35 i
Kann ich das Sein erkennen,
Dass es sich wiederfindet
Im Seelenschaffensdrange?
Ich fühle, dass mir Macht verlieh´n,
Das eigne Selbst dem Weltenselbst
Als Glied bescheiden einzuleben.
Advent
Mit dem Vorabend des ersten Advent beginnt das neue Kirchenjahr, ein neuer Zyklus der kirchlichen Feste. Advent kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Ankunft. Das Wort stammt aber ursprünglich von dem griechischen Wort epipháneia, das Erscheinung bedeutet. Im Römischen Reich bedeutete das Wort Ankunft, Besuch eines Königs in der Stadt oder Erscheinung eines Gottes im Tempel. Advent ist sowohl die Vorbereitungszeit auf das Fest der Geburt Christi, als auch eine Zeit, die besonders der Erwartung der Wiederkunft Christi gewidmet ist. Die Zahl der vier Sonntage im Advent legte Papst Gregor der Große (um 540 – 604) für die Westkirche fest. Sie standen symbolisch für die viertausend Jahre seit dem Sündenfall, die die Menschheit nach damaliger Auffassung auf den Erlöser gewartet hatten. In der Ostkirche umfasst die Adventszeit als vorbereitende Fastenzeit (Weihnachtsfasten) sechs Sonntage. Sie dauert 40 Tage und geht deshalb vom 15. November bis zum 24. Dezember. (Richtet sich die Kirche nach dem Julianischen Kalender, geht die Fastenzeit vom 28. November bis 6. Januar.)
Im Frühchristentum (wohl ab dem 4. Jahrhundert) wurde zur Vorbereitung der Geburt Jesu 40 Tage gefastet, allerdings ohne Samstag und Sonntag. So begann diese Zeit am Sankt Martinstag am 11. November und ging bis zur Erscheinung des Herrn am 6. Januar, dem ursprünglichen Fest der Geburt. So ergaben sich in den acht Wochen (56 Tage vom 11. 11. bis zum 6. 1.) 40 Fasttage.
Der Advent, wie wir ihn feiern, ist in seiner Länge variabel. Sein Anfang ist immer der erste Adventssonntag, doch Heiligabend, der letzte Adventstag, ist Datums-fixiert. Fällt Heiligabend auf einen Sonntag, ist dies gleichzeitig der 4. Adventssonntag. Dann ist die Adventszeit am kürzesten, genau 22 Tage und beginnt erst am 3. Dezember. Fällt Heiligabend dagegen auf einen Samstag, ist sie am längsten, genau 28 Tage und beginnt schon am 27. November.
Das Mantra, das Rudolf Steiner mit: “Weihe-Nacht-Stimmung” überschrieben hat, ist 38 m. Damit ist dies auch das Mantra der 4. Adventswoche, denn Heiligabend fällt immer in diese Woche. Sergej O. Prokofieff stellt die Adventszeit als Weg in das Allerheiligste im Menschen dar, der von außen nach innen durch die menschlichen Wesensglieder führt. Die Themen der Mantren bestätigen dies:
35 i 1. Advent das Sein erkennen physischer Leib
36 k 2. Advent Weltenwort-Spruch Ätherleib
37 l 3. Advent Geisteslicht, Seelenkeime Astralleib
38 m 4. Advent und Heilig Abend Geisteskind entzaubert Hüter der Schwelle (Ich)
Adventssonntage und Wesensglieder: S. O. Prokofieff, Der Jahreskreislauf als Einweihungsweg, 1986, S. 45ff
Was erkenne ich durch das Mantra 35 i?
Nur zwei Mantren im Seelenkalender stellen eine Frage — und das Mantra 35 i ist eines davon. Dieses Mantra fragt: “Kann ich das Sein erkennen …?” Kann ich das Sein sehen, wirklich sehen, sodass ich es erkenne? Das Mantra 18 R ist das andere Mantra, das ebenso mit einer Frage beginnt. Es fragt, ob ich hören kann: “Kann ich die Seele weiten, dass sie sich selbst verbindet empfangnem Welten-Keimesworte?” Kann ich die Seele so vorbereiten, dass sie sich mit dem schon aufgenommenen Welten-Keimeswort verbinden kann — dass sie das Wort nicht nur hören, sondern auch verstehen kann? Nach innen in die Seele hinein lausche ich. Das Welten-Keimeswort spricht innen. Die äußere Welt und damit das Sein erschließt sich dagegen vorranging durch den Seh-Sinn.
Kann ich also das Sein erkennen? Kann ich das Gewordene sehen? Gelingt es mir wirklich hinzuschauen? Und verstehe ich, was ich sehe? Dringt die Wahrnehmung unverfälscht bis in mein Bewusstsein vor? Oder schieben sich wie ein Filter Vor-Urteil um Vor-Urteil, Reste alter, veralteter und überlebter Urteile vor die ursprüngliche Wahrnehmung des Seins? Kann ich mich davon frei machen und das Sein tatsächlich erkennen, wie es aus sich selbst heraus ist?
Nun, das ganze Leben ist ein Erkennen des Seins. Immer wieder wird vom Menschen die Anerkennung unabänderlicher Tatsachen gefordert. Hinter dem Gewordenen stehen die Gesetze des Werdens. Auch sie gehören zum Sein. Anthrowiki.at definiert Sein folgender maßen: “Das Sein (griech. είναι einai; lat. esse; eng. being; skrt. सत् sat) umfasst im weitesten Sinn alle geistigen, seelischen und physischen Weltbereiche in ihrem ideell wesenhaften Sosein (Essenz) und — als Seiendes (griech. to on; lat. ens) — in ihrem als realen Dasein (Existenz; eng. existence) Vorhandenes. Das Sein als solches wird dabei als zeitlos ungeworden und unvergänglich gedacht, während Seiendes dem Werden und Vergehen unterliegt. Gott bzw. der Geist an sich ist in diesem Sinn kein Seiender, sondern ein Über-Seiender, der allen geschaffenen Dingen und Wesen das Sein verleiht (ens ab alio), denn er ist das ens a se, das Sein-aus-sich-selbst.”
Kann ich also das zeitlos ungewordene und unvergängliche Sein und dadurch erst in der Tiefe auch das Gewordene, das werdende und vergehende Seiende, erkennen? Erkenne ich, was die Welt im Innersten zusammenhält? („Dass ich erkenne, was die Welt // Im Innersten zusammenhält.“ — Johann Wolfgang von Goethe, Eine Tragödie. Faust I (1808), Vers 382 f.) Darauf zielte auch Faust, musste aber erkennen, dass die gewöhnliche Wissenschaft hier nicht weiterhilft. Eher gibt das Sinnbild des Adventskranzes mit seinen vier Kerzen darauf Antwort: Im grünen Kranz lässt sich das zyklisch sich erneuernde Leben erkennen, das sich im Jahreslaufe immer von Neuem entfaltet. Die vier Kerzen stehen für die vier Naturreiche, und im Menschen für die vier Wesensglieder: Ich, Astralleib, Ätherleib und physischer Leib, die zusammen das Leben gestalten. Das Mantra fragt mich also, ob ich im Jahreskreis der Seelenkalender-Mantren das Walten des zeitlos Ewigen erkennen kann, aus dem das Gewordene des äußeren Jahreslaufes hervorgeht.
Das Erkennen ist im Mantra jedoch kein Selbstzweck. Es hat ein Ziel: Mein Erkennen soll sich wiederfinden im Schaffensdrang meiner Seele. Die schöpferischen Prinzipien, durch die zum Beispiel das bis ins kleinste Detail ausgewogene Zusammenwirken der Ökosysteme entsteht, diese Prinzipien sollen sich auch im Schöpfungsdrang meiner Seele wiederfinden. Nur so wird das, was durch mich in die Welt tritt, in Harmonie stehen mit dem großen Ganzen. Kann ich das Sein so erkennen, dass ich diese Harmonie gewährleisten kann? Kann ich das Sein erkennen, sodass mir der dahinterstehende wirksame Geist begegnet — und kann ich den Schaffensdrang meines eigenen Geistes nach den universellen Gesetzen des Seins ausrichten? Kann mein Geist dem Geist des Seins auf Augenhöhe begegnen, weil wir eins im Geiste sind?
Wenn mir das gelingt, dann fühle ich Macht. Nun bin ich nichtmehr gefordert, wie wesensfremd nur erkennend dem Sein gegenüberzustehen, nun fühle ich auch — und bin schon dadurch anders mit dem Sein verbunden als vorher — ich fühle, dass mir Macht verliehen ist. Die Macht ist mir gegeben worden von höherer Instanz — nicht als mein Besitz, sondern als Leihgabe. Das, worüber ich Macht habe, liegt in meinem Einflussbereich, in meinem “Königreich”. Was ist das, worüber ich Macht verliehen bekam? Ich fühle, dass mir die Macht verliehen ist, mein eigenes Selbst in das Weltenselbst zu integrieren, es in das Leben des Weltenselbst einzugliedern — und dadurch das Weltenselbst zu bereichern.
Wer oder was ist das Weltenselbst? So wie mein Körper mir die Möglichkeit gibt, mich als Selbst zu erleben, so ist auch die ganze Welt Leib eines Wesens, das auf dieser Grundlage sein Selbst erlebt. Ich könnte mir denken, dass Goethe dieses Wesen im Erdgeist dargestellt hat. Faust hatte die Macht, den Erdgeist heraufzubeschwören, doch fehlte ihm die Kraft diesem auch gegenüberzustehen. Die Macht war ihm nicht gegeben worden, er hatte sie sich angemaßt. Im Mantra wird die Reife zuerst erfragt. Danach fühlt der Ich-Sprecher sie — ich fühle die Macht, sie ist da, sie wurde mir zuerkannt. Stand ich in der Frage erkennend dem Sein gegenüber, bin ich nun auch fühlend verbunden. Wesen begegnet Wesen. Mein Selbst begegnet dem Weltenselbst “Aug in Auge”.
Mein Selbst, das nach der Erkenntnis des Seins nichtmehr das gewöhnliche Alltagsselbst, sondern mein höheres Selbst ist, wurde von Rudolf Steiner sieben Jahre vor dem Erscheinen des Seelenkalenders in einem zur Meditation empfohlenen Spruch folgendermaßen charakterisiert (GA 94, Esoterische Stunde in Berlin am 24.10.1905, S. 85):
Strahlender als die Sonne
Reiner als der Schnee
Feiner als der Äther
Ist das Selbst,
Der Geist in meinem Herzen.
Dies Selbst bin Ich,
Ich bin dies Selbst.
Dann kann ich lesen: Meinem reinen, strahlenden Geist wurde die Macht verliehen, sich in den strahlenden Geist der Welt einzuleben und fürderhin mit ihm mitzuleben. Bescheidenheit gehört zu diesem sehr besonderen Prozess, denn der einzelne menschliche Geist ist um so vieles kleiner und trotz allem unwissender als der umfassende Geist des Weltenselbst. Das Mantra schildert die Möglichkeit und den Prozess, ein Glied eines weit größeren Organismus zu werden, als ich es gegenwärtig bin. Dadurch verwirklicht sich die Einheit mit allem Sein, aus der wir mit dem Sündenfall verstoßen wurden.
Unser Körper gibt uns ein Vorbild, wie dieses Einleben unseres Selbst in das Weltenselbst geschehen kann: Gewöhnlich wird vom Körper alles Fremde, das eindringt, bekämpft. Dies kann ein Bakterium oder ein Virus sein. Dieses Fremde harmoniert nicht mit unserem Sein. Es gibt aber auch die Darmbakterien, die uns maßgeblich bei der Verdauung helfen, sie erst möglich machen. Sie bescheiden sich auf ihre Aufgabe in unserem Körper und werden dringend gebraucht. Sie haben ihr eigenes Selbst dem menschlichen, in diesem Fall größeren Selbst eingelebt. Wenn ich mein Selbst dem Weltenselbst einleben will, ohne in diesem Schaden und Krankheit anzurichten, so muss ich das Sein wiederspiegeln können, so wie sich in einem Tropfen die ganze Welt spiegelt. Und ich muss meinen Platz und meine Aufgabe im Organismus kennen und ausfüllen.
Das Mantra wirkt wie eine Nahtstelle, bei der Altes an Neues grenzt, wie eine Nahtstelle zwischen einer abgeschlossenen Entwicklung und dem Geschehen, das kommen wird. Wie wird es wohl sein, wenn jeder Mensch ein sich bescheidendes Glied im lebendigen Organismus des Weltenselbstes ist?
Vor diesem Hintergrund beantwortet das Mantra die Frage, wessen Ankunft im Advent erwartet wird, nochmal auf neue und überraschende Weise. Wenn es das Ziel ist, dass sich das menschliche (Geist-)Selbst ins Weltenselbst bescheiden einlebt, dann erwartet das Weltenselbst den Menschen. Und zum ersten Advent fragt das Mantra jeden Leser, ob er auf dem Weg dorthin ist, um aufgenommen zu werden vom Geist-Selbst der Welt. Der hier beginnende Weg durch das Kirchenjahr ist immer aufs Neue das Angebot des Weltenselbstes, sich ihm einzuleben — in Seinserkenntnis und Harmonie von Innen und Außen den Jahreskreis zu durchschreiten, um sich Woche für Woche in neue Aspekte des Weltenselbst zu integrieren.