Die spiegelnden Mantren 3 C und 50 y
3 C Es spricht zum Weltenall, Sich selbst vergessend Und seines Urstands eingedenk, Des Menschen wachsend Ich: In dir, befreiend mich Aus meiner Eigenheiten Fessel, Ergründe ich mein echtes Wesen.
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50 y Es spricht zum Menschen-Ich, Sich machtvoll offenbarend Und seines Wesens Kräfte lösend, Des Weltendaseins Werdelust: In dich mein Leben tragend Aus seinem Zauberbanne, Erreiche ich mein wahres Ziel.
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Musik zum Mantra 50 y — trotzdem ehrsam — komponiert von Herbert Lippmann
Über die Spiegelsprüche 3 C und 50 y
Die Mantren 3 C und 50 y sind “sprechende” Mantren. Nachdem im ersten Teil des Mantras jeweils der Sprecher charakterisiert und der Adressat der Botschaft benannt wurde, folgt die wörtliche Rede. Indem der Leser sich in der Rolle des Angesprochenen erlebt, richtet sich die Botschaft an einen wachen, seiner selbst bewussten Hörer. Zwar sind beide Mantren in der beschreibenden dritten Person geschrieben — und nicht in der ersten, also mit einem wach beobachtenden Ich-Sprecher, — doch es gibt den sich seiner selbst bewussten Hörer. Dadurch tauchen die Mantren partiell aus der vollkommenen Unbewusstheit der vorhergehenden, “tiefer” liegenden Mantren auf (siehe obige Abbildung), die ausschließlich in der beschreibenden dritten Person verfasst sind.
Im Mantra 3 C spricht das wachsende Ich des Menschen zum Weltenall. Es spricht damit das unvollkommene, sich entwickelnde Ich des Menschen zu dem, wovon sich der seiner selbst bewusste Mensch unterscheidet — zu dem, was alles nicht Ich ist, sondern Welt, Welten-All eben. Denke ich an das Weltenall, denke ich an den unendlichen Raum, der die Erde und unser Planetensystem umgibt. Das wachsende Ich spricht deshalb für mein Dafürhalten mit dem Raum, der dieses Ich umgibt und damit mit der Gesamtheit der Wahrnehmungswelt.
Im Mantra 50 y ist es die Werdelust des Weltendaseins, der Entwicklungswille der Welt, der zum Menschen-Ich spricht. Die Werdelust des Weltendaseins — sie wird durch die stetig voranschreitende Zeit erlebbar — sie ist selbst die Zeit, denke ich. Die Zeit spricht also zum Menschen-Ich.
Das wachsende, menschliche Ich spricht zum Raum (3 C), und die Zeit spricht zum Menschen-Ich (50 y).
Vor der eigentlichen wörtlichen Rede erfährt der Leser außerdem, mit welchen Begleitumständen dieses Sprechen jeweils einhergeht. Im Mantra 3 C “vergisst sich” das wachsende Ich des Menschen während es spricht und ist sich gleichzeitig seines Urstands eingedenk. Das Ich vergisst sich im Wahrnehmungsvorgang, sagt Rudolf Steiner. Es gibt sich der Wahrnehmung hin. Gleichzeitig ist sich dieses Ich “seines Urstands eingedenk”. Das bedeutet für mich, dass sich das Ich sowohl an seinen Ur-zu-stand erinnert, als auch sich seines Ursprungs bewusst ist. Wenn also das wachsende Ich des Menschen zum Raum spricht, vergisst es sein jetziges Sein, sein getrennt sein von der Welt und erinnert sich stattdessen an seine Herkunft — die Einheit mit allem Sein. Ursprung und Urzustand des Ichs war der Raum. Rudolf Steiner sagt: “Denn jeder Mensch glaubt, die Wahrnehmung des Ich sei ein Erlebnis. Nein, die Wahrnehmung des Ich ist das jeweilige Loch in den Erlebnissen.” (GA 191, S. 168) Und an anderer Stelle sagt er, das Ich des Menschen sei früher ein Loch gewesen, dass wir nach und nach füllen mit allen Erfahrungen des Lebens.
Im Mantra 50 y offenbart sich die Werdelust des Weltendaseins machtvoll, indem sie zum Menschen-Ich spricht. Als die Macht der Zeit verstanden, offenbart sich die Werdelust des Weltendaseins in jedem Moment. Die Zeit verändert unaufhörlich den Raum. Diese Veränderungen z.B. der Jahreszeiten sind die offenbarende Sprache der Werdelust. Und gleichzeitig mit dem Sprechen wirkt die Werdelust auf das Menschen-Ich. Sie löst die Kräfte des Ich-Wesens. Welche Kräfte des Ichs könnte die Werdelust lösen? Die Kräfte des Ichs sind neben der bewussten Führung der Seelenfähigkeiten die Kraft der Selbstbeherrschung und der Arbeit an sich selber, der Selbsterziehung. Sprechend löst die Werdelust, was vorher gebunden war. Sie bringt in Fluss, setzt es der Entwicklung aus, was vorher nicht eigenständig war. Das Ich als Erfahrung, als Bewusstsein von sich selbst hat sich aus dem Bewusstsein bewirkenden Astralleib herausentwickelt. Die Werdelust löst sprechend das Menschen-Ich aus seiner Bindung an den Astralleib. Dadurch macht die Werdelust das Ich erst zu dem Entwicklungswesen, das der Welt gegenübersteht, und das den Menschen heute ausmacht.
Nun folgt in beiden Mantren nach einem Doppelpunkt die wörtliche Rede. In beiden Mantren wird der Gesprächspartner dezidiert als Du, als Gegenüber auf Augenhöhe angesprochen. Diese Ansprache als Du bedeutet mehr als ein Personalpronomen. Martin Buber (1878–1965), der Religionsphilosoph fasst die Bedeutung, die das Du für das Ich hat, in den berühmt gewordenen Satz: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Der Mensch wird erst, was er werden soll, durch die Begegnung. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“, sagt er. Und das ewige „Du“ ist für ihn sogar Gott – im Mantra 3 C das Weltenall und im Mantra 50 y die Werdelust. Auch das Sprechen hat für Martin Buber in diesem Zusammenhang wesentliche Bedeutung. Er sagt: „Ich sein und Ich sprechen sind eins.“
Im Mantra 3 C richtet das wachsende Ich des Menschen sein Wort an das Weltenall. Das Ich sagt, dass es sich im Weltenall von der Fessel seiner Eigenheiten befreien und so sein echtes Wesen ergründen kann. Erst durch das Weltenall kommt das Ich in die Lage, seine Einseitigkeit zu überwinden und sich selber zu erkennen. Ist das Ich dagegen mit sich selber beschäftigt, kreist es um sich selbst. Es ist gefesselt in dem, was Ego genannt wird und ist außerstande, sein echtes Wesen zu erkennen. Dieses echte Wesen liegt in der Hingabe, wie die Wahrnehmung sie erfordert.
Im Mantra 50 y richtet die Werdelust des Weltendaseins ihr Wort an das Menschen-Ich. Die Werdelust sagt, dass sie ihr Leben, das bis dahin verzaubert, gebannt im Zauber war, in das Ich trägt. Bis dahin war ihr Leben festgehalten im Zauber. Doch im Menschen-Ich erreicht die Werdelust ihr wahres Ziel. Hier kommt sie unverzaubert zur Erscheinung. Im Menschen-Ich urständet die Möglichkeit der Freiheit und des genuin Neuen, noch nie dagewesenen. Im Ich liegt der Ausgangspunkt, der Same neuer Entwicklung. Dieses Neue zu erschaffen, das nicht auf Altem beruht, könnte das wahre Ziel der Werdelust sein. Auch wäre das Ich ohne die Werdelust nicht das auf Entwicklung angelegte Wesensglied des Menschen. Ohne das Fortschreiten der Zeit und die dadurch notwendige Auseinandersetzung mit Werden und Vergehen würde das Ich nicht nach dem Dauerhaften, nach seinem ewigen Kern fragen.
Wenn im Mantra 3 C das wachsende Ich des Menschen durch die Wahrnehmung des Raumes seine Herkunft erinnert, so könnte im Mantra 50 y das Zukunftsziel des Menschen-Ichs ausgedrückt sein. Dieses Zukunftsideal des Ichs könnte so mit der Zeit zusammenhängen, wie die Erinnerung mit dem Raum. Das Ich als ein Zeitwesen, vielleicht als ein Uranfang wird erahnbar.
Die Zeile “Aus meiner Eigenheiten Fessel” (3 C) korrespondiert mit “Aus seinem Zauberbanne” (50 y). Dem Ego des Menschen entspricht der Zauberbann der Werdelust in der Welt. Sie bedingen sich möglicher Weise. Die Zeit ist hineingebannt in die Weltenmechanik der Umlaufbahnen, solange Erde, Sonne und Planeten als physische Körper angesehen werden. Erst das Ich des Menschen kann in ihnen Geistwesen erleben und dadurch die Zeit aus dem Zauberbann erlösen. Dadurch befreit sich das Ich gleichzeitig aus der Eigenheiten Fessel, denn nun steht das Ich einem Du gegenüber und nicht einer Wesenlosen Welt.
Beide Mantren haben durch ihren klaren Ich-Du Aufbau einen räumlichen Aspekt, denn dort wo Ich ist, kann nicht Du sein. Durch die gehäuft auftretenden Verlaufsformen der Verben (3 C: vergessend, befreiend und 50 y: offenbarend, lösend, tragend) haben sie gleichzeitig einen fließenden, der Zeit ähnelnden Charakter.
Im Mantra 3 C erkennt das wachsende Ich des Menschen seine Ergänzungsbedürftigkeit durch den Raum. Im Mantra 50 y beschreibt die Zeit ihren Bedarf an Fortsetzung im Menschen-Ich. Im Mantra 3 C wird deutlich, dass das Ich seinen Ursprung im geistigen Raum hatte, dass es ursprünglich ein Raumwesen war. Im Mantra 50 y wird deutlich, dass das Ich das Ziel der Werdelust ist. Das Ich ist das Ziel der wesenhaften Zeit. Und damit soll das Menschen-Ich womöglich das neue Zeit-Wesen der Zukunft werden.