Die spiegelnden Mantren 4 D und 49 x
4 D Ich fühle Wesen meines Wesens: So spricht Empfindung, Die in der sonnerhellten Welt Mit Lichtesfluten sich vereint; Sie will dem Denken Zur Klarheit Wärme schenken Und Mensch und Welt In Einheit fest verbinden. |
49 x Ich fühle Kraft des Weltenseins: So spricht Gedankenklarheit, Gedenkend eignen Geistes Wachsen In finstern Weltennächten, Und neigt dem nahen Weltentage Des Innern Hoffnungsstrahlen. …. ….. |
Musik zum Mantra 4 D — belehrend — komponiert von Herbert Lippmann
Musik zum Mantra 49 x — sich aufschwingend — komponiert von Herbert Lippmann
Über die Spiegelsprüche 4 D und 49 x
Die Mantren 4 D und 49 x entsprechen sich vor allem in den ersten beiden Zeilen, danach gar nicht bzw. weit weniger, als die vorigen Spiegelspruch-Paare. Dieses Mantren Paar ist individueller. In beiden Mantren steht am Anfang eine Selbstaussage und erst im Nachhinein erfährt der Leser, wer da eigentlich über sich selber spricht. Dann folgt eine Beschreibung der Tätigkeit des Sprechers. Es gibt also — anders als in den Mantren zuvor — einen sich seiner selbst bewussten Sprecher, den ich als Ich-Sprecher bezeichne. Doch was dann folgt, ist eine Schilderung aus der neutralen Beobachterperspektive analog zu den vorherigen Mantren.
Im Mantra 4 D spricht die Empfindung über sich selber, im Mantra 49 x die Gedankenklarheit. Die Empfindung bekennt, dass sie sich selber fühlt, das Wesen ihres Wesens. Die Gedankenklarheit fühlt ebenso, doch nicht sich selbst, sondern die Kraft des Weltenseins, das Nicht-Ich, das Außen. Die Empfindung ist gerade aufkeimendes Bewusstsein, das der Welt noch nicht erkennend gegenübersteht. Die Gedankenklarheit ist maximale Bewusstheit. Rudolf Steiner unterscheidet drei Wachheitsstufen der Seele: die Empfindungsseele, die Verstandes- oder Gemütsseele und die Bewusstseinsseele. Ich gehe deshalb davon aus, dass sich im Mantra 4 D die Empfindungsseele ausspricht, im Mantra 49 x die Bewusstseinsseele. Zwischen den Mantren 4 D und 49 x, zwischen der Empfindung und der Gedankenklarheit spannt sich das Feld menschlichen Bewusstseins auf, sprechen sich dessen Anfang und Ende aus.
Die Empfindung (4 D) fühlt das Wesen ihres Wesens, sie fühlt, was ihr Wesen ausmacht, den Kern ihrer “Persönlichkeit”. Das Wesen der Empfindung ist es, auf Sinnesreize zu reagieren. Betrachte ich die allseits bekannten fünf Sinne, ist jede Wahrnehmung zunächst ein Reiz, der auf den physischen Körper einwirkt und von diesem empfunden wird. Dadurch entsteht zuvorderst Bewusstsein für das eigene Sein, den eigenen Körper. Dann entsteht eine differenzierende Wahrnehmung, denn Reize können Lust oder Unlust in der Empfindung erregen. Diese Unterscheidung ist eine zweite Selbstwahrnehmung. Das Wesen der Empfindung ist also tatsächlich Selbstwahrnehmung, wie das Mantra sagt.
Die Gedankenklarheit (49 x) fühlt dagegen die Kraft des Weltenseins, das Andere. Sie fühlt jedoch nicht einfach die Welt, oder das Sein der Welt, sondern die Kraft dieses Welt-Seins. Wir kennen die Muskelkraft des Menschen, die Schwerkraft der Materie, die Kraft des Magnetismus, der Elektrizität oder der Atomkraft. Diesen Kräften ist jeweils eine Wirkrichtung im Raum bzw. eine Veränderungsrichtung eigen. Was ist also die Kraft des Weltenseins? Für mein Dafürhalten ist es die Zeit. Auch sie hat eine Wirkrichtung vom Werden über das Sein zum Vergehen. Die Gedankenklarheit “fühlt” also die Kraft, die es braucht, damit Geist Materie, also Welt wird und ins Sein tritt. Die Gedankenklarheit “fühlt” damit über die äußere Sinneswahrnehmung hinaus. Sie ist nicht beschränkt auf den Reiz-Reaktions-Erlebnisbereich der Empfindungsseele und auch nicht auf die daran anschließenden verständigen Gedanken, die der Verstandes- oder Gemütsseele eigen sind. Das “Fühlen” der Gedankenklarheit führt über die materielle, durch die Sinne vermittelte Welt hinaus.
Nun folgt in beiden Mantren, eine Beschreibung der Tätigkeit der Sprecher. Die Empfindung (4 D) handelt und interagiert mit dem Außen, die Gedankenklarheit (49 x) gedenkt, erinnert und macht sich den eigenen Entwicklungsgang bewusst. Sie schaut nach innen.
Die Empfindung (4 D) vereint sich mit Lichtesfluten in der sonnerhellten Welt. Die Lichtesfluten sind all die Wahrnehmungen, die auf den Menschen, genauer seine Empfindungsfähigkeit einfluten und ihm die Möglichkeit von Erkenntnis, von innerem Licht bringen. Die Wahrnehmungen tragen dieses Licht in sich, weil die Welt durchwoben ist von Weisheit, von Weisheitslicht. Sonnenerhellt ist die Welt, weil das Licht des Bewusstseins sie beleuchtet. Das Bewusstsein strahlt im Wachzustand von allen Menschen aus, sonst hätten sie keine Wahrnehmungen, nur bemerken sie dieses Ausstrahlen in der Regel nicht. Das Licht des Bewusstseins keimt in der Empfindungsseele auf und vereint sich wahrnehmend mit dem in allem Wahrgenommenen verborgenen Weisheitslicht.
Die Gedankenklarheit (49 x) erinnert sich dagegen an die finsteren Weltennächte, in denen ihr geistiges Wachstum stattfand. Was haben geistiges Wachstum und Dunkelheit miteinander zu tun? Geistiges Wachstum zeigt sich durch das Erstarken des inneren Lichtes. Und dieses zunächst schwache Licht braucht die umgebende Dunkelheit, um sichtbar zu werden, Wirkung zu erzielen. Erst ein helles Licht kann auch am Tage leuchten. Denken ist ein Innenprozess, der Konzentration und Fokus benötigt, der das Ausblenden der Sinnesreize, also Dunkelheit braucht.
Und noch etwas: Lernen, also geistiges Wachstum findet wesentlich in der Nacht statt. Am Tag werden die neuen Inhalte aufgenommen, in der Nacht, während des Schlafs, werden sie integriert, geordnet und bewertet. Der Geist wächst also tatsächlich nachts. Warum sind es aber Weltennächte? Hier denke ich an die fünftausend Jahre, die das Kali Yuga, das finstere Zeitalter herrschte und laut Rudolf Steiner 1879 zu Ende ging. In der Zeit des Kali Yuga ist die Menschheit klug, intellektuell geworden — ihr geistiges Potential ist massiv gewachsen. Nun stehen wir als Menschheit am Beginn eines neuen Weltentages. Das weiter unten ausgeführte Neigen, von dem das Mantra 49 x in dieser Situation spricht, steht für die Menschheit auch an.
Im nächsten Schritt folgt in beiden Mantren eine aktive Tätigkeit, ausgedrückt durch ein Verb in Präsens mit einer Dativ-Formulierung — einer Hinwendung zu einem Du. Die Empfindung (4 D) will schenken. Sie will dem Denken zur Klarheit, die dem Denken immanent ist, Wärme schenken. Und durch dieses Geschenk will die Empfindung etwas bewirken. Sie will Mensch und Welt in Einheit fest verbinden. Dem klaren, kalten, rationalen Denken, das der Welt unbeteiligt gegenübersteht, mangelt die Gefühlswärme der Empfindung. Die Empfindung steht der Welt nicht gegenüber. Sie vereint sich mit den Lichtesfluten, der einströmenden Wahrnehmung von der Welt. Es ist ihr Wesen, sich hinzugeben mit uneingeschränktem, liebevollem Interesse — allerdings unter einer Bedingung: in der Empfindungsseele darf keine Unlust geweckt werden bzw. Urteile von Lust und Unlust gefällt werden. Die Empfindungsseele muss gereinigt und entwickelt sein. Als das Wesen der Berührtheit offenbart sich die Empfindung als die Membran zwischen innen und außen. Sie ist das aufkeimende, nach außen strahlende Bewusstseinslicht genauso wie das seelische Empfangsorgan der Sinnesreize. Durch ihr Sein verbindet sie Innen und Außen — Mensch und Welt.
In diesem Wollen der Empfindungsseele (4 D) kann Selbstbehauptung, Selbstwirksamkeit und aktive Zukunftsorientierung gesehen werden. Sie will selber etwas. Durch diesen Eigenwillen wird sie Schuld- und Schicksalsfähig.
Die Gedankenklarheit (49 x) will nicht wie die Empfindung, sondern neigt sich. Sie neigt die Hoffnungsstrahlen, die im Inneren entspringen dem nahen, dem kommenden Weltentag. Obwohl die Hoffnungsstrahlen (49 x) und die Lichtesfluten (4 D) nicht an paralleler Stelle stehen und von der Form her nicht spiegeln, zeigen beide Licht-Worte sich komplementär ergänzende Lichtqualitäten. Die vom Zentrum ausstrahlenden Hoffnungsstrahlen erinnern an das in den Umraum ausstrahlende Bewusstseinslicht der Gegenwärtigkeit. Die Lichtesfluten lassen dagegen an einen Strom aus Licht denken, der wie die verstreichende Zeit dahinströmt und alle Wahrnehmungen mit sich bringt.
Die Gedankenklarheit (49 x) neigt die von innen ausstrahlenden Hoffnungsstrahlen vor dem nahenden Weltentag. Das Erwachen in der Gegenwärtigkeit hatte dem Menschen den Fall aus dem kosmischen Bewusstsein in das gewöhnliche irdische Bewusstsein gebracht, begleitet von Hochmut. Ein Zurück gibt es nicht, doch gerade die Gegenwärtigkeit trägt die Möglichkeit zur Transzendenz in sich. Das Jetzt ist das Nadelöhr: denn anders als Vergangenheit und Zukunft ermöglicht die Gegenwart Handlung. Die Gegenwart hat eine höhere Realität, denn sie ist der einzige Zeitraum, in dem der Mensch frei ist, wenn er sich dessen bewusst wird. Und es ist immer gerade Jetzt.
Das Jetzt mit dem in den Umraum ausstrahlenden Bewusstsein zeigt im Horizontkreis seine von der Materialität befreite bildhafte Zweidimensionalität. Dieser vergleichsweise winzige Bewusstseinskreis des einzelnen Jetzt ist verwandt mit dem großen Zyklus des Jahres (vorgestellt als Jahreskreis). Sowohl das Jetzt als auch der Jahreskreis sind Zeiträume — allerdings von sehr unterschiedlicher “Größe”. Das Jetzt ist vergleichbar dem Samen, aus dem sowohl der Tag-Nacht Zyklus als auch der Jahreskreis entsprechend der sinnlichen Pflanze “wachsen”. Gegenwärtigkeit birgt deshalb die Hoffnung auf das Wiedererringen des kosmisch-paradiesischen Bewusstseins. Dies Ewigkeits-Bewusstsein schließt Vergangenheit und Zukunft ein wie dies auch der Jahreskreis tut. Das Neigen der Hoffnungsstrahlen verstehe ich deshalb als eine dem Hochmut entgegengesetzte Geste der Demut. Die Hoffnungsstrahlen neigen sich vor dem herannahenden Weltentage — vor dem nächstgrößeren zyklischen Zeitraum.
Die Empfindung (4 D), die Lebensäußerung, die jedem belebten und beseelten Wesen eigen ist, vereint sich mit den Lichtesfluten und somit — im oben ausgeführten Sinne — auch mit der in der Welt strömenden Zeit. Sie ist ein sich selbst fühlendes, selber etwas wollendes Wesen, das wie jedes Lebewesen mit dem Strom der äußeren Zeit verbunden ist. Die Gedankenklarheit (49 x), das klare Bewusstseinslicht fühlt nicht sich selbst, sondern die Kraft des Weltenseins. Die Gedankenklarheit ist also mit der Welt verbunden, wie es die Empfindung für den Menschen anstrebt. Die Gedankenklarheit will auch nicht selber etwas, sondern neigt ihr Hoffnung tragendes Licht vor dem größeren Licht des Weltentages. Die mit der Zeitlichkeit verbundene Empfindung (4 D) will Mensch und Welt verbinden, denn nur durch die Verbindung des mikrokosmischen Menschen mit der für den Makrokosmos stehenden Welt kann die Empfindung ihre an die Zeit gebundene Sterblichkeit überwinden. Die Gedankenklarheit (49 x) ist dagegen im Besitz eines in Weltennächten größer gewordenen Geistes. Sie steht am Tor eines neuen Weltentages, einer vollkommen neuen Bewusstseinsmöglichkeit. Ein neuer Weltentag ist eine neue Schöpfung. Vor dieser neigt die Gedankenklarheit ihr Licht, hoffend, dass sie erwürdigt wird, diesen Weltentag auch zu erleben.