, ist das zum einen alle Weisheit, alles Verständnis, das der Mensch sich auf Erden erwerben kann. Dieses Seelenlicht, das aus Weltenweiten kam, ist jedoch nicht nur das Licht unseres Verstandes. Es ist viel mehr. Es ist unser Lebenslicht, das Licht unserer fühlend lebenden und handelnden Seele. Zum anderen handelt es sich bei den Früchten deshalb auch um alle moralischen Werte, die der Mensch erringen kann.
Als handelnde Wesen müssen wir im Leben die vielfältigsten Entscheidungen treffen. Oft ist es alles andere als eindeutig, was das Beste oder das Richtige ist. Wir lassen uns durch unsere individuellen Norm- und Moralvorstellungen leiten, streben mehr oder weniger nach dem eigenen Vorteil. An den vielerlei Versuchungen, denen die Seele im Laufe des Lebens ausgesetzt ist, sollen ihre Tugenden heranreifen. Diese Tugenden betrachte ich als die weiteren Früchte, die entbunden, individuell im Menschen herausgebildet werden sollen.
Wir können heute nichtmehr nach tradierten Moralvorstellungen leben. Jede tradierte Norm, jeder tradierte Anspruch an sich selber muss durchfühlt und individualisiert werden. Jeder Mensch muss sich dergestalt seine eigenen Wertmaßstäbe schaffen und diese leben. Die Früchte sollen entbunden werden. Eine Entbindung verselbständigt das entbundene Wesen, trennt es von der Mutter, dem Ursprung. Ebenso verselbständigt sich eine vollbrachte Tat, ein geschaffenes Gemälde, ein veröffentlichtes Buch und wirkt unter Umständen weit über das Leben seines Schöpfers hinaus. In den eigenen Geistestiefen muss die Moral wurzeln und individuell gelebte, verantwortete Tugenden, die sich in Taten ausdrücken, sind letztendlich entbundene, reife Früchte solcher Entwicklung.
Aus vorchristlicher Zeit sind die Tugenden Gerechtigkeit, Maßhalten, Mut und Weisheit überliefert. Glaube, Liebe und Hoffnung sind die drei großen christlichen Tugenden. Ich erlebe auch Dankbarkeit, Geduld, Achtsamkeit, Hingabe, Vertrauen und Fokussiertheit (strukturierte Konzentration) als Tugenden. Die Liste lässt sich ergänzen.
Rudolf Steiner benennt die sieben klassischen Tugenden als Entwicklungsaufgaben des Menschen für die ganze Erdenzeit. Um ein plastischeres Bild dieser bedeutsamen Entwicklungsziele zu erhalten, füge ich ein längeres Zitat ein:
„Es sind ganz bestimmte Aufgaben, welche das menschliche Selbst [Hervorhebung A.F. mit Verweis auf 22 V: Weltenselbst, Menschenselbst] zu übernehmen und durchzuführen hat innerhalb seiner Erdenpilgerschaft. Der Mensch hat bestimmte Tugenden auszubilden, die er nicht außerhalb der Erdenpilgerschaft ausbilden kann. Sieben solcher Tugenden sind es. Mit den Anlagen zu diesen Tugenden kam der Mensch auf die Erde, und am Ende seiner Erdenpilgerschaft soll er diese sieben Tugenden voll entwickelt haben…
Die Anlagen zu sieben solcher Tugenden liegen im Menschen bei seiner ersten Verkörperung. Nach Millionen von Jahren wird er wieder hinausziehen aus seiner Erdenpilgerschaft, und diese Anlagen werden dann zu Tugenden ausgebildet sein. Er wird dann diese Fähigkeiten verwenden können in einer zukünftigen planetarischen Entwicklung. Diese sieben Tugenden sind:
- Gerechtigkeit
- Urteilsenthaltsamkeit
- Starkmut
- Klugheit
Das sind die vier niederen Tugenden. Die Klugheit faßt alles das zusammen, was uns befähigt, über unsere irdischen Verhältnisse ein Urteil zu fällen und dadurch selbst einzugreifen in den Gang der irdischen Verhältnisse. Durch das Sich-Erarbeiten dieser Fähigkeiten gewinnt der Mensch die Kraft, durch die er kraftvoll und führend in die Welt eingreifen kann. Die drei höheren Tugenden sind:
- Glaube
- Hoffnung
- Liebe.
Goethe hat es ausgedrückt mit den Worten: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis». Wenn der Mensch in allem, was er sehen und hören kann, nur ein Sinnbild sieht für ein Ewiges, das es ausdrückt, dann hat er den «Glauben». Das ist die erste der drei höheren Tugenden. Die zweite ist, ein Gefühl dafür zu entwickeln, daß der Mensch nie auf dem Punkte stehenbleiben soll, auf dem er steht, ein Gefühl dafür, daß wir heute Menschen der fünften Rasse sind, später aber uns höherentwickeln werden. Das ist die Hoffnung. Wir haben also den Glauben an das Ewige, und dann das Vertrauen, die Hoffnung auf die höhere Entwicklung. Die letzte Tugend ist die, welche als letztes Ziel unseres Kosmos auszubilden ist, es ist die Liebe. Deshalb nennen wir auch unsere Erde den «Kosmos der Liebe». Was wir in uns entwickeln müssen, indem wir der Erde angehören, das ist die Liebe, und wenn wir unsere Erdenpilgerschaft vollendet haben werden, dann wird die Erde ein Kosmos der Liebe sein. Die Liebe wird dann eine selbstverständliche Kraft aller menschlichen Wesen sein. Sie wird mit einer solchen Selbstverständlichkeit auftreten, wie beim Magneten die magnetische Kraft der Anziehung und Abstoßung selbstverständlich ist.
Nach und nach, durch verschiedene Verkörperungen hindurch, muß der Mensch diese Tugenden entwickeln. Ungefähr auf der Mitte dieses Weges ist er jetzt angelangt. Was diese Tugenden einmal sein werden, ist von der christlichen Theologie richtig so bezeichnet worden: «Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehöret hat und keinem Menschen ins Herz gekommen ist»; das soll bedeuten, daß niemand sich eine Vorstellung machen kann, in welch vollendeter Weise diese Tugenden einmal in dem Vollendeten vorhanden sein werden. Von Stufe zu Stufe arbeiten wir uns in den verschiedenen Verkörperungen. Wir steigen gleichsam mit der Anlage zu diesen sieben Tugenden aus der geistigen Welt herunter und müssen diese Tugenden im Leben ausbilden, um sie dann wirklich zu haben. So ist das irdische Leben nichts anderes als das Hindurchziehen durch ein Land, um daran zu arbeiten, die Anlagen in wahre Fähigkeiten umzusetzen. Wer hineinzieht in dieses Land, der muß sich zunächst hingeben an die Arbeit, und während der Arbeit wird er vielleicht nicht hinblicken können auf jenes hohe Ziel. Er entwickelt die Tugenden, indem er mit den anderen Menschen in Verbindung tritt, um so Starkmut, Gerechtigkeit, Hoffnung, Liebe und so weiter auszubilden. Er kommt mit anderen Menschen zusammen, und er muß diese Begegnungen benützen zur Ausbildung der Tugenden. Um die Tugenden auszubilden, muß der Mensch heruntersteigen aus der geistigen Welt in die physische Welt. Er wird verstrickt in dasjenige, was die physische Welt enthält, und immer enthält diese auch das Astrale, die Welt der Begierden, der Lüste .…
Wie die irdisch-physische Welt aus verschiedenen Gebieten besteht, so besteht auch die astrale Welt aus verschiedenen Gebieten, und diese können wir gliedern nach den sieben Tugenden, die ich genannt habe. Dadurch, daß wir diese Tugenden ausbilden, sind wir in einer ganz bestimmten Weise mit der Welt des Astralischen verstrickt und verkettet.
- Der Mensch muß lernen, Gerechtigkeit bewußt zu üben. Das kann er nur durch Überwinden der astralen Kräfte. Gerechtigkeit kann es nur geben in einer Welt, wo die Einzelnen Sonderwesen sind; nur von Einzelwesen zu Einzelwesen ist Gerechtigkeit möglich. Bewußt muß ich mich zu anderen Einzelwesen [gerecht] verhalten. Ich muß mich also zuerst als Sonderwesen fühlen, um gegenüber den Mitmenschen Gerechtigkeit üben zu können. … Der Kampf ums Dasein ist der Gegensatz, der entgegengesetzte Pol zur Gerechtigkeit, er muß überwunden werden durch die Tugend der Gerechtigkeit. Abstreifen muß der Mensch alles, was gegen den anderen Menschen sich stellt, abstreifen alle Untugenden, welche aus dem Kampf ums Dasein entspringen. Die Region, in der die Kräfte des Kampfs ums Dasein walten, ist die dunkelste Region des Kamaloka. …
- Die Enthaltsamkeit des Urteils, die Urteilsenthaltsamkeit gegenüber der Umgebung, das ist die zweite Tugend, die geübt werden muß. Gewöhnlich urteilt der Mensch nach Sympathie und Antipathie, mit der er anderen gegenübersteht. Nach und nach lernt er erkennen, daß, wenn man einen Menschen begreifen will, man über Sympathie und Antipathie hinauskommen muß, sie überwinden muß. Und wie die Gerechtigkeit als Gegenpol den Kampf uns Dasein hat, so hat die Enthaltsamkeit des Urteils als entgegengesetzte Untugend das Sich-Hingeben an alle Reize der Außenwelt. Antipathie und Sympathie müssen abgestreift werden in der zweiten Region von Kamaloka.
- Die Tugend des Starkmutes kann nur der entwickeln, der nicht bewahrt ist vor Versuchung. Wir können diese Tugend nur dadurch entwickeln, daß die ihr entgegensetzten Pole da sind und wir in sie hineinverstrickt sind. Tag für Tag, Stunde für Stunde sind wir den Versuchungen ausgesetzt. Das müssen wir auf der dritten Stufe ablegen, indem wir in dieser Region die Tugend des Starkmutes entwickeln.
- Klugheit kann nur dadurch ausgebildet werden, daß der Mensch durch unzählige Irrtümer hindurchgeht. Goethe sagt: «Es irrt der Mensch, solang er strebt.» — So wie das Kind dadurch lernt, daß es sich beim Fallen verletzt, so haben alle großen Menschen aus Erfahrungen gelernt, die sie durch Irrtümer gemacht haben. Das geschieht in der vierten Region des Kamaloka.
- Nun die höheren Tugenden. Die erste ist der «Glaube»; das ist das Erkennen des Ewigen im Zeitlichen und Irdischen, die Anschauung, daß alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist. Die verschiedenen Weltanschauungen sind fortlaufende Versuche, die Menschen da oder dort, dieser oder jener Nation, auf den verschiedensten Wegen zur Erkenntnis des Ewigen zu führen. Der Mensch muß durch den Buchstaben zum Geist vordringen, vom Dogma zur wahren, inneren Erkenntnis. Der Mensch wird immer in Versuchung kommen, in ein umgrenztes Buchstabenfeld verstrickt zu sein. Weil wir im Leben notwendigerweise ein Glied eines bestimmten Zeitalters sind, so müssen wir erst das ablegen, was unserer Zeit zum Dogma geworden ist, um zu der Wahrheit zu kommen, welche sich in allen Weltanschauungen und Religionen ausspricht. In der fünften Region treffen wir die Frommen, die Buchstabengläubigen aller religiösen Bekenntnisse, aller Weltanschauungen: buchstabengläubige Hindus, buchstabengläubige Mohammedaner, buchstabengläubige Christen und auch Theosophen, die an den Buchstaben glauben.
- Die nächste Tugend ist diejenige, die das Christentum «Hoffnung» genannt hat. Hoffnung kann der Mensch nur ausbilden, wenn er an eine Fortentwicklung glaubt. Nach und nach können wir das begreifen lernen durch die theosophische Lehre, die uns hinführt zu dem Gedanken der Fortentwicklung. Gewaltig war schon die menschliche Entwicklung vor unserer Zeit. Noch größer ist der Ausblick in eine zukünftige höhere Entwicklung für den Chela [Geistesschüler A.F.]. Er entwickelt ein Gefühl dafür, daß der Mensch nicht stehenbleiben darf bei den endlichen, den begrenzten Idealen, bei den Idealen, die nur seiner Zeit angehören. … Diese Beschränkung auf eine Zeit oder auf ein Volk, das muß der Mensch in dieser lichtvollen sechsten Region des Kamaloka abstreifen.
- Damit der Mensch die «Liebe» lernt, muß er im Endlichen anfangen. Um einen höheren Begriff der Liebe zu lernen, muß er mit dem Kleinen anfangen, mit dem Vergänglichen und dem Endlichen und sich weiterentwickeln. Die Liebe muß eine Selbstverständlichkeit, eine selbstverständliche Kraft werden. Sie muß das Ziel sein und das Streben der Menschen. Wenn der Mensch die Liebe entwickelt, dann erlebt er sich in der siebenten und höchsten Region des Kamaloka. [Gliederung und kursive Hervorhebung A.F.]
Sieben Läuterungsfeuer gibt es im Kamaloka, durch die die Seele hindurchziehen muß. Dann steigt sie auf in das Devachan [in den Himmel A.F.], wo es wiederum sieben Regionen gibt. Nur das, was Frucht [Hervorhebung A.F.] eines hohen Ideals ist, das kann mit hinübergenommen werden in ein neues Dasein, in eine neue Verkörperung. Was an Ort und Zeit gebunden ist, das muß abfallen im Kamaloka. So hat der Mensch, je nachdem, ob er die eine oder die andere Läuterung durchzumachen hat, die sieben Regionen des Kamaloka zu durchlaufen. Wenn ein Mensch zum Beispiel Starkmut ausbilden und deshalb gestärkt werden muß gegenüber Wünschen und Verlangen, so wird er in der Region, in der er das Negative läutern kann, erwachen. Die übrigen Regionen wird er mehr schlafend durchgehen. Das ist dasjenige, was die Theosophie den Aufenthalt im Kamaloka nennt. Was wir auf der Pilgerfahrt unseres irdischen Lebens durchzumachen haben, ermöglicht uns, daß wir von Entwicklungsstufe zu Entwicklungsstufe gehen und daß wir in den Zwischenzuständen [zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, A.F.] durch Seelenläuterungsorte hindurchgehen müssen und die Schlacken im Kamaloka abstreifen.“ (Lit.: GA 88, S. 81ff)
Auch das Entbinden der Früchte hat ein Ziel. Durch das Freiwerden der Tugend-Früchte soll das Menschenselbst aus dem Weltenselbst herausreifen. Das bedeutet zum einen, dass wir immer noch geborgen im Weltenselbst sind, denn der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Zum anderen macht es deutlich, dass nicht nur der Mensch ein Selbst ist, sondern auch die Welt. Damit stellt sich die Frage: wer oder was ist dieses Weltenselbst? Aus wem oder was gehen wir hervor?
Im Mantra 6 F habe ich über das Selbst geschrieben und Rudolf Steiner zitiert: “Und was der Mensch sein Selbst nennt, ist nicht das wirkliche Ich, ist das Ich, wie es sich spiegelt im physischen Leib.” (GA 145, S. 188). Daraus folgt, dass das Weltenselbst die Spiegelung des Weltenichs an der physischen Welt ist. Das Urbild des Jahreslaufs, der Jahreskreis mit seinen immer wiederkehrenden Gesetzmäßigkeiten, kann ich als diese Spiegelung ansehen. Tatsächlich empfiehlt Rudolf Steiner den Jahreslauf, um den lebendigen, den ätherischen Christus wahrnehmen zu lernen. Auf die Frage, wie man sich für das Schauen des ätherischen Christus am besten vorbereiten könne, antwortete Rudolf Steiner Friedrich Rittelmeyer, einem der Gründungspriester der Christengemeinschaft: “durch das meditative Miterleben des Jahreslaufes” (in Emil Bock, Rudolf Steiner, Studien zu seinem Lebensgang und Lebenswerk, Vorträge vom 15.12 und 27.2.1949).
Wir reifen aus dem Weltenselbst im Zeitenlauf. Der Zeitenlauf ist die stetig sich vollziehende Verwirklichung des Jahreskreis-Urbilds. Der Zeitenlauf ist der konkrete Mutterschoß. Hier reifen wir, um ein Selbst zu werden, dass dem Weltenselbst entspricht. Das Menschenselbst ist das heranreifende Kind des Weltenselbst.
Das Mantra 22 V schlägt einen gewaltigen Bogen von dem Einströmen des Lichtes aus Weltenweiten, d.h. von der Herkunft des Lichtes — des Ursprungs, das zum menschlichen Seelenlicht wird, bis zum Ziel der Menschheitsentwicklung, dem Herausreifen des Menschenselbst aus dem Weltenselbst. Dadurch umfasst das Mantra den gesamten Entwicklungsbogen der Menschheit.
Die fünfte Stufe im Sternbereich – die Stufe der Dynamis
„Es gibt eine weitere Ordnung, die Kräfte (Virtutes, Dynamis, Mächte, Geister der Bewegung) genannt wird, weil Gott durch sie Wunder wirkt. Daher wird sie mit dem Begriff der Kräfte bezeichnet. Zu dieser Ordnung werden diejenigen gehören, die im gegenwärtigen Leben Wunder wirken.
…. Arbeite also, o Mensch, damit du … im Vollbringen von Wundern durch die Züchtigung des Fleisches in der Ordnung der Kräfte dich ansiedelst; …“ (Alanus ab Insulis, Übersetzt und veröffentlicht von Wolf-Ulrich Klünker unter dem Titel, „Alanus ab Insulis“, 1993, S. 54f, Hervorhebungen A.F.)
Rudolf Steiner beschreibt die Wirkung dieser Hierarchie auf die Pflanzen folgendermaßen: „Wiederum können wir nämlich sagen, daß auf den astralischen Leib der Pflanzen von den Planeten des Planetensystems her die Kräfte der Geister der Bewegung oder ihrer Nachkommen wirken.
Der astralische Leib ist nämlich bei jedem Wesen dasjenige, was den Impuls gibt zur Bewegung. Auf dem physischen Plan haben wir von der Pflanze den physischen und Ätherleib. Wenn auf die Pflanze irgendwelche Kräfte aus der Sphäre der Geister der Bewegung wirkten, so würden diese Kräfte, weil der astralische Leib nicht in der Pflanze drinnen ist, sondern sie umspült, die Pflanze zur Bewegung bringen, aber jetzt nicht so, wie Menschen und Tiere sich bewegen, sondern so, daß sie die Pflanze, wie sie zuerst entsteht, von der Erde wegholen. Wenn Sie sehen, wie sich an einer Pflanze die Kräfte wie in Spiralen von Blattansatz zu Blattansatz weiterentwickeln, dann haben Sie die Tätigkeit dieser Kräfte, welche von den Planeten hereinwirken. Und je nachdem von diesem oder jenem Planeten herein die Kräfte der Nachkommen der Geister der Bewegung wirken, wird diese eigentümliche Linie, welche die Blätter ansetzt, anders.“ (Lit.: GA 136, S. 172f)
Bedeutet Wunder zu wirken also, etwas in himmlischer, also rhythmische-harmonischer Weise in Bewegung zu bringen? Ist Entwicklung nicht durchzogen von einer eigenen Dynamik und eigentlich selber ein Wunder? Und ist eine aus hoher Moralität gewirkte Tat nicht ebenso ein Wunder, weil sie dem irdisch instinkthaften Handeln in der Regel entgegengesetzt ist?