Die spiegelnden Mantren 10 K und 43 r
10 K
Zu sommerlichen Höhen Erhebt der Sonne leuchtend Wesen sich; Es nimmt mein menschlich Fühlen In seine Raumesweiten mit. Erahnend regt im Innern sich Empfindung, dumpf mir kündend, Erkennen wirst du einst: Dich fühlte jetzt ein Gotteswesen. |
43 r In winterlichen Tiefen Erwarmt des Geistes wahres Sein; Es gibt dem Weltenscheine Durch Herzenskräfte Daseinsmächte; Der Weltenkälte trotzt erstarkend Das Seelenfeuer im Menscheninnern. .…. .…. |
Musik zum Mantra 10 K — eindringlich — komponiert von Herbert Lippmann
Musik zum Mantra 43 r — innig — komponiert von Herbert Lippmann
Die Kundalini, die geheimnisvolle Schlangenkraft
Mit dem Mantra 10 K beginnt die Sonnenzeit, die Zeit der an ein Datum gebundenen Feste im Jahr. Sie endet mit dem Mantra 43 r. Dazwischen — vom Mantra 44 s bis zum Mantra 9 I liegen die zu Ostern gehörenden Wochen, deren Feste sich durch den Abstand zum Osterfest definieren, nicht durch ein jährlich gleiches Datum. Und Ostern hängt vom Vollmond nach der Frühlings-Tag-und-Nachtgleiche ab. Im Blogartikel zum ersten und letzten Mantra der Osterzeit (9 I und 44 s) ist die Verwandtschaft des jährlich neuen Osterimpulses zur Tao-Kraft dargestellt. Die Tao-Kraft ist eine himmlische, von oben nach unten wirkende Kraft, die auch Chi oder Prana genannt wird. Diese kosmische Kraft ist die Lebenskraft, die in der Welt alles Leben bewirkt. Insofern ist sie auch im Menschen zu finden. Doch ist im individuellen Lebewesen die Lebenskraft sterblich. Die Leben erneuernde Kraft, die Jahr für Jahr in der Natur zu beobachten ist, hat der Mensch nur graduell und nicht umfassend zur Verfügung. Die Suche nach der Unsterblichkeit, dem Wasser des Lebens, ist vermutlich so alt, wie die Menschheit, denn jeder einzelne muss sie für sich antreten. Die Lebenskraft im Innern ist eine Aufsteigende Kraft. Sie ruht, so heißt es in der östlichen Weisheit, als aufgerollte Schlange, als Kundalinikraft im Menschen und wartet darauf, erweckt zu werden. Steigt diese als stark gesteigerte Vitalität erlebte Kraft auf, verleiht sie dem Menschen die Fähigkeit der geistigen Wahrnehmung, der Heilung und die Fähigkeit zu erschaffen, zu manifestieren, wie man heute sagt.
Rudolf Steiner sagt, dass die Kundalini eine doppelte Kraft ist. Er spricht vom Kundalini-Licht, dass den Menschen in der geistigen Welt sehend macht und vom Kundalini-Feuer, das ausstrahlende Liebe ist.
Ich habe den Eindruck, dass die Kundalini durch die beiden Spiegelsprüche 10 K und 43 r in Erscheinung tritt. Deshalb sollen hier zunächst Aussagen von Rudolf Steiner wiedergegeben werden, wie sie Hella Wiesberger für diese Doppelnatur im zweiten Teil ihres Aufsatzes “Rudolf Steiners Lebenswerk in seiner Wirklichkeit ist sein Lebensgang” herausarbeitet (Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Heft 51/52, 1975, S. 18 — 36).
Im dritten Bild des Mysteriendramas <Pforte der Einweihung> hat Rudolf Steiner durch den Mund des Geisteslehrers Benediktus dem Schüler Johannes Thomasius einen “Schlüssel” gegeben, der ihn anleitet geistig sehend zu werden, als er im Begriff ist, in die Geistwelt des Devachan, den Himmel, aufzusteigen:
Ich kann dir noch die Richtung weisen:
Entzünde deiner Seele volle Macht
An Worten, die durch meinen Mund
Den Schlüssel geben zu den Höhen.
Sie werden dich geleiten,
Auch wenn dich nichts mehr leitet,
Was Sinnenaugen noch erblicken können.
Mit vollem Herzen wolle sie empfangen:
Des Lichtes webend Wesen, es erstrahlet
Durch Raumesweiten,
Zu füllen die Welt mit Sein.
Der Liebe Segen, er erwarmet
Die Zeitenfolgen,
Zu rufen aller Welten Offenbarung.
Und Geistesboten, sie vermählen
Des Lichtes webend Wesen
Mit Seelenoffenbarung;
Und wenn vermählen kann mit beiden
Der Mensch sein eigen Selbst,
Ist er in Geisteshöhen lebend.
(Die Pforte der Einweihung, 3. Bild, GA 14)
In diesem “Schlüssel” spielt also die Polarität von Licht und Liebe die wesentliche Rolle. Licht hat webendes Wesen und füllt die Welt durch sein Erstrahlen mit Sein. Der Segen der Liebe erwarmt die Zeitenfolgen und ruft dadurch die Offenbarung herbei. In Kurzform: das Licht erschafft im Raum, die Liebe macht sichtbar in den Zeitenfolgen, also in der Zeit.
Hella Wiesberger schreibt über diesen “Schlüssel”, indem sie die folgenden Worte wählt: “Der Gedankeninhalt besagt, dass Raum und Zeit [-] als Offenbarungspolarität der Geisteshöhen [-] der Ewigkeit verbunden sind mit der Polarität von Licht und Liebe, zu deren Ausgleich oder <Vermählung> der Mensch in seinem eigenen Selbst aufgerufen wird.” (S. 19)
Ihre Worte werden durch das Mantra von Rudolf Steiner bestätigt, das er 1906 seinen Schülern gegeben hat und dessen Thema Licht und Liebe ist:
In den reinen Strahlen des Lichtes
Erglänzt die Gottheit der Welt.
In der reinen Liebe zu allen Wesen
Erstrahlt die Göttlichkeit meiner Seele.
Ich ruhe in der Gottheit der Welt;
Ich werde mich selbst finden
In der Gottheit der Welt.
Hella Wiesberger schreibt: „In einer ganz besonderen Art wird aber die Licht-Liebe-Polarität noch repräsentiert von den beiden Gestalten [in den Mysteriendramen von Rudolf Steiner] <Maria> und <die andere Maria>, schon durch ihre gleichlautenden Namen eine geistige Verwandtschaft bekundend. Ganz deutlich wird ihr Verhältnis im Sinne dieser Polarität in einem Entwurf zum Schlussbild der <Pforte> ausgesprochen (in GA 44). Darin lässt Rudolf Steiner Maria zu ihrer <Opferschwester>, der anderen Maria, sagen:
So werden wir dem Weltenwerke dienen,
Wenn mein Licht erleuchtet deine Wärme,
Wenn deine Wärme mir das Licht befruchtet.
Auf den Zusammenhang der ersten Mysteriendichtung <Die Pforte der Einweihung> mit dem Rätselmärchen Goethes von der grünen Schlange und der schönen Lilie hat Rudolf Steiner häufig hingewiesen. Dass die beiden Marien-Gestalten mit der <Lilie> und der <Schlange> aus dem Märchen in gewissem Sinne identisch sind, geht hervor aus den <Entwürfen> zur <Pforte>, in denen die Namengebung noch genau dem Goethe-Märchen entspricht.
Der polarische Zusammenhang von Lilie und Schlange wird in der Märchen-Interpretation von 1918 dahingehend charakterisiert, dass die Lilie das Reich des Übersinnlichen und die Schlange das Reich des Sinnlichen repräsentiert. Die menschliche Seele müsse zu beiden das rechte Verhältnis finden. Dieses sei eben der Zustand, nach dem sich alle im Märchen vorkommenden Personen sehnen. Erreicht werden kann er nur durch das Selbstopfer der Schlange. Dadurch könne sich die Seele die Brücke bauen zwischen dem diesseitigen und jenseitigen Gebiet des Flusses. Die Brücke besteht aus dem Stoff der Schlange selbst. Das heißt: die Schlange als ein Bild für die <Lebenserfahrung der Seele> führt fortan <kein Eigenleben>. Sie ist nicht mehr, wie vorher, bloß auf die äußere Sinnenwelt gerichtet. Sie ist von der Lebenserfahrung zur Lebensweisheit geworden, zur inneren Seelenkraft, die man als solche <nicht bewusst übt, sondern die nur wirkt, indem sich Sinnliches und Übersinnliches im Menscheninnern gegenseitig erleuchten und erwärmen>.” (S. 23)
Bis hierher kann gesagt werden: Licht erleuchtet, Wärme befruchtet. Die weiße Lilie repräsentiert die Welt des Übersinnlichen, die Schlangen, die Welt des Sinnlichen. Licht erleuchtet den geistigen Raum, Wärme opfert, baut als durchlebte Zeit die Brücke und befruchtet.
“Zeitlich unmittelbar vor der Neuinterpretation des Rätselmärchens als Goethes <Geheime Offenbarung> interpretierte Rudolf Steiner eine andere okkulte Schrift: den Bericht des Valentin Andrea über die chymische Hochzeit des Christion Rosenkreuztz ann 1459. Die Schlangenkraft (Kundalini) wird darin beschrieben als <geistige Wahrnehmungskraft>, als <Tätigkeit des Bildekräfteleibes>, die sich vergleichen lasse mit der <Erregung von ausstrahlendem Licht>. Und von der Polarität Licht und Liebe heißt es: <Die Anschauung des Geistessuchers sieht in dem Wesenhaften, das ätherisch allem Dasein und Werden zugrunde liegt, zwei polarisch zueinander stehende Kräfte: das Licht und die Liebe.>” (S. 23)
Hella Wiesberger fährt fort, indem sie Rudolf Steiner zitiert: “<Man beurteilt aber diese Anschauung nur richtig, wenn man in dem physischen Lichte und der innerhalb der physischen Welt tätigen Liebe die materiell wirksamen Offenbarungen geistiger Urkräfte sieht. Innerhalb der geistigen Urkraft des Lichtes lebt sich das schöpferische Gedankenelement der Welt aus und innerhalb der Liebe das schöpferische Willenselement.> Damit wird auf den Zusammenhang von Licht und Liebe mit der Polarität von Denken und Wollen verwiesen, von der Rudolf Steiner an anderer Stelle schreibt: <Wer auf dem Wege der übersinnlichen Erkenntnis zu einer Anschauung der menschlichen Wesenheit vorzudringen sucht, dem offenbart sich in immer stärkerer Art die gegensätzliche Natur der denkerischen und willensartigen Seelenbetätigung.> (Aufsatz von 1918, in Luziferisches und Ahrimanisches in ihrem Verhältnis zum Menschen, in GA 35, zitiert nach Hella Wiesberger, S. 24)
[Hella Wiesberger:] Die Erlebnisse des chymischen Geistsuchers führen nach Rudolf Steiners Interpretation aber nicht nur zur Erkenntnis der Polarität des Vorstellungs- und Willenselementes im Zusammenhang mit der Polarität von Licht und Liebe, sondern auch zur Erkenntnis ihrer Verbindung mit der Polarität von Männlichem und Weiblichem.” (S. 24 )
Rudolf Steiner gibt an, dass der physische und der ätherische Leib des Menschen in geschlechtlicher Hinsicht polar zueinander sind. Der Ätherleib des Mannes ist weiblich, der Ätherleib der Frau männlich.
Hella Wiesberger schreibt: “In dem … Notizbuch aus dem Jahre 1906 findet sich nun auch noch eine entsprechende Polarität für den astralischen Leib charakterisiert. Unter [dieser] Skizze des menschlichen Körpers heißt es:
<Dieser physische Körper wird durch die Kräfte des Astrakörpers aufgebaut; er bringt es bis zu Sinnesorganen. Die — Augen — sehen die Gegenstände durch das Sonnenlicht von außen.
Man muss im Astralkörper selbst eine zweite Hälfte unterscheiden: wie der andere Pol beim Magneten.
Beim Manne ist der zweite Astralkörper weiblich; beim Weibe ist der zweite Astralköper männlich, das heißt der Astralköper ist hermaphroditisch. [Das heißt, das Geschlecht des zweiten Astralkörpers entspricht dem Geschlecht des Ätherleibes. Möglicher Weise bedeutet ihre Verschmelzung die weiter unten erwähnte Erregung des Kundalinifeuers. A.F.]
Das Kundalinifeuer ist nun die im zweiten Astralköper erregte Tätigkeit, die zunächst Wärme und Licht ist.
Solange das Kundalinifeuer nicht erregt wird, tastet man zwischen den Gegenständen und Wesen der höheren Welt; wie in der Nacht zwischen den physischen Gegenständen. Ist das Kundalinifeuer da, so beleuchtet man sich selbst die Gegenstände.>” (S. 21)
Rudolf Steiner konkretisiert den männlichen und weiblichen Aspekt der Seele weiter: “Die Seele ist männlich und weiblich zugleich. Sie trägt in sich diese beiden Naturen. Ihr männliches Element ist dem verwandt, was man Willen nennt, ihr weibliches dem, was als Vorstellung bezeichnet wird.” (GA 11, Die Trennung der Geschlechter)
Licht und Liebe liegen also sowohl als Ätherkräfte allem Dasein zugrunde und gleichzeitig sind sie astrale Kräfte. In der Notizbucheintragung von 1906 bezeichnet er Licht und Wärme als Tätigkeiten des zweiten Astralkörpers. Dieser Astralkörper hat eine doppelte Natur, denn er war vor der Geschlechtertrennung in der lemurischen Zeit in der Lage zur Selbstbefruchtung. Mit der Geschlechtertrennung verlor der Mensch die Möglichkeit, sich ohne Partner fortzupflanzen. Er gewann dadurch aber laut Rudolf Steiner die Anlage, selbständig zu denken.
Hella Wiesberger fährt fort: “Dadurch traten aber auch zu den bisherigen Führern der Menschenentwicklung, den <Führern der Liebe>, die <Erreger der Menschenweisheit>, auch <Bringer des Lichtes (Luzifer)> genannt. Von nun an unterstand die Menschheit zwei Führern: den <Liebwesen> und den <Weisheitswesen>. <Zwischen Liebe und Weisheit war die menschliche Natur eingespannt, als sie auf dieser Erde ihre gegenwärtige Form annahm.> In dieser Entwicklung ist somit der entstehungsgeschichtliche Ursprung der Polarität von Weisheit (Licht) und Liebe (Wärme) im Erdenmenschen zu suchen.
Nun habe jedoch die Entwicklung zur Eingeschlechtlichkeit als Folge gehabt, dass <der männliche Leib eine weibliche Seele, der weibliche Leib eine männliche Seele hat>. Diese <innere Einseitigkeit> im Menschen werde durch die Befruchtung mit dem Geiste wiederum ausgeglichen: <Die männliche Seele im weiblichen Leibe und die weibliche Seele im männlichen Leibe werden beide wieder zweigeschlechtlich durch die Befruchtung mit dem Geist. So sind Mann und Weib in der äußeren Gestalt verschieden, im Innern schließt sich bei beiden die seelische Einseitigkeit zu einer harmonischen Ganzheit zusammen. Im Innern verschmelzen Geist und Seele zu einer Einheit. Auf die männliche Seele im Weibe wirkt der Geist weiblich und macht sie so männlich-weiblich; auf die weibliche Seele im Manne wirkt der Geist männlich und bildet sie so gleichfalls männlich-weiblich. Die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen hat sich aus der Außenwelt, wo sie in der vorlemurischen Zeit vorhanden war, in das Innere des Menschen zurückgezogen. … Die Vereinigung mit dem Geiste bewirkt zuletzt die Gleichheit, aber dass vor dem Zustandekommen dieser Gleichheit eine Verschiedenheit vorhanden ist: dies schließt ein Geheimnis der Menschennatur ein.>” (S. 25)
In einer grundlegenden Betrachtung über Licht und Liebe sagt Rudolf Steiner über dieses Geheimnis: “Liebe und Licht sind die zwei Elemente, die zwei Komponenten, die alles Erdendasein durchsetzen. Liebe als seelisches Erdendasein, Licht als äußeres materielles Erdendasein.” (GA 120, 10. Vortrag) Materie, das Sein, ist also dem Wesen nach Licht, wie Einstein es in die berühmte Formel fasst: E=mc2. Alles Seelische ist dagegen irgendwie modifizierte Liebe. Rudolf Steiner spricht die generalisierte Bedeutung von Licht und Liebe so aus: “Wer geisteswissenschaftlich die Dinge zu begreifen hat, der fragt in allererster Linie: Wie sind in irgendeinem Grade Liebe und Licht ineinander verwoben?” (GA 120, s.o.)
Über die Spiegelsprüche 10 K und 43 r
Mit dem letzten Spiegelspruch-Paar 9 I (großes i) und 44 s endete die Zeit im Jahr, die mit dem variablen Osterdatum verbunden ist — die Mondenzeit im Jahr. Und mit dem Schritt zum Spiegelspruch-Paar 10 K und 43 r ist der Übertritt von der Mond- in die Sonnenzeit des Jahres vollzogen. Rudolf Steiner verwendet den Ausdruck “Sonnenzeit” für Zeit zwischen Tod und neuer Geburt: “Das wird euer Anblick sein, wenn ihr in die Sonnenzeit kommt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.” (GA 236, S. 251) Und tatsächlich stellte sich das Mantra 9 I als die Innensicht des Todes dar.
Die Mantren 10 K und 43 r haben die Polarität von Licht und Wärme zum Thema. Das Mantra 10 K spricht von der Sonne, deren leuchtendes Wesen sich zu sommerlichen Höhen erhebt. Das Mantra 43 r spricht vom wahren Sein des Geistes, der in winterlichen Tiefen erwarmt. Das Mantra 10 K schildert alles aus der Perspektive eines beobachtenden und seiner selbst bewussten Ich-Sprechers. Das Mantra 43 r ist dagegen in der neutral beschreibenden dritten Person verfasst. Hier ist kein menschlich wahrnehmendes Bewusstsein anwesend.
Schon in der ersten Zeile beider Mantren wird ein gewaltiger Gegensatz aufgebaut: “sommerliche Höhen” (10 K) stehen “winterlichen Tiefen” (43 r) gegenüber. Sowohl räumlich (Höhen und Tiefen) als auch zeitlich (sommerlich und winterlich) ist die Ausgangssituation beider Mantren polar. Eine enorme senkrechte Spannung von der ultimativen Tiefe zur ultimativen Höhe entsteht, die durch die Nennung der Jahreszeiten auch mit dem Gegensatz von Kälte und Wärme verbunden ist.
Sowohl die Höhen als auch die Tiefen stehen in der Mehrzahl. Ins seelische übersetzt sind sie kein einmalig Erreichtes, sondern ein immer wieder zu erstrebendes bzw. auftretendes Ereignis. Jeder seelische Aufstieg führt zu einer Höhe und jeder Gang in die Seele führt in eine Tiefe, die dadurch immer wieder eine neue ist, weil sie in einem anderen Moment erreicht wird.
Die Sonne wird im Mantra 10 K als ein leuchtendes und als ein Wesen beschrieben, während der Geist im Mantra 43 r wahres Sein hat. Die Sonne ist also jemand, während der Geist das wahre Sein besitzt — wie der Mensch seinen Körper besitzt. Das leuchtende Wesen der Sonne erhebt sich zu sommerlichen Höhen — während das wahre Sein des Geistes in den winterlichen Tiefen erwarmt. Um sich besser vorstellen zu können, was in den beiden Mantren geschieht, fragt sich nun, was der Unterschied von Wesen und Geist ist. Ein Wesen ist ein Jemand, eine Individualität. Nach Rudolf Steiners Vorstellung kann ein Wesen auch ein Engelwesen, das heißt ein geistiges Wesen sein. Ein Wesen kann aber auch inkarnieren, in einen Körper einziehen. Geist ist dagegen nicht unbedingt personifiziert. Es ist eher ein Seinszustand im Außerkörperlichen. Doch auch ein Wesen kann im unverkörperten Zustand als Geist angesprochen werden. Der Hinweis, dass sich der Geist in winterlichen Tiefen befindet, weist auf einen inkarnierten, in die Tiefe herabgestiegenen Geist. Damit nähern sich Wesen und Geist in der Bedeutung an. Sie scheinen in der Vorstellung zu verschmelzen.
Das Wesen des Bewusstseins ist Licht auszustrahlen. Mit dem leuchtenden Wesen der Sonne (10 K) ist die stets individuelle, wesenhafte Bewusstseinskraft gemeint, die hier jedoch nicht menschlich, sondern kosmisch ist. Die Sonne ist hier Bild der Leben schenkenden, schöpferischen Kräfte des Universums, und gleichzeitig ist sie leuchtendes Vorbild für das menschliche Bewusstsein. Auch des Menschen Bewusstsein hat die Fähigkeit, sich zur Überschau zu erheben und ebenso erschaffend kreativ zu sein wie die Sonne. Während die Sonne sich erhebt (10 K), erwarmt das wahre Sein des Geistes (43 r). Der Ort des Geschehens, die winterlichen, also kalten Tiefen sind Voraussetzung für diesen Vorgang.
Im Mantra 10 K findet sich die Schilderung eines Naturschauspiels — der im Sommer hoch aufsteigenden Sonne. Dieses äußere Bild kann ins Seelische übersetzt als die Fähigkeit des Bewusstseins erkannt werden. Im Mantra 43 r findet sich die Beschreibung einer inneren, geistigen Situation. Hier muss der entsprechende irdisch beobachtbare Prozess hinzugefügt werden. Das Ich des Menschen ist mit der Blutwärme verbunden. Das ist für mein Dafürhalten die Blutwärme, der irdische Träger des Ichs, wie Rudolf Steiner sagt. Das Inkarnierte Ich, wenn es in winterlichen Tiefen ist, wirkt also erwärmend, Körperwärme bildend aus seinem wahren Sein heraus.
Im Mantra 10 K nimmt das Wesen der Sonne etwas mit, im Mantra 43 r gibt das wahre Sein des Geistes etwas. Nehmen und Geben finden statt — ein vom Grundsatz wechselseitiger, sich bedingender Prozess. Das leuchtende Wesen der Sonne (10 K) nimmt das menschliche Fühlen des Ich-Sprechers mit. Die mit der Sonne symbolisierte Bewusstseinskraft nimmt das Fühlen mit. Jede Erkenntnis wirkt auf das Gefühl und verändert das Fühlen. Die in der Welt vorhandene schöpferische Bewusstseinskraft, das leuchtende Wesen der Sonne, nimmt das menschliche Fühlen in die Raumesweiten mit. Es weitet das Fühlen über die Ich-Bezogenheit hinaus. Die Raumesweiten gehören zum Wesen der Sonne. Sie erschafft den Raum, da sie ihn sichtbar macht. Und genauso erschafft das menschliche Bewusstsein Erkenntnis-Räume, in die das Fühlen mitgenommen wird. Jede Erkenntnis ist gleichzeitig ein Erlebnis, an dem das Fühlen Anteil hat.
Das wahre Sein des Geistes (43 r) gibt Daseinsmächte. Es schenkt dem Weltenscheine — dem was vordem nur Schein war — Verwirklichung. Das wahre Sein des Geistes gibt der Maya der Welt die Macht, da zu sein, Realität zu werden. Dies geschieht durch Herzenskräfte. Darin liegt ein deutlicher Hinweis, dass das Erwarmen des wahren Seins als äußerer Vorgang die Blutwärme meint.
Was nun in beiden Mantren folgt, spiegelt nicht mehr. Es handelt sich also nun um Prozesse, die eigenständiger und nicht mehr wechselseitig aufeinander bezogen sind.
Das Erwarmen (43 r) des wahren Seins des Geistes, der dem Weltenschein durch die Kräfte des Herzens Daseinsmächte gegeben hatte, führt zu einem erstarkenden Seelenfeuer, das im Menscheninnern der Weltenkälte trotzt. Tief im Unbewussten, im Stoffwechselbereich, spielt sich dieser Prozess ab, der ein trotzender, willenshafter ist. Das Seelenfeuer ist dadurch erkennbar als ein individuelles, sich der Weltenkälte entgegenstellendes, Dualität erlebendes.
Rudolf Steiner charakterisierte den Willen als männliche Qualität, das Denken als weibliche. Das Mantra 43 r mit seiner Willensbetonung spricht vom Geist, der in der deutschen Sprache das männliche Geschlecht trägt. Das Mantra 10 K spricht dagegen von der Sonne, die im deutschen eine “die”, also weiblich ist. Als Bild des Bewusstseins verweist sie auf das als weiblich — also als empfangend — benannte Denken.
Das Mitnehmen (10 K) des eigenen Fühlens in die Raumesweiten durch das sich erhebende, leuchtende Wesen der Sonne führt dazu, dass sich im Innern eine dumpfe, zunächst nur erahnbare Empfindung geltend macht. Doch diese Empfindung kündet dem Ich-Sprecher davon, dass er einst, in ferner Zukunft etwas erkennen wird. Er wird erkennen, dass ihn im Moment des Hinaufgetragen-werdens durch das leuchtende Wesen der Sonne, ein Gotteswesen fühlte. Im Moment des Aufstiegs findet eine Gottberührung statt, die aber erst hinterher bewusst werden kann.
In der Spannung von Tiefe und Höhe zwischen den beiden Mantren sehe ich die Kundalini, die mystische Schlangenkraft des Menschen aufgespannt. Im Mantra 43 r stehen die mit dem Wollen verbundenen Geister der Liebe (siehe oben) Pate für den in winterlichen Tiefen befindlichen Geist. Das Seelenfeuer ist das Kundalinifeuer, das tief im Unterbewussten im ersten Chakra auf der Höhe des Steißbeins ruht, bis es so stark wird, bis es so vehement trotzt, dass die Flammen hochschlagen und die Schlangenkraft beginnt aufzusteigen. Im Mantra 10 K begegnet der bewusste Ich-Sprecher nun — für mein Gefühl — nicht den luziferischen Geistern der Weisheit, sondern dem Christus als dem Geist der Sonne. Im Bild der sich erhebenden Sonne sehe ich das aufsteigende Kundalinilicht, das nicht das Denken mitnimmt, sondern das Fühlen.
Die Gottesbegegnungen von Moses und die Verklärung Christi
Moses konnte im brennenden Dornbusch (Ex 3,1–4,17), im Seelenfeuer, dem göttlichen Ich-Bin begegnen (43 r). Doch als er darum bat, Jahwe von Angesicht zu sehen, musste dieser es verweigern. “Und Jahwe sprach: <Nicht vermagst du zu schauen mein Angesicht, denn kein Mensch schaut mich und bleibt am Leben.> Und Jahwe sprach: <Siehe, ein Ort hier bei mir, da sollst du dich hinstellen auf den Felsen. Und es wird geschehen so: Beim Vorüberziehen meiner Herrlichkeit, das stelle ich dich in die Felsenhöhle und mit meiner Hand schirme ich dich bei meinem Vorüberziehen. Wenn ich zurückziehe meine Hand, wirst du meine Rückseite schauen. Mein Angesicht aber darf nicht geschaut werden>” (Ex 33,20–23). Auch im Mantra 10 K ist die Erkenntnis der Gottesbegegnung nicht im Moment des Geschehens möglich, sondern einst, also im Rückblick.
Anders ist es bei der Verklärung Christi. Jesus Christus als inkarnierter, in die Tiefen herabgestiegener Gott konnte sich dreien seiner Jünger leuchtend wie die Sonne von Angesicht zu Angesicht zeigen (z.B. Mt. 17,1–8). Wenn das Kundalinifeuer durch alle Chakren aufgestiegen ist, beleuchtet es die geistige Welt und macht sie sichtbar.
Die Uräusschlange und die aufgerichtete Schlange
Die Uräusschlange, die Götter und Pharaonen auf der Stirn trugen, symbolisiert die hellsichtige Wahrnehmung. In der ägyptischen Mythologie wird erzählt, dass einst der Sonnengott Re eines seiner Augen mit einem Auftrag aussandte. Als das Auge nach getaner Arbeit zurückkehrte, fand es seinen Platz durch ein nachgewachsenes Auge besetzt. Der Mensch hatte also irdisch wahrnehmen gelernt. Re erhob nun das ledige dritte Sonnenauge als Feuer speienden Uräus an seine Stirn. Einem anderen Mythos zufolge war es die unterägyptische Schlangengöttin Wadjet, die sich in Gestalt des Uräus auf das Haupt des Königs niederließ. Die aktiv sehende, Licht ausstrahlende Kraft des dritten Auges wurde auch in der löwengestaltigen Göttin Mehit gesehen, die gelegentlich mit dem dritten Auge des Re identifiziert wurde.
Vier Sonnen tragende Uräusschlangen, dahinter eine große Papyrusstaude, Thronrückseite von Tutanchamun, von 1346–1337 v. Chr.
Ein weiteres mythologisches Bild für die aufsteigende Schlangenkraft findet sich in der Erzählung der Wüstenwanderung der Israeliten. Die durch Moses aufgerichtete Schlange heilt von Schlangenbissen, wenn die Betroffenen zu ihr aufschauen. (Num 21,6–9)
Die Aufrichtung der Schlange, Glasfenster Strasbourg
Dieses Ereignis gilt als Vorverkündigung der Aufrichtung des Kreuzes, also der Kreuzigung Jesu. Bei der aufgerichteten Schlange geht es um eine heilende Kraft, ebenso bei der Kreuzigung, die die Auferstehung Christi und damit die “Heilung von der Sündenkrankheit” möglich machte.
Die Kundalini mit den Chakren in den Mantren des Seelenkalenders
Wenn die Kundalini sich zwischen den Spiegelsprüchen 43 r und 10 K aufspannt, kann die Frage gestellt werden, ob sie sich auch konkreter im Seelenkalender darstellt. Es fragt sich also, ob auch die sieben Chakren, die die Kundalini auf dem Weg ihres Aufstiegs durchsticht, in den Mantren wiedergefunden werden können.
Und tatsächlich finden sich im Mond der Osterscholle, in jedem dritten Mantra nach dem als Ausgangsmantra zu betrachtenden Spruch 43 r signifikante Hinweise auf die zu erwartenden Chakren. Dadurch werden die zu Ostern gehörenden Wochen als die Kundalini deutlich und ihr Durchschreiten entspricht dem Aufstieg dieser Kraft. (Die Verbindung der Schlange mit der Mondsichel, auf der die Maria steht, findet sich in der Kunst immer wieder.)
1. Basal-Chakra: Im Mantra 43 r liegt die Kundalini in dreieinhalb Windungen zusammengerollt und schläft. Hier ist sie noch kreisförmig — das Mantra gehört noch zum Sonnenbereich des Jahres.
2. Sexual-Chakra: Im Mantra 46 u, dem Krisenspruch, indem die Welt die Seele bedroht, wird die Erinnerung als ein “Du” aufgerufen, Dualität tritt auf. Die Kundalini beginnt sich zu entrollen und als leuchtende Kraft der Erinnerung, aufzutreten, um das Schauen, die der Seele eigene geistige Wahrnehmung zu stärken.
3. Solarplexus-Chakra: Im Mantra 49 x spricht die Gedankenklarheit als ein Ich. Die Bewusstseinskraft keimt auf, wird aber noch nicht besessen von einem irdischen Ich. Sie gedenkt des eigenen geistigen Wachsens in finstern Weltennächten und neigt aus dem Inneren Hoffnungsstrahlen dem nahen Weltentage zu.
4. Herz-Chakra: Hier deuten wir hin, wenn wir “Ich” zu uns sagen. Um das egoistische Ich zu überwinden, wird im Sufismus von der Wendung des Herzens gesprochen. Im Mantra 52 z wendet sich der Geist aus den Seelentiefen zu dem Weltensein.
5. Kehl-Chakra: Im Mantra 3 C spricht des Menschen wachsend Ich zum Weltenall.
6. Dritte Auge, Stirn-Chakra: Im Mantra 6 F zeigt die Welt dem Ich-Sprecher überall das göttliche Urbild, von dem der Mensch wahres Abbild ist.
7. Kronen-Chakra: Im Mantra 9 I (großes i) geht es um das Vergessen der eigenen Willenseigenheit. Geist und Seelenwesen werden von Weltenwärme erfüllt — eigene Körperwärme ist nicht mehr vorhanden, denn hier wird der Tod beschrieben — das Geist-werden des Menschen.
Über dieser siebenstufigen Kundalini, die fast identisch mit dem Mond der Osterscholle ist, leuchtet die Sonne des Mantras 10 K. Die Kundalini als die Schlangenkraft des Menschen opfert sich im Mantra 9 I und wird zur Brücke (Goethes Märchen). Die Schlange, Luzifer der Lichtträger, trägt die Sonne des Gotteswesens — des Christus.
Dem Schritt vom Mantra 9 I zum Mantra 10 K entspricht das von Rudolf Steiner öfter zitierte Wort des Paulus: “Nicht ich, sondern der Christus in mir”. Annähernd wörtlich übersetzt lautet es: „Ich lebe, aber nicht mehr das Ego, sondern es lebt in mir Christus.“ (Gal. 2,20).
Die Mantren der „Seelenkalender- Kundalini“:
Das 1. – Basal-Chakra, in dem sie eingerollt schläft:
43 r
In winterlichen Tiefen
Erwarmt des Geistes wahres Sein;
Es gibt dem Weltenscheine
Durch Herzenskräfte Daseinsmächte;
Der Weltenkälte trotzt erstarkend
Das Seelenfeuer im Menscheninnern.
Das 2. — Sakral- oder Sexualchakra:
46 u
Die Welt, sie drohet zu betäuben
Der Seele eingeborene Kraft;
Nun trete du, Erinnerung,
Aus Geistestiefen leuchtend auf
Und stärke mir das Schauen,
Das nur durch Willenskräfte
Sich selbst erhalten kann.
Das 3. – Solarplexus Chakra
49 x
Ich fühle Kraft des Weltenseins:
So spricht Gedankenklarheit,
Gedenkend eignen Geistes Wachsen
In finstern Weltennächten,
Und neigt dem nahen Weltentage
Des Innern Hoffnungsstrahlen.
Das 4. — Herzchakra
52 z
Wenn aus den Seelentiefen
Der Geist sich wendet zu dem Weltensein
Und Schönheit quillt aus Raumesweiten,
Dann zieht aus Himmelsfernen
Des Lebens Kraft in Menschenleiber
Und einet, machtvoll wirkend,
Des Geistes Wesen mit dem Menschensein.
Das 5. – Kehlkopf-Chakra
3 C
Es spricht zum Weltenall,
Sich selbst vergessend
Und seines Urstands eingedenk,
Des Menschen wachsend Ich:
In dir, befreiend mich
Aus meiner Eigenheiten Fessel,
Ergründe ich mein echtes Wesen.
Das 6. – Chakra des Dritten Auges
6 F
Es ist erstanden aus der Eigenheit
Mein Selbst und findet sich
Als Weltenoffenbarung
In Zeit- und Raumeskräften;
Die Welt, sie zeigt mir überall
Als göttlich Urbild
Des eignen Abbilds Wahrheit.
Das 7. – Kronen-Chakra:
9 I (großes i)
Vergessend meine Willenseigenheit
Erfüllet Weltenwärme sommerkündend
Mir Geist und Seelenwesen;
Im Licht mich zu verlieren
Gebietet mir das Geistesschauen,
Und kraftvoll kündet Ahnung mir:
Verliere dich, um dich zu finden.
Die Sonne über der persönlichen Kundalinikraft:
10 K
Zu sommerlichen Höhen
Erhebt der Sonne leuchtend Wesen sich;
Es nimmt mein menschlich Fühlen
In seine Raumesweiten mit.
Erahnend regt im Innern sich
Empfindung, dumpf mir kündend,
Erkennen wirst du einst:
Dich fühlte jetzt ein Gotteswesen.