28 b
Ich kann im Innern neu belebt
Erfühlen eignen Wesens Weiten
Und krafterfüllt Gedankenstrahlen
Aus Seelensonnenmacht
Den Lebensrätseln lösend spenden,
Erfüllung manchem Wunsche leihen,
Dem Hoffnung schon die Schwingen lähmte.
Das zweite apokalyptische Siegel — das Viergetier
Das zweite apokalyptische Siegel zeigt den Seelenraum des Menschenwesens von der fernsten Vergangenheit bis zur Vollendung in der Zukunft. Dargestellt wird dieser Seelenraum durch vier Wesen, Adler, Stier, Löwe und Mensch, die das Lamm umgeben. Die vier auch den Evangelisten zugeordneten Wesen stellen die vergangenen Gruppenseelen der Menschheit dar, das Lamm die in die Zukunft führende fünfte Gruppenseele.
Das zweite apokalyptische Siegel im Seelenkalender-Jahreslauf (in Ei-Orientierung)
Rudolf Steiner sagt: „So wird uns in dem zweiten Bilde in den apokalyptischen Tieren, dem Löwen, dem Adler, der Kuh und dem Menschen, ein früherer Entwickelungszustand der Menschheit dargestellt. Dann aber gibt es und wird es geben, solange die Erde sein wird, eine Gruppenseele für die höhere Offenbarung des Menschen, die durch das Lamm dargestellt wird, durch das mystische Lamm, das Zeichen für den Erlöser. Diese Gruppierung der fünf Gruppenseelen: die vier des Menschen um die große Gruppenseele, die noch allen Menschen gemeinschaftlich gehört — das stellt das zweite Bild dar.“ (Lit.: GA 284, S. 75)
„So zeigt sich das hellseherische Bild. So kommt aus dem Dunkel des Geisterlandes heraus der Mensch. Und das, was ihn an Kraft ausgebildet hat, das erscheint in einer Art Regenbogenbildung. Die mehr physischen Kräfte umgeben die ganze Bildung dieses Menschen wie ein Regenbogen. — Man muß auf den verschiedensten Gebieten und in der verschiedensten Weise dieses Menschwerden schildern. Jetzt wird es geschildert, wie es dem Forscher im Rückblick erscheint: wie diese vier Gruppenseelen sich herausgestaltet haben aus dem gemeinsamen Göttlich-Menschlichen, das heruntersteigt. Man hat von jeher diesen Moment symbolisch in die Form gebracht, die Sie auf dem zweiten der sogenannten sieben okkulten Siegel dargestellt finden. Das ist die symbolische Darstellung, sie ist aber mehr als ein bloßes Symbolum. Da haben Sie herauskommend aus dem unbestimmten Geistigen diese vier Gruppenseelen, den Regenbogen ringsherum und eine Zwölfzahl. Wir müssen auch verstehen, was diese Zwölfzahl bedeutet.
… Es kommt der Moment, wo der Eingeweihte sich sagt: Ich sehe nicht bloß diese vier Gestalten, sondern ich bin da drinnen, ich habe mein Wesen darüber ausgedehnt. — Er identifiziert sich damit. Er nimmt das wahr, was durch die zwölf Sternbilder, durch die Zwölfzahl symbolisiert wird.“ (Lit.: GA 104, S. 58ff)
Das Viergetier findet sich im Regenbogenkreis, der laut Rudolf Steiner die physischen Kräfte darstellt. Außen um den Regenbogen herum ist durch die 12 römischen Ziffern der Tierkreis angedeutet. Es ist der makrokosmische Seelenraum des Eingeweihten. Daraus kann ich schließen, dass im Innern des Regenbogens der mikrokosmische Seelenraum dargestellt ist. Finden sich in meiner Seele vielleicht alle fünf Gruppenseelen der Menschheit so wie sie auch auf dem Siegelbild vereinigt sind? Hat meine Seele vielleicht vier Bereiche, so wie das Jahr vier Jahreszeiten? Können diese vier Seelen-Jahreszeiten durch die vier Tiere charakterisiert werden? Dann gibt es einen Adler-Bereich mit kühnen Höhenflügen, den Herbststimmung durchzieht; einen gleich der Denkkraft von innen heraus das Dunkel erleuchtenden, löwenhaft mutigen Tiefwinterbereich; einen jungfräulichen Frühlingsbereich und einen ganz dem Sein hingegebenen, die vielfältigen Wahrnehmungen verdauenden Sommer-Stier-Bereich. Sie umgeben als vier Betätigungsfelder das Lamm im Zentrum, das sich als reines Bewusstsein mal in diesen, mal in jenen Bereich opfert.
So wie um eine Lichtquelle in trüb-dunkler Umgebung ein Ring aus Regenbogenfarben erscheint, so umgibt auf dem Siegelbild ein Regenbogen das Lamm als Quelle des reinen Bewusstseinslichtes. Das Viertetier steht hier für den vierfach differenzierten Schein dieses Lichtes.
Lebensrätsel und Seelenrätsel
Zwei Mantren thematisieren im Seelenkalender ein Rätsel. Das Mantra 28 b spricht von Lebensrätseln, das Mantra 48 w von Seelenrätseln. Im Mantra 28 b ist es der Ich-Sprecher, der aus Seelensonnenmacht krafterfüllt Gedankenstrahlen den Lebensrätseln spendet, die sich dadurch lösen. Es handelt sich um eine individuelle Leistung. Anders im Lichtspruch-Mantra 48 w. Hier tritt, wie in allen Lichtsprüchen, gar kein Ich-Sprecher auf. Hier ist es die Sicherheit des Weltendenkens, die im machtvoll fließenden Licht aus Weltenhöhen erscheinen und die Seelenrätsel lösen möge. Ein überpersönlicher, die Reifung der Menschheit betreffender Vorgang wird hier beleuchtet.
Bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen die Begriffe “Lebensrätsel” und “Seelenrätsel” fast synonym. Die Rätsel des Lebens, des eigenen Schicksals sind natürlich Rätsel für die Seele, Seelenrätsel. Der Kontext der beiden Mantren legt es aber nahe, die beiden Begriffe zu unterscheiden. Auf meiner Suche, wie Rudolf Steiner selber beide Begriffe benutzt, fand ich zu der Schlussfolgerung, dass Seelenrätsel Fragen sind, die die Struktur der Seele, ihren Aufbau betreffen. Lebensrätsel sind dagegen die persönlichen Fragen eines Individuums an das eigene Schicksal, das eigene Leben.
“Seelenrätsel” benutzt Rudolf Steiner, als er über Goethe und Schiller spricht: “Man kann nachweisen, daß Goethe angeregt worden ist, sein Märchen zu schreiben, durch das, was Schiller ausgesprochen hat in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen. Goethe spricht darin dasselbe in seiner Art aus. Goethe wollte nicht in abstrakten Begriffen die Rätsel der Seele aussprechen. Für Goethe waren die einzelnen Seelenrätsel zu reich und zu gewaltig, als daß er sie in Naturnotwendigkeit und Logik hätte fassen können. So bildete sich in Goethe das Bedürfnis, des Menschen einzelne Seelenkräfte in den Gestalten seines Märchens zu personifizieren.“ (Lit.: GA 57, S. 46f (1908), Hervorhebung von mir) Gemeint ist das Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie.
Außerdem ist in zwei Titeln des Gesamtwerks “Seelenrätsel” enthalten: GA 66 “Geisterkenntnis / Seelenrätsel und Welträtsel / Leben, Tod und Seelenunsterblichkeit im Weltenall” und GA 178 “Die Erkenntnis des Übersinnlichen und die menschlichen Seelenrätsel / Das Geheimnis”
Lebensrätsel benutzt Rudolf Steiner dagegen im zweiten Mysteriendrama «Die Prüfung der Seele». Hier wird im 5. Bild ebenso ein Märchen erzählt: das sogenannte Märchen vom Quellenwunder. Dieses Märchen schildert nicht nur Geistige Sachverhalte in Bildern ausgedrückt, wie in Goethes Märchen. Es erzählt von einem Menschen, der geistige Erlebnisse hat. Als er über sein Schicksal nachsinnt, sprechen die geistigen Wesen zu ihm.
Zusammenfassen lässt sich das Märchen folgendermaßen: Ein zarter Knabe, der als das einzige Kind armer Förstersleute einsam im Wald heranwuchs, war ganz dem Geistesweben seiner engen Welt hingegeben. Er ging an einem Sommerabend, wie schon oft zu einer Quelle und lauschte sinnend. Da formte sich ihm der Strom zerstäubender Tropfen im Mondlicht zu drei Frauengestalten. Die eine ergriff die tausend sprühenden Tröpfchen und reichte sie der zweiten, die formte die bunten Wassertropfenwesen zu einem silbernen Kelch. Die dritte füllte ihn mit Mondensilberlicht und reichte ihn dem Knaben. Doch in der folgenden Nacht träumte der Knabe, dass ein wilder Drache ihm den Kelch raubt. Noch dreimal hatte er danach dieses Erlebnis, dann blieben die Frauen aus. Erst als dreimal dreihundertsechzig Wochen (knapp 21 Jahre oder 3 x 360 = drei Kreisumläufe in Grad-Schritten) verstrichen waren und er erwachsen geworden in einer fernen Stadt lebte und darüber nachsann, was ihm das Leben noch bringen werde, fühlte er sich plötzlich wieder nach seinem Felsenquell entrückt. Er sah die Frauengestalten wieder und diesmal sprachen sie zu ihm:
“Es sagte ihm die erste:
Gedenke meiner jeder Zeit,
wenn einsam du dich fühlst im Leben.
Ich lock’ des Menschen Seelenblick
in Ätherfernen und in Sternenweiten.
Und wer mich fühlen will,
dem reiche ich den Lebenshoffnungstrank
aus meinem Wunderbecher. –
Und auch die zweite sprach:
Vergiß mich nicht in Augenblicken,
die deinem Lebensmute drohen.
Ich lenk’ des Menschen Herzenstriebe
in Seelengründe und auf Geisteshöhn.
Und wer die Kräfte sucht bei mir,
dem schmiede ich die Lebensglaubensstärke
mit meinem Wunderhammer. –
Die dritte ließ sich so vernehmen:
Zu mir erheb’ dein Geistesauge,
wenn Lebensrätsel dich bestürmen.
Ich spinne die Gedankenfäden
in Lebenslabyrinthen und in Seelentiefen.
Und wer zu mir Vertrauen hegt,
dem wirke ich die Lebensliebestrahlen
aus meinem Wunderwebestuhl. – – –”
(Rudolf Steiner, Lit.: GA 14, S. 204ff, Hervorhebung von mir)
Und in der folgenden Nacht träumte er, wie ihn ein wilder Drache umschlich. Doch dieser konnte ihm nicht nahen, da ihn die drei Gestalten beschützten. Und so blieb es auch.
In den drei Frauengestalten werden die drei seelischen Wesensglieder des Menschen repräsentiert. In den Mysteriendramen sind sie durch die Gestalten Philia, Astrid und Luna dargestellt. Philia verkörpert die Empfindungsseele, Astrid die Verstandes- oder Gemütsseele und Luna die Bewusstseinsseele.
In einem Vortrag erklärt Rudolf Steiner dazu: “Wenn der Mensch einmal praktisch in sein eigenes Leben die Tatsache einführen wird, die zum Ausdruck kommt in der Gliederung der Seele in Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele, dann werden sich ihm rein elementar-gefühlsmäßig in bezug auf seine Stellung, sein Verhältnis zur Welt gewisse Empfindungsrätsel ergeben; Rätsel, die sich gar nicht aussprechen lassen in unserer gewöhnlichen Sprache und unseren gewöhnlichen Begriffsformen, aus dem einfachen Grunde nicht, weil wir heute doch in einer zu intellektualistischen Zeit leben, um durch das Wort und durch alles, was durch das Wort möglich ist, jene feinen Beziehungen zum Ausdruck zu bringen, die sich ergeben zwischen den drei Seelengliedern. Das kann man viel eher, wenn man ein Mittel wählt, durch welches die Beziehung der Seele zur Welt selber als eine vieldeutige und dennoch als eine ganz bestimmte und ausgesprochene erscheint. Was durch die ganze «Prüfung der Seele» hindurch spielt als eine Beziehung aller Vorgänge zu dem, was in den drei Gestalten Philia, Astrid und Luna ausgedrückt ist, das bedurfte eines Ausdruckes in nicht scharfen Konturen, der aber dennoch durch bestimmte seelische Kraftwirkungen etwas hat, was das Verhältnis des Menschen zur Welt anschaulich machen kann. Und das konnte auf keine andere Weise gegeben werden, als indem gezeigt wurde, wie durch die Erzählung dieses Märchens von den drei Gestalten in Capesius’ Seele hervorgerufen wird ein ganz bestimmter Drang, ein ganz bestimmter Vorgang, der ihn reif macht, nun hinunterzusteigen in diejenigen Welten, die erst jetzt wieder beginnen, reale, wirkliche Welten für den Menschen zu werden.” (Lit.: GA 127, S. 193ff, Hervorhebung A.F.)
Exkurs zur rätselhaft empfundenen Sprache der Mantren
Ein Gedanke am Rande: Rudolf Steiners obige Ausführungen erklären, warum die Sprache der Mantren des Seelenkalenders oft rätselhaft und so schwer zu verstehen ist. Die feinen Beziehungen zwischen den drei Seelengliedern — und darüber hinaus sicher auch zur irdischen und geistigen Welt — lassen sich in intellektueller Sprache nicht ausdrücken. Nur die Bildsprache der Märchen hilft hier weiter, doch sie ist weniger exakt, als wir es heutzutage wünschen. Die Mantren sind ein Versuch, diese sowohl exakte als auch feine Ausdrucksform zu erschaffen.
Das Ringen um angemessene Begriffe sei an einem Beispiel verdeutlicht. Was Rudolf Steiner im Mantra die “Seelensonnenmacht” nennt, wird in esoterischen Zusammenhängen als die ewige Essenz der Seele, ihr unauslöschliches, unzerstörbares Leuchten oder als göttlicher Funke bezeichnet. An anderer Stelle nennt Rudolf Steiner dieses Licht das Astrallicht (siehe Zitat unten).
Wie kann ich das Mantra 28 b verstehen?
Das Mantra 28 b ist eine Aufzählung von Kompetenzen des Ich-Sprechers, von meinen Kompetenzen. Diese Kompetenzen sind gegliedert nach den drei Seelenfähigkeiten Fühlen, Denken und Wollen. Es beginnt mit “Ich kann …” und unausgesprochen steht dieses “Ich kann” vor jeder weiteren Aussage: Ich kann die Weiten des eigenen Wesens erfühlen, (ich kann) Gedankenstrahlen den Lebensrätseln spenden und (ich kann) Wünschen Erfüllung verleihen — eine zukunftsgerichtete willenshafte Aktivität. Dieses Können erwächst mir als Ich-Sprecher aus der Neubelebung meines Inneren.
Welcher Umstand hat diese Neubelebung bewirkt? Mit dem Mantra 27 a sind wir in eine neue Jahreshälfte eingestiegen. So wie das Sommer-Halbjahr, die Wahrnehmung, also das Außen von der Sonne regiert empfunden werden kann, steht das Winter-Halbjahr, das Innen, unter der Herrschaft des Mondes. Der Mond wirkt auf unsere Fruchtbarkeits- und Lebenskräfte, die Sonne auf unsere Erkenntniskraft. Sie schenkt das Licht, ohne das wir nichts sehen könnten. So wie die Sonne im Frühling als verjüngt erlebt wird, kann dies für den Mond im Herbst angenommen werden. Das Leben in der Wahrnehmung lässt uns für die Innenwelt unbewusst werden, einschlafen. Werden wir uns unserer Innenwelt wieder bewusst, erwachen wir bereichert.
Ein weiterer Gedanke soll diese Idee vertiefen: Im Frühling überlagert der Mond die starre, an Daten gebundene Ordnung der Sonne, indem das Osterfest beweglich ist. Es richtet sich nach dem Vollmond nach der Tag- und Nachtgleiche. Hier ist der Mond in seiner höchsten Kraftentfaltung zu sehen. Sehe ich nun ab von den realen Mondphasen und betrachte den Jahreslauf als Projektionsfläche für einen einzigen Mondzyklus von Neumond zu Neumond, so steht der Frühling für Vollmond, der Herbst für das Gegenteil, den Dunkelmond mit nachfolgender Neugeburt, dem Neumond.
Eine Bestätigung erfährt dieser Gedanke durch das Phänomen der sogenannten Spiegelsprüche. Jeweils zwei Mantren entsprechen sich grammatikalisch. Sie sind jeweils senkrecht zur Halbjahresschwelle im Kreis verbunden. Nur die beiden zentralen Herbst-Mantren 26 Z und 27 a machen davon eine Ausnahme, sie spiegeln nicht. Der Mond mit seinen Phasen wurde immer als ein sich füllendes und leerendes Gefäß betrachtet. Dieses Lebenswasser, in Indien Soma-Trank genannt, wurde für die Spiegelung des Sonnenlichtes auf der Mondscheibe verantwortlich gemacht. Beim Dunkelmond, wenn der Mond nicht zu sehen ist, wird dieses Gefäß deshalb als leer gedacht. Nun ist keine Spiegelung des Sonnenlichtes möglich. Das erste Mantra, das wieder eine grammatikalische Entsprechung aufweist und dadurch spiegelt, ist das Mantra 28 b (spiegelt mit 25 Y). Neues Lebenswasser beginnt nun in das Gefäß zu fließen. Der Mond-Aspekt ist neu belebt. Diese Belebung teilt sich meiner Seele, meinem Innenraum mit. Das wirkt sich auch erneuernd auf meine drei Seelenfähigkeiten aus.
Beschrieb das vorige Mantra 27 a das Eindringen, so bin ich mit dem Mantra 28 b angekommen in meinem Innenraum. Das ganze Sommer-Halbjahr weilte ich im Außen, in der Wahrnehmung. Nun bin ich wieder angekommen und finde, im übertragenen Sinne, den Innenraum nach langer Abwesenheit gut gelüftet wieder. Anders als bei einem Gebäude möglich, hat sich mein Seelenraum möglicherweise während meiner Abwesenheit verändert, geweitet — durch meine im Sommer-Halbjahr gemachten Erfahrungen. Ich nehme Kontakt zu meinem Seelenraum auf, indem ich seine Weite tastend, spürend erfühle. Ich kann — ich habe die Fähigkeit — die Weiten meines eigenen Wesens zu erfühlen. Leises Staunen klingt mit über die neue Lebendigkeit und Weite meines Seelenraumes.
Von dieser Mitte fühle ich in den Umkreis, in die Weite meines Wesens. Ich erfühle, wie weit ich reichen kann, wie groß das Reich ist, dessen König oder Königin ich idealerweise sein sollte. Ein Reich ist so groß, wie die Macht des Königs reicht, bis in welche Ferne sein Wort gehört wird. Es ist das Gebiet, in dem das Sein dem König gehorcht. Das Fühlen ist die Seelenfähigkeit, die Wahrnehmungsorgan für dieses Reich ist. Es ist ein fühlendes Abtasten des Umkreises, der zu meinem Wesen gehört. Fühlend nehme ich meinen Lebenskräfteleib, meinen Ätherleib wahr.
Nun folgt der zweite Schritt. Er schließt mit “Und” an, das Erfühlen der Weite meines Wesens tritt ins denkende Bewusstsein. Dieses Denken hat die Qualität von Strahlen. Einen logisch aufgebauten, stringent geführten Gedankenfaden kann ich durchaus als Gedankenstrahl erleben — ein assoziativ sprunghaftes Denken eher nicht. Krafterfüllt spende ich diese Gedankenstrahlen. Dies lässt das Denken als ein ganz vom Willen durchdrungenes, geführtes Denken erkennen und hat nichts mit dem automatisch im Innern ablaufenden, ständigen Selbstgespräch zu tun, das zwar starke Emotionen hervorrufen kann, aber sich mehr oder weniger im Kreis dreht. Das geradlinige Denken benötigt Willenskraft.
Was ist mit dem Spenden der Gedankenstrahlen gemeint? Zum einen bedeutet spenden, etwas zu opfern. Wenn ich denke, so opfere ich Lebenskräfte. Das Erkenntnislicht gleicht dem Feuer, es braucht Brennmaterial, das sich opfert. Die Lebenskraft geht im Denken in Erkenntnislicht über. Dadurch habe ich die Fähigkeit, selber Licht auszusenden. Das führt zu der anderen Bedeutung des Spendens. Alles, was ich sehe, muss beleuchtet sein. Eine Lichtquelle muss dem Gegenstand Licht spenden. Rudolf Steiner beschreibt dieses Erzeugen geistigen Lichtes als eine Vorübung zur imaginativen Erkenntnis. “Wenn der Mensch sich diese Vorstellung [von Licht in einem äußerlich dunklen Raum] intensiv genug bilden kann, so wird es nach und nach heller, und er wird dann ein Licht sehen, das kein physisches Licht ist, sondern ein Licht, das er nun sich selber schafft, das er durch innere Kraft in sich erzeugt. Und das ist ein Licht, das durchstrahlt sein wird von der Weisheit, in dem ihm die schaffende Weisheit erscheint. Das ist das, was man Astrallicht nennt. Durch Meditation kommt der Mensch dazu, durch innere Kraft Licht zu erzeugen.” (Lit.: GA 101, S. 149f) Dieses durch mein krafterfülltes Denken selber erzeugtes Licht kann ich nun spenden und dadurch in der geistigen Welt sehend werden. Dem dritten Auge wird die Fähigkeit zugeschrieben, Licht auszusenden und dadurch das Unsichtbare sichtbar, erkennbar zu machen.
Ein Lichtstrahl hat eine Quelle. So ist es auch mit meinen Gedankenstrahlen. Sie kommen aus Seelensonnenmacht. Wie ein König im Zentrum seines Reiches gedacht werden kann, dessen Macht bis an die Grenzen seines Reiches ausstrahlt, so durchstrahlt die Seelensonnenmacht die Weiten des eigenen Wesens. Jede Tat des Königs zeigt seine Kraft. Die krafterfüllten Gedankenstrahlen entsprechen den Taten des Königs. Sie zeigen auch unter diesem Gesichtspunkt den Willensaspekt im Denken.
Meine Seelensonnenmacht ist die sonnengleich ausstrahlende Macht meines Astralleibs. Rudolf Steiner erklärt: “Wie der physische Leib nicht durch die in ihm befindlichen mineralischen Stoffe und Kräfte seine Form erhalten kann, sondern wie er, um dieser Erhaltung willen, von dem Ätherleib durchsetzt sein muß, so können die Kräfte des Ätherleibes sich nicht durch sich selbst mit dem Lichte des Bewußtseins durchleuchten. Ein Ätherleib, der bloß sich selbst überlassen wäre, müßte sich fortdauernd in dem Zustande des Schlafes befinden. Man kann auch sagen: er könnte in dem physischen Leibe nur ein Pflanzensein unterhalten. Ein wachender Ätherleib ist von einem Astralleib durchleuchtet.” (Lit.: GA 13, S. 58ff) Der Ort, von dem die Seelensonne ausstrahlt, erlebe ich im Herzen, dem Organ, das stets mit der Sonne verbunden wurde. Die krafterfüllten Gedankenstrahlen gehen also vom Herzen aus. Sie offenbaren sich als bejahende, Liebe durchdrungene Gedankenstrahlen. Diese kann ich den Lebensrätseln lösend spenden.
Die Lebensrätsel verstehe ich als die Situationen in meinem Leben, die mir Rätsel aufgeben, als das Hadern mit den Schicksalsschlägen, das in die große Frage mündet: “Warum — warum passiert mir das?” Diese Rätsel lösen sich, wenn es gelingt, die Situation anzunehmen, ihr positiv gegenüber zu treten mit der Haltung: “Wer weiß, wozu es gut ist”. Diese bejahende Haltung beruht auf einem Schicksalsverständnis, das von der Zukunft, vom Ziel ausgeht und nicht nach Ursachen in der Vergangenheit sucht. Rudolf Steiner bezeichnet das für alle Menschen in der Vergangenheit liegende Tor der Geburt als Mondentor, das in der Zukunft liegende Tor des Todes als Sonnentor. Dadurch geht von der Sonne auch unter diesem Gesichtspunkt die Kraft aus, das Schicksal auf sein Ziel hin zu führen. Jedes Schicksalsereignis ist nun nicht vorrangig die Folge von etwas, sondern die Vorbereitung für etwas. Es ist das Trainingsangebot des Lebens zum Erwerb von Fähigkeiten, Weisheit und Gefühlstiefe, um für größere Aufgaben als die gegenwärtigen vorbereitet zu sein.
Der dritte Schritt meines Könnens gilt der Erfüllung mancher, — nicht aller — Wünsche. Er schließt so nahtlos an, dass der Eindruck einer dritten Gleichzeitigkeit entsteht. Ich kann manchem Wunsch Erfüllung leihen. Die Erfüllung ist nur geliehen, also vorübergehender Natur. Außerdem werden diese Wünsche durch einen erstaunlichen Umstand charakterisiert: Hoffnung lähmte schon die Schwingen. Worum handelt es sich hier? Eigentlich verleiht Hoffnung der Seele Flügel, trägt sie in die Zukunft. Doch in diesem Fall ist Hoffnung eine Seelenregung, die die Wunscherfüllung hindert statt fördert. Das ist zunächst irritierend. Genau besehen trifft dies auf Wünsche zu, deren Erfüllung zwar erhofft, jedoch passiv erwartet wird. Andere Menschen sollen aktiv werden, ein eigener Beitrag wird nicht in Erwägung gezogen. Hier fehlt die Eigenaktivität. Diese Menschen gleichen Kindern, die erwarten, rundum versorgt zu werden. Sie übernehmen keine Verantwortung, gehen nicht auf ihr Ziel zu, sondern warten darauf, dass die Erfüllung zu ihnen kommt. Sie warten auf den Prinzen bzw. die Prinzessin, der bzw. die sie finden und heimführen soll.
Im Mantra heißt es Ich kann … Erfüllung manchem Wunsche leihen … Das Mantra ist ein einziger langer Satz. Ich bin es also selber, der für die Erfüllung sorgt.
Nachdem ich:
- die Weiten meines eigenen Wesens erfühlt, sie wieder in Besitz genommen habe
- aus Seelensonnenmacht krafterfüllt Gedankenstrahlen zur Lösung der Lebensrätsel gespendet, mein Schicksal geordnet habe,
- bin ich nun in der Situation, mir auch manche Wünsche erfüllen zu können. Ich bin bereit in die Zukunft zu gehen.
In diesem letzten Schritt, erlebe ich die Aktivität des Ichs und damit das Ich selber am stärksten, gleichwohl die vorigen Schritte nicht ohne diese Aktivität gedacht werden können. Das Mantra ist durchgängig aus der Perspektive des sich selbst reflektierenden Ich-Sprechers geschrieben.
Für mich bedeutet dieses Mantra die Einweihung in die individuelle Entwicklungsfähigkeit der Seele, meiner Seele.
Ergänzung: Das dreifache Können im Mantras 28 b und die drei Frauengestalten des Quellenwunders
Die drei Frauengestalten, die sich dem Knaben im Märchen vom Quellenwunder zeigen, stellen die drei Seelen dar, die drei Wachheitsstufen der Seele, die Rudolf Steiner unterscheidet. Die erste Wachheitsstufe ist die Empfindungsseele. Die erste Frauengestalt ergreift die tausend sprühenden Tröpfchen und reicht sie an die zweite weiter. Die Empfindungsseele empfängt vom Empfindungsleib die Wahrnehmungen. In ihr werden sie zum seelischen Erlebnis, jedoch ohne verstanden zu werden. Ihr entspricht die Fähigkeit im Mantra, die Weite des eigenen Wesens zu fühlen. Dem erwachsenen Protagonisten teilt sich die erste Frauengestalt entsprechend mit: “Ich lock´ des Menschen Seelenblick in Ätherfernen und in Sternenweiten.” Sie hilft gegen Einsamkeitsgefühle, denn wenn ich mich selber wahrnehme, bin ich nicht mehr allein. Sie reicht den Lebenshoffnungstrank. Im Mantra wird gesagt, dass ich im Innern neu belebt bin. Sie hat einen Wunderbecher, ein Hinweis auf den physischen Leib als Gefäß der Seele. Hier ist die christliche Tugend der Hoffnung an ihrem richtigen Ort. Es ist die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod, wenn der physische Leib abgelegt werden musste.
Die zweite Wachheitsstufe ist die Verstandes- oder Gemütsseele. Die zweite Frauengestalt formt in der Vision des Knaben die bunten Wassertropfenwesen zu einem silbernen Kelch. Die Verstandesseele formt aus den Wahrnehmungen die Begriffe, die wie Gefäße sind für Ideen-Inhalt. Das Formen des Kelches benötigt Kraft. Und krafterfüllt kann ich im Mantra Gedankenstrahlen den Lebensrätseln lösend spenden. Die zweite Frauengestalt sagt dem erwachsenen Protagonisten, dass sie hilft, wenn der Lebensmut bedroht ist. Gleich Gedankenstrahlen lenkt sie “des Menschen Herzenstriebe in Seelengründe und auf Geisteshöhn.” Sie schmiedet des Lebens Glaubensstärke — die innere Gewissheit von der Realität einer geistigen Welt. Glaube ist eine weitere christliche Tugend. Im Mantra kommen die Gedankenstrahlen aus Seelensonnenmacht, dem Bild des geistigen Seins der Seele. Sie hat einen Wunderhammer, Bild des stetig klopfenden Herzens für das pulsierende Leben, den Ätherleib. Die Glaubensstärke, die zweite christliche Tugend
Die dritte Wachheitsstufe ist die Bewusstseinsseele. Die dritte Frauengestalt füllt den Kelch der zweiten mit Mondensilberlicht und reicht ihn dem Knaben. Er bekommt den Trank, der Wunsch wird ihm erfüllt. Das entspricht dem dritten Teil des Mantras. Dem erwachsenen Protagonisten sagt die dritte Frauengestalt, dass sie die richtige Ansprechpartnerin ist, wenn Lebensrätsel ihn bestürmen. Sie spinnt auch die Gedankenfäden in Lebenslabyrinthen und in Seelentiefen. Sie ist also die Schicksalswirkerin und damit die tatsächliche Wunscherfüllerin, denn sie muss die Möglichkeiten bereitstellen, die vom Menschen mit seinem normalen Tagesbewusstsein dann genutzt werden können. Sie hat einen Wunderwebstuhl und wirkt die Lebensliebesstrahlen. Der Webstuhl ist Bild des Astralleibs, des Schicksalsleibes. Liebe ist die letzte der christlichen Tugenden, die höchste, (Korinther 13,13) wie Paulus sagt. Lebensliebesstrahlen wirkt die dritte, denn vom Ziel her betrachtet ist jedes schwere Schicksal eine Liebesgabe, eine Wunscherfüllung unseres auf unsere Höherentwicklung hinstrebenden geistigen Wesens.