29 c
Sich selbst des Denkens Leuchten
Im Innern kraftvoll zu entfachen,
Erlebtes sinnvoll deutend
Aus Weltengeistes Kräftequell,
Ist mir nun Sommererbe,
Ist Herbstesruhe und auch Winterhoffnung.
Das dritte apokalyptische Siegel — das Buch mit den sieben Siegeln und die vier Reiter
Das dritte apokalyptische Siegel im Jahreskreis (in Ei-Orientierung)
Das Mantra 29 c ist das Dritte im Winter-Halbjahr und steht deshalb mit dem dritten apokalyptischen Siegel in Beziehung. Das Siegelbild zeigt im Zentrum das Buch der Apokalypse mit den sieben Siegeln. Hierin ist die Weisheit der Welt, das harmonische Zusammenspiel aller Kräfte beschlossen. Rudolf Steiner sagt dazu: „Das dritte Siegel stellt die Geheimnisse der sogenannten Sphärenharmonie dar. … Die posaunenblasenden Engel des Bildes stellen die geistigen Urwesen der Welterscheinungen dar; das Buch mit den sieben Siegeln deutet daraufhin, daß sich in den Erlebnissen, die in diesem Bilde veranschaulicht sind, die Rätsel des Daseins «entsiegeln». Die «vier apokalyptischen Reiter» stellen die menschlichen Entwickelungsstufen durch lange Erdenzyklen hindurch dar.“ (Lit.: GA 34, S. 598) Das Pferd ist das Bild des Denkens, das der Mensch zu reiten und zu zügeln lernen muss.
An anderer Stelle sagt er: „Die posaunenblasenden Engel stellen die geistigen Urwesen der Welterscheinungen dar; die Posaunentöne selbst die Kräfte, die von diesen Urwesen aus in die Welt strömen und durch welche die Wesen und Dinge aufgebaut und in ihrem Werden und Wirken erhalten werden. Die «apokalyptischen Reiter» stellen die Hauptentwicklungspunkte dar, durch welche eine Menschenindividualität im Laufe vieler Verkörperungen durchgeht und die sich auf dem Astralplan in den Reitern auf den Pferden darstellen: ein weißglänzendes Pferd, eine sehr frühe Stufe der Seelenentwicklung ausdrückend; ein feuerfarbenes Pferd, auf die kriegerische Entwicklungsstufe der Seele deutend; ein schwarzes Pferd, entsprechend jener Seelenstufe, wo nur das äußere physische Wahrnehmen der Seele entwickelt ist; und ein grünschimmerndes Pferd, das Bild der reifen Seele, welche die Herrschaft über den Leib hat (daher die grüne Farbe, welche sich als Ausdruck der von innen nach außen wirkenden Lebenskraft ergibt).“ (Lit.: GA 284, S. 93)
Die Reiter des Siegels reiten auf drei Sterne zu – auf drei Zukunftsziele, die bereits veranlagt sind. Zwar habe ich für dieses Siegel keine Aussage Rudolf Steiners zu den Sternen des Bildes gefunden, an anderen Stellen finden sich jedoch ausführliche Beschreibungen Rudolf Steiners zur Bedeutung dieser Sternenzeichen. Der Fünfstern, das Pentagramm zeigt Strömungen des Ätherleibes und dem Sechsstern, dem Hexagramm entsprechen Strömungen des Astralleibes. Den Siebenstern, das Heptagramm, so wie er hier gezeichnet ist, nennt Rudolf Steiner das mystische Lamm. Dieses Zeichen kann deshalb als Kraftströmungen des Ichs aufgefasst werden.
Wozu ruft mich das Mantra 29 c auf?
Das Mantra 29 c beginnt mit der kraftvollen Aufforderung: “Sich selbst … im Innern …” Es beginnt also mit einer Eigenermächtigung im Innern. Erst gegen Ende des Mantras wird deutlich, dass es einen Ich-Sprecher gibt, der sich selber aufruft, des Denkens Leuchten zu entfachen, aktiv zu denken. Damit bin ich als Leser es selbst, der diese Aufforderung ausspricht. Ich fordere mich auf, meinen Geist willentlich denkend zu betätigen. Und noch ein Zweites bewirkt dieser Anfang: Indem das Mantra in der neutralen 3. Person beginnt, stelle ich mich als Ich-Sprecher mir selbst gegenüber und betrachte mich von einer höheren Warte aus.
Sich selbst gegenüber zu stehen, gehört unmittelbar zur Erfahrung von klarem Denken. Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) schreibt: „Die Intelligenz, als solche, sieht sich selbst zu; und dieses sich selbst Sehen ist mit allem, was ihr zukommt, unmittelbar vereinigt, und in dieser unmittelbaren Vereinigung des Seyns und des Sehens besteht die Natur der Intelligenz. Was in ihr ist, und was sie überhaupt ist, ist sie für sich selbst; und nur, inwiefern sie es für sich selbst ist, ist sie es, als Intelligenz.“ (Lit.: Johann Gottlieb Fichtes Sämtliche Werke, 1845, S. 435)
“Des Denkens Leuchten” kann auf zweifache Art verstanden werden. Zum einen kann es das Leuchten des Denkens bedeuten. Dann ist “Leuchten” ein substantiviertes Verb und sagt aus, dass das Denken leuchtet, dass vom Denken Licht ausgeht. Zum anderen kann “Leuchten” die Mehrzahl von Leuchte sein. Dann erscheinen in der Vorstellung mindestens zwei Leuchten, die zum Denken gehören. Beide Varianten sind plausibel.
Wenn “des Denkens Leuchten” auf die zweite Art verstanden wird, sind es mindestens zwei. Nach meinem Dafürhalten sind damit die beiden Gehirnhälften gemeint, durch die wir über zwei unterschiedliche Denkweisen verfügen. Durch die linke Gehirnhälfte können wir an Tatsachen orientiert, linear, abstrakt, logisch und strukturiert die Realität erfassen. Durch die rechte Gehirnhälfte können wir bildhaft, ganzheitlich, assoziativ, phantasievoll und kreativ neu-schöpferisch geistig tätig sein. Demzufolge fordert mich der erste Halbsatz des Mantras dazu auf, beide Arten geistiger Aktivität kraftvoll, also aktiv und willenshaft, zu gebrauchen.
Und warum wird das Bild der Leuchte, der Fackel gewählt, die entfacht, entzündet werden muss? Rudolf Steiner betont, dass es ein Denken gibt, das an das Gehirn gebunden ist, und ein anderes. Im Bild der brennenden, lichtspendenden Leuchte sehe ich das freie Denken im Sinne Rudolf Steiners. In der noch nicht entzündeten Leuchte hingegen das ans Gehirn gebundene Denken im Sinne des folgenden Zitates: „Mit diesem Denken hat es nämlich folgende Bewandtnis. Dieses Denken, das also jede Seele heute in sich als eine Kraft haben kann, hat gewissermaßen zwei Gesichter, ist ein Januskopf. Dieses Denken ist entweder vom Gehirn abhängig, bringt nur dasjenige als Gedanken zum Bewußtsein, was sich im Gehirn, im Nervensystem spiegelt. Dann ist dieses Denken mehr passiv, ist ein solches Denken, das sich anlehnen will an das Instrument des Gehirns. Oder aber dieses Denken kann sich schon einfach — ohne irgendwelche Meditation — durch inneres Aufraffen, dadurch daß es seiner selbst in seiner wahren Wesenheit sich bewußt wird, daß es sich losreißen will von der Anlehnung an das Gehirn, freimachen: dann ist es ein mehr aktives Denken.
Beides sind Seiten des gesunden menschlichen Denkens, wie es heute jede Seele haben kann. Denken ist in jeder Seele, aber es kann in zweifacher Weise benutzt werden. Zunächst so: der Mensch kann sich in sich selber erkraften, kann in sich selber Gedanken prägen. Dann ist dieses Denken in seiner Aktivität so, daß es voll entgegenkommt allem, selbst den scheinbar gewagtesten Behauptungen der Geistesforschung. Wenn aber dieses Denken sich nicht erkraften will, nicht in seiner Aktivität sich erfassen will, dann muß es sich anlehnen an das Instrument des Denkens, das Gehirn, dann bringt es überhaupt nur Gedanken hervor, die mit dem Instrument des Gehirns erfaßt werden, dann denkt der Mensch nicht aktiv, dann denkt er passiv.
Wichtiger fast als jede andere — allerdings nicht für die unmittelbare Gegenwart, sondern für die Zukunft — ist die Einteilung in aktive Denker und passive Denker. Diejenigen, die etwas von selbständigem, innerlich freiem Denken in sich erkraften, die aktiv denken können, werden schon durch den Trieb dieses Denkens herzugedrängt zu der geisteswissenschaftlichen Forschung. Diejenigen, die nicht tätig denken wollen, sondern nur in Abhängigkeit vom Gehirn, werden sagen, die anthroposophische Forschung ist Phantasterei, weil sie keinen Begriff haben von dem, was in einem freien Denken erfaßt werden kann, weil sie hingegeben sein wollen an das Instrument des Gehirns. So daß man sagen kann, daß sie nicht in sich selbst denken wollen, nur in sich für sich selber denken lassen.“ (Lit.: GA 152, S. 51f)
Der Ich-Sprecher des Mantras fordert sich also auf, sich selbst diese Denk-Leuchten zu entfachen — aktiv zu denken, beziehungsweise sein Denken leuchten zu lassen. Um denken zu können, muss der Aufbauprozess des Lebens in den Abbauprozess, der Bewusstsein erzeugt und der einem Verbrennen entspricht, umgewandelt werden. Das Bild der lichterzeugenden Flamme entspricht der eigenen Wahrnehmung im Denkprozess. Wir sagen: “mir ist ein Licht aufgegangen”, wenn ein neuer, erhellender Gedanke aufscheint.
Nachdem das in diesem Mantra im Zentrum stehende Denken charakterisiert wurde durch die (beiden) zu entfachenden Denk-Leuchten (bzw. durch das zu entfachende Denk-Leuchten), wird nun gesagt, worüber gedacht werden soll: Das Erlebte soll sinnvoll gedeutet werden. Das Erlebte ist das, was von außen an uns herangetragen wird, die Wahrnehmungswelt und die auf uns wirkenden anderen Lebewesen. Sie bilden das, was wir im Leben erleben, was unser Schicksal bildet. Dieses durch ein Lebewesen Erfahrene, das Erlebte, sollen wir sinnvoll deuten.
Geht das überhaupt? Sind die Ereignisse des Lebens immer sinnvoll? Oder dirigiert nicht vor allem Zufall, was wir erleben? Das Mantra beantwortet die Frage, ob Erlebnisse einen Sinn haben, mit einem deutlichen Ja! Rudolf Steiner sagt: “Wer das richtige Gefühl erlangen will gegenüber dem Denken, der muß sich sagen: Wenn ich mir Gedanken machen kann über die Dinge, wenn ich durch Gedanken etwas ergründen kann über die Dinge, so müssen die Gedanken erst darinnen sein in den Dingen. Die Dinge müssen nach den Gedanken aufgebaut sein, nur dann kann ich die Gedanken auch herausholen aus den Dingen.” (Lit.: GA 108, S. 259) Auf mein Leben, mein Erlebtes bezogen bedeutet dies, wenn in meinen Erlebnissen ein Sinn erkennbar sein soll, muss dieser im Gang der Ereignisse bereits enthalten sein. Der Sinn ist keine Hinzufügung des Denkens.
Das Erlebte soll aus dem Kräftequell des Weltengeistes sinnvoll gedeutet werden. Es handelt sich um Kräfte, die dem Weltengeist entquellen, und weil dieselben das Leben weisheitsvoll arrangieren, kann das Leben im Nachhinein sinnvoll, also weise, gedeutet werden. Doch was ist der Weltengeist und was ist sein Kräftequell? Schon einmal spielte der Weltengeist im Seelenkalender eine Rolle. Im Mantra 24 X strebte er fort. Dieses Mantra spiegelt mit dem gegenwärtigen Mantra 29 c. Dadurch kann ich annehmen, dass der Weltengeist nun eine entgegengesetzte Bewegung vollzieht: er naht sich, und zwar durch die ihm entquellenden Kräfte. Und was ist nun mit dem Kräftequell des Weltengeistes wirklich gemeint? Mit dem Wort Quell ist das Bild des strömenden Wassers verbunden. Eine Vielzahl an Kräften entströmt — gleich mehreren Flüssen — diesem Quell. Den Weltengeist verstehe ich als das Weisheitsprinzip in der Welt. Die aus dem Weltengeist hervorquellenden Kräfte erlebe ich als die Zeit. Sie ist kein monotones, gleichförmiges Strömen, sondern eine Vielzahl weisheitsvoll zusammenwirkender Kräfte. Im Frühling wirken sie ganz anders als im Herbst. Der Seelenkalender eröffnet eine noch weit differenziertere Sicht auf die wirkenden Kräfte im Jahreslauf. Dem Weltengeist entströmen 52 Wochen-Kräfte, die mir die sinnvolle Deutung meines Lebens ermöglichen, weil sie beim Zustandekommen meiner Erlebnisse wirksam beteiligt waren. Schließlich spielt sich jedes Geschehen zu einem bestimmten Zeitpunkt, mithin in einer bestimmten Woche ab.
Die sinnvolle Deutung meiner Erlebnisse erschließt sich mir in drei Schritten. Sie ist mir Sommererbe, Herbstesruhe und auch Winterhoffnung. Sie vollzieht sich qualitativ verschieden, je nachdem welcher Zeitraum in den Fokus gerückt wird. Für das Mantra 29 c liegt der Sommer in der Vergangenheit. Der Sommer ist das Gewesene, das Erbe. Das Sommererbe beschreibt das Erlebte als Vergangenes. Herbst ist Gegenwart und Herbstesruhe ist die seelische Ausgeglichenheit des Gewahrseins der Gegenwart. Herbstesruhe beschreibt, wie das Erlebte als gegenwärtig durchlebte Erinnerung erfahren wird. Zukunftsorientierung zeigt sich in der Winterhoffnung, der Hoffnung auf einen Neubeginn im Frühling. Zur Winterhoffnung wird das Erlebte, wenn es innerlich verarbeitet ist und dadurch zu einem Reifungs- und Wachstumsprozess der Seele beigetragen hat.
Die Bedeutung von Sommererbe, Herbstesruhe und Winterhoffnung geht jedoch über die situative Aussage hinaus. Das Sommer-Halbjahr steht für den Wahrnehmungsbereich der Seele, wie Rudolf Steiner in der Einleitung der ersten Ausgabe des Seelenkalenders deutlich macht: “Es kann vielmehr fühlen der Mensch sein an die Sinne und ihre Wahrnehmungen hingegebenes Wesen als entsprechend der licht- und wärme-durchwobenen Sommernatur.” Seine Erlebnisse in Form von Wahrnehmungen hat der Denk-Mensch vom Sommer geerbt. Sie bedeuten sein Sommererbe. Herbstesruhe bringt ins Bild, wie diese Wahrnehmungen aus der Vergangenheit in innerer Ruhe, in meditativer Versenkung ohne Vorurteile gedeutet werden sollten. So wie sich ein Blatt oder eine reife Frucht vom Baum löst, soll auch die Deutung dem Ich-Sprecher einfallen. Gelingt dies, wird das Erlebte zur Winterhoffnung, zur Hoffnung auf einen neuen Anfang, auf einen inneren Frühling. Winter bedeutet jedoch noch mehr als nur die Tatsache, ein Übergang zum Frühling zu sein. Die Tatsache wirklich reifer Deutung des eigenen Schicksals verändert das Selbstbild, sie gleicht einer inneren Neugeburt. Die Winterhoffnung ist deshalb dann auch die Hoffnung auf die Geistgeburt im Innern, das gegenwärtige, lebendige Erlebnis der Christgeburt im eigenen Herzen. Angelus Silesius spricht es so aus: “Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.” Ein solches Neuwerden ermöglicht, in der Zukunft auf neue Art zu handeln.
Im Buddhismus gibt es einen zentralen Dreischritt, der meiner Meinung nach den drei Bild-Worten Sommererbe, Herbstesruhe und Winterhoffnung entspricht. Das sind: Sichtweise, Meditation und Handlung. Als Viertes tritt die Frucht, das Ergebnis der Handlung hinzu, ihre befürchtete (negative) karmische Folge. Diese Schritte sind die Grundlage des Vajrayana Buddhismus. Auch wenn die übermittelten Erklärungen dieser Begriffe im Buddhismus viel umfangreicher sind und sich auf die Lehre der Erleuchtung beziehen, so lassen sich darin doch die oben schon beschriebenen Erkenntnisschritte wiederfinden: Sicht ist unschwer als die Wahrnehmung, als das Sommererbe erkennbar. Herbstesruhe verdeutlicht, die Seelenhaltung der Meditation. Und was als Handlung aus der neuen, durch Meditation gewonnenen Geisteshaltung folgt, ist eine Handlung, die dem Guten dienen möchte. Sie weckt die begründet Hoffnung auf einen ebenso guten Fortgang des Schicksals — sowohl für den Einzelnen als auch für die Welt. Im Vajrayana Buddhismus tritt hier die Furcht vor den karmischen Folgen der Handlungen hinzu. Diese Furcht steht in direktem Gegensatz zur Hoffnung des dritten Schrittes, zur Winterhoffnung. Darin zeigt sich ein Unterschied zwischen dieser buddhistischen Lehre und dem von Rudolf Steiner vermittelten Christentum: “Und zwar lehrt uns die okkulte, die hellseherische Forschung, daß in unserm Zeitalter das Wichtige eintritt, daß der Christus der Herr des Karma für die Menschheitsentwickelung wird. .… Und je mehr dieses Gefühl, das eine erhöhtere Bedeutung noch haben wird als das abstrakte Gewissen, sich ausbilden wird, desto mehr wird die Äthergestalt des Christus in den nächsten Jahrhunderten sichtbar werden.“ (Lit.: GA 131, S. 77ff) Das Schauen des ätherischen Christus in unserer seelisch winterlich kalten Welt ist tatsächlich Winterhoffnung.
Noch im Mittelalter, so sagt Rudolf Steiner, erlebten die Menschen entsprechend der buddhistischen Ansicht die Strenge des Gesetzes. „Wenn der Mensch durchgegangen ist durch die Pforte des Todes und durchlebt hat jene Zeit, in welcher er Rückschau halten kann auf das bisherige Erdenleben, durchlebt hat die Zeit bis zu dem Punkt, da er den Ätherleib abgelegt hat, wenn der Mensch übergeht in die Kamaloka-Zeit, dann tritt er vor zwei Gestalten hin. Gewöhnlich wird nur eine von diesen erwähnt, aber wir können der Vollständigkeit halber sagen: Es tritt der Mensch vor seiner Kamaloka-Zeit vor zwei Gestalten hin, das gilt allerdings nur für die Menschen des Abendlandes und für alle diejenigen Menschen, welche mit der Kultur dieses Abendlandes in den letzten Jahrtausenden einen Zusammenhang gehabt haben. Moses ist die eine – der Mensch weiß ganz genau, daß er Moses gegenübertritt –, die ihm vorhält die Gesetzestafeln, im Mittelalter nannte man es «Moses mit dem scharfen Gesetz», und der Mensch hat ganz genau in seiner Seele das Bewußtsein, inwiefern er bis in das Innerste seiner Seele abgewichen ist von dem Gesetz. Die andere Gestalt ist diejenige, die man nennt «den Cherub mit dem feurigen Schwert», der da entscheidet über diese Abweichung. Das was da dem Menschen entgegentritt durch diese zwei Gestalten, es stellt gewissermaßen das karmische Konto fest. Diese Tatsache geht in unserer Zeit einer Änderung entgegen. Es wird der Christus der Herr des Karma. Nehmen wir an, irgendein Mensch hätte dieses oder jenes Böse getan, so muß er ein Gutes tun, welches ausgleicht das Böse. Aber dieses Gute, das kann er in zweifacher Weise tun, so daß es für ihn die gleiche Anstrengung bedeutet, wenn es nur wenigen Menschen zugute kommt oder so, daß es für ihn die gleiche Anstrengung bedeutet, wenn es vielen Menschen zum Heile gereicht. Daß unser karmisches Konto in der Zukunft so ausgeglichen wird, das heißt in eine solche Weltordnung hineingestellt wird gegen die Zukunft, wenn wir den Weg zum Christus gefunden, daß die Art unseres karmischen Ausgleiches das größtmöglichste Menschenheil für den Rest der Erdentwickelung hervorrufe, das wird die Sorge Christi sein. Mit dieser Übertragung des Richteramtes über die menschlichen Taten an den Christus ist aber verknüpft, daß dieser Christus auch unmittelbar eingreift in die menschlichen Geschicke. Die Menschen werden nach und nach die Fähigkeit erringen, den karmischen Ausgleich, die ausgleichende Tat, die in der Zukunft geschehen muß, zu schauen wie im Traumbilde.“ (Lit.: GA 130, S. 165ff) So wie das Schauen des ätherischen Christus in unserer modernen, seelisch winterlich kalten Welt tatsächlich Winterhoffnung ist, so bedeutet auch die Wendung zum größtmöglichen Guten des eigenen Schicksals, begründet Hoffnung haben zu können.
Ergänzung
Sommererbe, Herbstesruhe und Winterhoffnung gehen hervor aus der sinnvollen Deutung des Erlebten unter Zuhilfenahme des Kräftequells des Weltengeistes. Für mich bedeuten diese drei Bilder nicht nur Zeitqualitäten und Erkenntnisstationen. Sie weisen hin auf die drei höheren Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen: Imagination, Inspiration und Intuition. Die vielen Wahrnehmungen z.B. der Natur können sich als Erbe des Sommers zum Urbild verdichten und Imagination, geistiges Bild werden. In der Herbstesruhe lässt sich der Stille und den daraus hervortönenden Inspirationen lauschen. So wie der Herbst das Skelett der Bäume, das Astwerk hinter dem Gewoge der Blätter zur Erscheinung bringt, gelingt der Inspiration die Erkenntnis der Strukturen, das Lesen der okkulten Schrift, wodurch die Imaginationen erst verständlich werden. Winterhoffnung bedeutet die Hoffnung auf Wesensbegegnung, auf Begegnung mit den Wesen der geistigen Welt und der unmittelbaren Kommunikation mit diesen durch Intuition. Die Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch nicht nur irdischer Mensch, sondern auch Geistwesen ist, dass er das innere Weihnachtsereignis, das sich jederzeit ereignen kann, erfahren hat.