Froschkönig Brunnen, Foto 45/140 von MG
46 u
Die Welt, sie drohet zu betäuben
Der Seele eingeborene Kraft;
Nun trete du, Erinnerung,
Aus Geistestiefen leuchtend auf
Und stärke mir das Schauen,
Das nur durch Willenskräfte
Sich selbst erhalten kann.
Aschermittwoch und die Zahl 46
Mit Aschermittwoch beginnt die vorösterliche Fastenzeit. In der katholischen und zum Teil auch in der evangelischen Kirche empfangen die Gläubigen ein Aschekreuz mit den Worten: „Bedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst“ (Gen 3,19 EU) (lat. „Memento homo, quia pulvis es et in pulverem reverteris“) oder: „Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15 EU). Aschermittwoch ist ein Tag der Buße und der Umkehr, der Sinneswandlung und Demut.
Das Datum von Aschermittwoch ist im Sonnenkalender (dem am Sonnenstand orientierten Datums-Kalender) nicht fixiert, sondern richtet sich nach dem kommenden Osterfest. Das Osterdatum ergibt sich durch ein Zusammenspiel von Sonne und Mond und wird für jedes Jahr neu festgesetzt. Für die vor- und nachösterliche Zeit überlagert dadurch der Mondkalender den Sonnenkalender.
Das Datum von Aschermittwoch ergibt sich durch den Abstand zum kommenden Osterfest von genau 46 Tagen. Damit liegt Aschermittwoch stets in der siebten Woche vor Ostern. Diese, dem gleichmäßig verlaufenden reinen Sonnenjahr hinzugesetzte fremde Energie des Osterimpulses zeigt sich in Aschermittwoch das erste Mal der Welt.
Aschermittwoch ist der erste Vorbote des Osterfestes. Bei genauerer Betrachtung dieses Tages zeigt sich, dass die Wahl gerade dieses Tages kein Zufall sein kann. Aschermittwoch ist ebenso viele Tage vom kommenden Osterfest entfernt, wie in Wochen gezählt (ohne Anpassung) seit dem letzten Osterfest vergangen sind. Bis Ostern sind es noch 46 Tage (sechs Wochen und vier Tage [42 + 4] einschließlich Aschermittwoch). Gleichzeitig liegt Aschermittwoch in der Woche des Mantras 46 u, was gleichbedeutend ist mit 46 Wochen-Schritten seit dem letzten Osterfest, denn dort begann die Zählung der Mantren. So zeigt sich, dass Aschermittwoch wie ein Januskopf den Vorblick in die Zukunft mit der Erinnerung an die Vergangenheit in sich vereinigt. Dadurch wird die dem Mittwoch immer eigene Qualität, eben die Mitte der Woche zu bilden, nochmals gesteigert. An jedem Mittwoch schauen wir auf drei Tage der Woche zurück und drei weitere Tage liegen in dieser Woche noch vor uns. Dass also Sonntag der erste Tag der Woche — der Wochen Beginn — ist: das impliziert in der deutschen Sprache der Mittwoch. Nicht nur die Woche, auch das Osterjahr beginnt stets an einem Sonntag, dem Ostersonntag.
Im Nachsinnen über die Zahl “46” kamen mir Gedanken, die zeigen, dass auch die Zahl und ihre zwei Ziffern das Thema des Mantras ausdrücken.
Drei Aspekte erscheinen mir aussagekräftig:
In der 46 vereinen sich die Ziffern vier und sechs. Die Vier wird immer als eine irdische Zahl erachtet, die Sechs als eine himmlische. Als Quersumme ergeben sie die 10, die heilige Zahl der Pythagoreer.
Als Tetraktys bezeichneten die Pythagoreer die Summe aus den Zahlen 1, 2, 3 und 4. Man nahm an, dass die Vierheit die Zehn „erzeugt“. Sichtbar durch die zehn Finger und Grundlage des Dezimalsystems bildet die Zehn eine physische Vollkommenheit ab. Von den Pythagoreern wurde die Zehn “heilige Zahl” genannt und als „etwas Vollkommenes“ betrachtet. Es gab bei den Pythagoreern eine Eidesformel, die lautete: “Nein, bei dem, der unserer Seele die Tetraktys übergeben hat, welche die Quelle und Wurzel der ewig strömenden Natur enthält.”
Die Zahl 46 kann ich außerdem in Zehner und Einer zerlegen. Dann besteht sie aus der 40, dem Zehnfachen der mit der Erde verbundenen vier. Die 40 gibt jeder umfassenden Umwandlung und Neugeburt das Maß (siehe 40 o und 45 t). Es ist das Maß der Umwandlung dessen, was verborgen war, zu dessen Neugeburt auf Erden. Zu dieser auf die Erde, zur Erscheinung führenden 40 tritt die Sechs hinzu. Sie ist die Summe der drei “Ur-Zahlen” 1, 2 und 3 und beinhaltet die göttliche Triade von Vater, Mutter und Kind. Auch ausgehend von diesem Aspekt ist die 46 die Verbindung von irdischer Entwicklung und himmlischer Ursache.
Fasching, Karneval — das Spiel mit der Rolle
Der Fasching, Fasnacht oder Karneval endet traditionell mit Aschermittwoch. In der Faschingszeit ist es Brauch, die Identität zu wechseln und sich zu verkleiden. Wie alt die Fasnacht ist und aus welchem Fest sie hervorgegangen ist, weiß man nicht. Doch Vorläufer des Karnevals sind sehr alt. In Mesopotamien wurde bereits vor 5000 Jahren ein ähnliches Fest gefeiert. Eine altbabylonische Inschrift aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. besagt, dass unter dem Priesterkönig Gudea ein siebentägiges Fest nach Neujahr gefeiert wurde als symbolische Hochzeit eines Gottes. Die Inschrift besagt: „Kein Getreide wird an diesen Tagen gemahlen. Die Sklavin ist der Herrin gleichgestellt und der Sklave an seines Herrn Seite. Die Mächtige und der Niedere sind gleichgeachtet.“ Die Gleichheit aller Menschen und der Rollenwechsels wurden bei diesem Fest verwirklicht — so wie es auch beim Fasching als Ideal gilt.
Die Erinnerung — ein Du — wer könnte das sein?
Im Mantra wird die Erinnerung als Rettung aufgerufen. Es stellt sich die Frage, ob damit die Erinnerungsfähigkeit im Allgemeinen gemeint ist, oder eine konkrete Erinnerung, ein leuchtendes Erinnerungsbild, das aus Geistestiefen, aus der Vergessenheit wieder hochgeholt werden kann. Wenn letzteres zutrifft, fragt es sich, welches konkrete Bild hier gemeint sein könnte. Welches Erinnerungsbild hat die Macht, die drohende Betäubung der Welt abzuwenden? Was kann die Seele von der Wahrheit des Geistes überzeugen, wenn die Welt, die Materie, ihr glauben machen will, dass die materielle Form des Daseins die einzige Realität sei? Oder anders gefragt, was wussten die Menschen in alter Zeit, dass sie heute, überwältigt und betäubt vom Materialismus, vergessen haben?
Zu den ältesten Darstellungen des Menschen zählen die von Sibirien bis nach Spanien gefundenen sogenannten Venusfigurinen. (Den Namen Venus erhielten sie einzig und allein, weil sie unbekleidet sind.) Es handelt sich um nackte weibliche Frauenstatuetten, denen offensichtlich eine gemeinsame Idee zugrunde liegt, weshalb die Funde von den Archäologen mit einem gemeinsamen Namen belegt wurden. Für mich verkörpert die sogenannte Venus von Willendorf diese Idee am klarsten — und ich glaube, dass diese Idee die gesuchte Erinnerung darstellt.
Venus von Willendorf, ca. 29.500 Jahre alt, Seitenansicht
Die 1908 in Österreich, in der Nähe des Ortes Willendorf gefundene, ca. 11 cm große Figur ist knapp 30.000 Jahre alt. Sie stammt aus der Zeit vor der letzten Eiszeit, lange bevor die Menschen begannen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Der kritische auf Verbesserungen sinnende Verstand war noch nicht erwacht. Dies kleine Figur birgt die Erinnerung an einen Bewusstseinszustand, in dem sich die Menschen noch eins fühlten mit allem Sein.
Die Figur zeigt einen gesenkten Kopf mit ganz leerem Gesicht. Weder Augen noch Mund sind angedeutet. Die Dargestellte ist tief versunken in sich, ganz hingegeben dem gegenwärtigen Moment. Sie steht der Welt noch nicht urteilend gegenüber. Sie verkörpert das reine Sein. Auch die anderen gefundenen Frauenfiguren sind alle nackt, also unverhüllt und recht füllig, zur Kugelform tendierend. Häufig sind sie von vornherein ohne Kopf dargestellt.
Der Körper der Venus von Willendorf ist in seiner Rundheit so gebildet, dass ein Kreis sichtbar wird mit dem Bauchnabel als Mittelpunkt. Die auffallend dünnen Ärmchen liegen über den Brüsten und markieren den oberen Kreisbogen, die Knie deuten den unteren an. Die ganze füllige Körperlichkeit drückt die Idee der Kugel aus, Arme und Knie bringen einen Kreis zur Erscheinung. Doch, welchem Kreis verleiht die Figur Ausdruck? Auf welchen Kreis möchte der Künstler verweisen? Ein Kreis ist eine rein geistige Idee. Damals war das Rad als Veräußerlichung dieser Idee noch lange nicht erfunden. Die einzigen Kreise, die die Menschen damals erleben konnten, waren der Horizontkreis, die Lichterscheinung eines Halos und der Jahreskreis. Der Jahreskreis als Zyklus sich wiederholender Sonnenstände und Jahreszeiten bildet sich dabei nur im Geist ab, äußerlich ist er in der Gleichzeitigkeit aller Jahreszeiten nie zu sehen. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass der angedeutete Kreis der Venusfigurine den Jahreslauf darstellt, denn ihr Köper halbiert bzw. viertelt den Kreis, so wie wir es entsprechend unserer Klimazone auch im Jahr, in Halbjahr und Vierteljahr kennen.
Die Brüste stehen für das nährende Sommer-Halbjahr, die Oberschenkel für das Fortschritt bringende Winter-Halbjahr. Durch die beiden Brüste gliedert sich das Sommer-Halbjahr in die Vierteljahre von Frühling und Sommer, durch die Oberschenkel wird das Winter-Halbjahr in Herbst und Winter unterteilt. Frühling und Sommer sind es, die alles zur Erscheinung bringen. Ägyptische Darstellungen zeigen den Pharao, wie er Weisheit aus den Brüsten der Isis saugt. Das Sommer-Halbjahr steht für die Wahrnehmung — und aus der Wahrnehmung saugt der Mensch die Weisheit. Im Winter wurden traditionell die Kinder geboren. Da entwickelte sich die Gemeinschaft von Generation zu Generation — Schritt für Schritt. Auch wir feiern im Tiefwinter eine Geburt — die Christgeburt. Das Winter-Halbjahr steht für das Denken — das, als ein inneres Gehen von Urteil zu Urteil, dem roten Faden wie einem Weg folgend, erlebt werden kann.
Verstehe ich den Jahreslauf als den in der Venusfigurine angedeuteten Kreis, so macht die Figur einen geistigen Leib, einen Zeitenleib sichtbar, — den Leib einer großen Göttin.
Venus von Willendorf mit Jahreskreis
Sommer-Halbjahr rot, Winter-Halbjahr blau
Möglicherweise drückt sich in der Venus von Willendorf das Lebensgefühl des Menschen vor dem Beginn der neolithischen Revolution aus. Vielleicht fühlte sich der Mensch damals ruhend im Zeitenleib dieser Mutter-Göttin. Vielleicht fühlte er sich als ihr Erden-Kind und erlebte sich während des Frühlings und Sommers ihren nährenden Brustbereich durchwandernd und während des Herbstes und Winters in ihren Fortschritt bringenden Beinen lebend. In diesem göttlichen Zeitenleib konnte er sich geborgen erleben, solange sein Kopfbewusstsein schlief – so lange er kein zweifelndes, trennendes, kritisches und auf Verbesserungen sinnendes, sich den Erscheinungen gegenüberstellendes Denken entwickelte.
Auch wir Menschen der Gegenwart können dieses Lebensgefühl in uns hervorrufen. Den Jahreslauf gibt es nach wie vor. Er nimmt von ganz alleine das Bild des Kreises an. Wir können ihn als geistigen Leib erleben, als Zeitenleib der großen weiblichen Göttin, die alles Leben hervorbringt. Sie trägt uns tatsächlich in ihrem Leib, wie alle anderen Lebewesen auch. Niemand kann aus dem Strom der Zeit herausfallen, niemand kann gestern oder letztes Jahr leben. So gesehen sind wir ihr Kind und stets mit ihr vereint, ob wir davon Kenntnis nehmen oder nicht. Sich im Zeitenleib der großen Göttin zu erleben erfordert lediglich, den kritischen Kopf zum Schweigen zu bringen, den Trennung und Distanz erschaffenden Verstand schlafen zu lassen.
Den Jahreslauf als Leib eines mächtigen geistigen Wesens zu erleben, ist für mein Dafürhalten die mystische Begegnung mit der im Mantra angerufenen Erinnerung, die uns von der Betäubung durch die materielle Welt erretten kann. Diese Erinnerung hat eine gewaltige Kraft. Die Zeit ist unbestreitbar beobachtbar, wenn auch für kreatürliche Augen unsichtbar. Den Jahreslauf als Kreislauf zu erkennen ist eine Leistung des Denkens. Der Jahreskreis ist eine geistige Erkenntnis. Erhalte ich die Erinnerung an das Einssein mit der Großen Göttin aufrecht, kann die Welt mein Bewusstsein für das Unsichtbare und damit für mich selbst als geistiges Wesen nicht mehr betäuben.
Diese weibliche große Göttin hatte im Laufe der Geschichte viele Namen. Von der ägyptischen Göttin Isis verkündet eine Inschrift am Tempel zu Sais, dass sie die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft — also die Zeit sei. Sie ist auch die Maria auf der Mondsichel, die im Jahreslauf erscheint, und die Sophia, des Gottes Weisheit. Der Wandel des menschlichen Bewusstseins zeigt sich für die große Göttin, indem sie im Jahreskreis in neuer Ausrichtung erscheint. Die Venus von Willendorf legt den Kreis mit dem Sommer-Halbjahr oben und dem Winter-Halbjahr unten nahe. Isis und Maria auf der Mondsichel erscheinen dagegen im Ei mit der Mondsichel der Osterzeit unten, der Michaelizeit oben.
Embryologie
Nach der Empfängnis im Mantra 45 t folgt mit dem Mantra 46 u die erste Stufe der Embryonalentwicklung. Jaap van der Wal, ein holländischer Embryologe beschreibt: „Der Embryo erzählt das dramatische Ereignis vom Menschwerden. Das größte Geheimnis des Menschen aber ist, dass er die Eigenschaft besitzt Embryo zu SEIN und zu BLEIBEN. Darin unterscheidet er sich ganz wesentlich von den Tieren. Wir tragen eine einzigartige Fähigkeit in uns, die wir unserem Embryo-Sein verdanken“ (Embryosophie-Schlüssel zum Geheimnis Mensch).
In vier Stadien, die sich in ihren Wachstumsgesten deutlich unterscheiden, geht die Embryonalentwicklung durch die vier den Naturreichen innewohnenden Bildeprinzipien. Die Ontogenese folgt der Phylogenese. Das Individuum wiederholt die Entwicklung seiner Art. Zunächst ist es das Bildeprinzip des Mineralreichs, dann des Pflanzenreichs, dann des Tierreichs und schließlich des Menschenreichs, das die Gestaltung des werdenden Embryos leitet.
Der Durchgang durch diese vier Bildeprinzipien ist in den Sprüchen abgebildet:
46 u – Mineralreich 48 w — Tierreich
47 v – Pflanzenreich 49 x — Menschenreich
Die Stufe des Mineralreichs dauert für alle höheren Tiere etwa eine Woche, auch wenn die Dauer der Schwangerschaften deutlich variieren. Obwohl Zeichnungen eine Größenzunahme durch die Zellteilungen der befruchteten Eizelle suggerieren, findet in der ersten Woche kein Wachstum statt. Jaap van der Wal beschreibt diese Stufe so: „Es ist kennzeichnend für diese Phase, dass alle Zellteilungen innerhalb der Phytoplasma-Masse der Zygote (befruchtete Eizelle) stattfinden. Das drückt sich in dem Wort Furchungsteilungen aus … Es findet noch kein Wachstum statt, welches andernfalls für einen lebenden Organismus so kennzeichnend ist. …
Die Zygote ist nicht (nur) eine Zelle, sondern ein Organismus, der aus einer Zelle besteht. Die Morula und die Blastula sind die hierauf folgenden Manifestationen dieses lebenden Organismus, den der menschliche Embryo (bzw. Körper) darstellt. Es ist ein lebender Organismus, der jedoch mehr und mehr sogenannte Todesanzeichen vorweist. Können wir hier die Tendenz des Minerals erkennen? Die Tatsache, dass diese Phase sowohl bei Säugetieren wie auch beim Menschen immer eine Woche dauert, unterstützt diesen Standpunkt [der Stufe des Mineralreichs]. … All dies verdeutlicht, dass während dieser ersten Woche die Zeit noch nicht existiert. … Es scheint, als ob dieser Phase, während welcher der Embryo wie ein <Raumschiff> umhertreibt, das Leben vorenthalten ist wie dem Mineral. … Und ist dieses Unterteilen in identische Teilchen, diese ständige Wiederholung, nicht eine typische Eigenschaft des Minerals? … die Morula [zeigt] die Gebärde des <Kristalls> …; sie hat Mineralcharakter, insofern sie wie ein Punkt im Raum erscheint, wie ein Teilchen, das sich wiederholt. …
Wenn wir diese Gebärdensprache richtig lesen, ist es plausibel, dass der Augenblick der Nidation einen Abbruch darstellt. Schließlich muss etwas Neues geschehen, wenn es weiter gehen soll. Diesen Abbruch könnten wir mit der Kluft vergleichen, die zwischen tot und lebendig jeweilig bei dem Mineral und der Pflanze besteht …“ (Jaap van der Wal, Dynamische Morphologie und Embryologie, Skript der Osteopathie Schule Deutschland, S. 84ff).
Was rettet aus der drohenden Gefahr im Mantra 46 u?
Das Mantra 46 u ist einer von vier Krisensprüchen. Hier wird eine uns allen gut bekannte Situation geschildert. Die Welt droht uns zu betäuben. Die Sinne liefern uns allenthalben Ablenkungen, wecken Begehrlichkeiten und führen in Versuchung etwas zu tun, was der inneren Stimme widerspricht. Die Welt mit all ihren Sinnesreizen, Sehnsuchts-Objekten, Gefahren und ihrer zwingenden Realitäts-Macht droht die Seele zu betäuben. Jeden Tag wird der Mensch hundertfach herausgefordert von der Welt, sei es über den Bedarf zu essen oder Zeit mit nutzlosen Ablenkungen zu verschwenden. Die feine Stimme der eigenen Seele wird leicht übertönt! Das Sichtbare, Physische besitzt weit mehr Überzeugungsmacht, als Seelisch-Geistiges. Wie leicht glaubt der Mensch, sein Körper zu sein und mit dem Körper zu sterben. Er fürchtet den Tod als das Ende, weil er sein geistiges Sein nicht mit ebensolcher Selbstverständlichkeit begreifen kann wie den Körper. Der Körper ist da, doch Seele und Geist lassen sich nicht beweisen. Und für viele Menschen sind Seele und Geist Funktionen des Körpers ohne eigenständige Existenz.
Es gibt eine Kraft der Seele, die eingeboren ist, die hineingeboren ist in dieses Leben und in diesen Körper. So wie sie mit der Geburt hineingezogen ist in den Körper, wird sie im Tod wieder hinausziehen. Sie ist die aus dem Geist stammende Kraft der Seele, die wir als unsere innere Stimme wahrnehmen. Sie kann betäubt werden, doch sie bleibt vorhanden. Die „Welt“ kann bewirken, dass die zarte Seelenstimme übertönt wird. Dann fühlen wir uns im Leben orientierungslos und spüren eine innere Leere, wir haben uns selber verloren. Wer sich nun auf die Suche macht, die Betäubung überwindet, findet sich als geistiges Wesen.
Im Mantra klingt dieser Prozess etwas anders. Hier ist es die Erinnerung, die zur Rettung aufgerufen wird. Die Erinnerung soll aus Geistestiefen leuchtend auftreten. Damit ist das Erlebnis beschrieben, das man haben kann, wenn einem ein konkretes Erinnerungsbild wieder einfällt. Es leuchtet auf im Bewusstsein, nachdem es aus dem Unterbewusstsein wieder aufgestiegen ist. Ich habe deshalb den Eindruck, dass es sich hier nicht um die Fähigkeit der Erinnerung handelt, sondern tatsächlich um eine konkrete Erinnerung. Welche individuelle und gleichzeitig menschheitliche Erinnerung dies sein könnte, habe ich oben beschrieben.
Die Erinnerung wird als ein “Du” angesprochen. Diese Personlalisierung stützt die Annahme, mit dem Erinnerungsbild einem geistigen Wesen gegenüber zu stehen. Gemeint ist daher das Wiederbewusstwerden des Jahreskreises als Leib der großen Göttin, der großen Mutter. Und dieses Bewusstsein stärkt das Schauen. Der Jahreskreis wird dadurch zum Vermittler einer Wesensbegegnung mit der göttlich-weiblichen, hervorbringenden Kraft. Als Sophia ist sie die Weisheit selber, durch die alle Wesen gebildet worden sind. Sie ist auch die Quelle, aus der alle weise Welterkenntnis des Menschen fließt. Aus der Ur-Imagination des Jahreskreises als unserer geistigen Mutter fließen auch alle anderen imaginativen und inspirativen Erkenntnisse über die wahre Natur des Menschen und der Welt — sofern es gelingt, sie dort herauszulesen, herauszusaugen.
In der valentinianischen Gnosis, einer Weisheitslehre des Urchristentums wird gesagt, dass Sophia sich teilte in eine obere und eine untere Sophia. “Durch den Fall der Sophia bzw. durch die Ausscheidung der unteren Sophia, der Achamoth, aus dem Pleroma (Fülle der himmlischen Heerscharen) entsteht eine Welt der Finsternis und des Chaos. Weil die Sophia ohne die liebende Umarmung ihres Gatten (Theletos) von der leidenschaftlichen Erregung ergriffen worden war, brachte sie eine formlose, ungestaltete Fehlgeburt hervor — und daraus entstand die Materie.” (Anthrowiki.at, Theletos) Ich deute diese Aussage so, dass das Verständnis des Jahreslaufes mit der Zeit für die Menschen ein mechanisches, totes wurde, wodurch die Sophia fiel. Doch Rudolf Steiner spricht davon, dass sie wiedergewonnen werden kann. Die Mantren des Seelenkalenders verstehe ich als einen Weg zu ihr.
Nur durch Willenskräfte kann das Schauen sich selbst erhalten. Erkenne ich im Jahreskreis den Zeitenleib der großen Göttin, begegne ich in ihr einem göttlichen Wesen, so anerkenne ich auch mich als einen Erkennenden, als ein ursprünglich geistiges Wesen. Dadurch ist die aufgerufene Erinnerung auch die Erinnerung an mein leuchtendes geistiges Sein vor der Empfängnis. Kann ich mich als dieses Sein erkennen, habe ich mir die Möglichkeit der geistigen Schau erhalten. Diese Sicht auf die Welt muss gewollt werden, denn die Welt versucht beständig, die Wahrnehmungsmöglichkeit des Geistigen zu betäuben.
Aus der Beschreibung des Einweihungsvorgangs durch Rudolf Steiner scheint mir folgendes hier erhellend: „Malen Sie sich dieses Erlebnis aus, dann haben Sie den Moment, der im Mysterienwesen aller Zeiten bezeichnet wird als <Heranschreiten bis an die Pforte des Todes>. Denn man weiß nunmehr, was es heißt: die Welt wird einem genommen, das heißt, die Welt aller Eindrücke. Und man weiß, dass man ja nichts ist in diesem Moment als diese Eindrücke, denn im Grunde genommen gibt es nichts anderes als diese Erlebnisse, als innere Eindrücke. In dem Augenblick, da der Mensch einschläft – wo ihm alle Eindrücke genommen werden -, kommt er im normalen Leben auch in die Bewusstlosigkeit, das heißt, er lebt in seinen Eindrücken. Nun überwindet er diese Eindrücke des gewöhnlichen Lebens, er weiß, er ist so weit gekommen, dass er durch alle Dinge durchsehen kann; aber eine neue Welt wird ihm in diesem Moment genommen. Wir werden über diesen Punkt noch genauer zu sprechen haben, wir wollen nur zunächst noch deutlicher machen, was mit den angedeuteten Ausdrücken gemeint ist.
Es gibt nun keine andere Rettung gegenüber dem notwendigen Stehenbleiben, gegen das notwendige Nichtweiterkommen, als die Ausbildung seines Inneren – bevor man zu diesem Augenblicke kommt – so weit zu bringen, dass man das Einzige nun mitnehmen kann, was überhaupt durchbringbar ist durch jenen Punkt, bis zu dem man gekommen ist. Man muss bis zu dem Punkt kommen, wo einem eigentlich die Außenwelt alle Macht versagt, und muss es in seinem Inneren so weit gebracht haben, dass man in diesem Momente durch Trainierung seines Selbstvertrauens, durch Trainierung seiner Selbstsicherheit und seiner Geistesgegenwart und anderer innerlicher Tugenden — <Tugenden> jetzt als Tüchtigkeiten gemeint – innere Kraft, innere Energie hat, so dass man in dem Augenblick, wo einem die Welt genommen wird, einen Überschuss von innerer Energie zur Verfügung hat“ (GA 144, 1. Vortrag 3.2.1913, S. 23f).
Möglicherweise ist mit den Willenskräften im Mantra dieser Energieüberschuss gemeint, durch den das Schauen sich nur selbst erhalten kann. Die “Welt” im Mantra, die Stufe der Physis in der Embryonalentwicklung und die Begegnung mit der “Pforte des Todes” während der Einweihung gehören als drei Facetten der materiellen Welt zusammen.