Die spiegelnden Mantren 18 R und 35 i
18 R Kann ich die Seele weiten, Dass sie sich selbst verbindet Empfangnem Welten-Keimeswort? Ich ahne, dass ich Kraft muss finden, Die Seele würdig zu gestalten, Zum Geistes-Kleide sich zu bilden. |
35 i Kann ich das Sein erkennen, Dass es sich wiederfindet Im Seelenschaffensdrange? Ich fühle, dass mir Macht verlieh´n, Das eigne Selbst dem Weltenselbst Als Glied bescheiden einzuleben. |
Musik zum Mantra 18 R — wüstenhaft-verödet — komponiert von Herbert Lippmann
Die Frage
Das Fragen und der Parzival Mythos
Die Mantren 18 R und 35 i sind die beiden einzigen Mantren im Seelenkalender, die jeweils eine Frage formulieren. Deshalb soll der Bedeutung des Fragens zunächst nachgegangen werden. Rudolf Steiner sagt: „Das Fragen der Seele nach dem Höchsten, das sie finden konnte, wurde in den späteren Zeiten draußen in der Welt genannt «Das Geheimnis vom Heiligen Gral». Und die Gralsage, Parzivalsage, ist nichts anderes als ein Ausdruck des Christus-Mysteriums. Der Gral ist jene heilige Schale, in der der Christus das Abendmahl genommen hat, in der der Josef von Arimathia aufgefangen hat das Blut des Christus, wie es geflossen ist auf Golgatha. Von einer solchen Schale umschlossen ist das Blut des Christus an einen heiligen Ort gebracht worden. Solange die Menschen nicht fragen nach dem Unsichtbaren, geht es ihnen wie Parzival. Erst als er fragt, wird er ein Eingeweihter des Christus-Mysteriums.
So sehen wir, wie Wolfram von Eschenbach in seine Darstellung hineinverwebt die drei Stufen der Menschenseele, die erst ausgeht von der äußeren sinnlichen Wahrnehmung, wo sie, im Materiellen befangen, sich sagen läßt vom materiellen Geist, was wahr ist. Das ist die Seele in ihrer «Tumbheit», wie Wolfram von Eschenbach sich ausdrückt. Dann erkennt die Seele, wie die Außenwelt nur Illusionen gibt. Wenn die Seele merkt, daß in dem, was die Naturwissenschaft zu geben vermag, nicht Antworten zu finden sind, sondern nur Fragen, so verfällt die Seele in das, was Wolfram von Eschenbach nennt den «Zwifel». Dann aber steigt sie auf zur «Saelde», zur Seligkeit, zum Leben in den geistigen Welten. Das sind die drei Stufen der Seele.
Den Mysterien der späteren Zeit, die vom Christus-Impuls durchleuchtet sind, ist allen ein ganz bestimmter Zug eigen. Dadurch steigen sie herauf über alle alten Mysterien. Alle Einweihung beruht ja darauf, daß der Mensch sich erhebt zu einem höheren Anschauen, zu einer höheren Entwickelung der Seele. Bevor er sich so erhebt, hat er drei Fähigkeiten in seiner Seele: Denken, Fühlen und Wollen. Diese drei Seelenkräfte hat er in sich. So, wie er gewöhnlich lebt in der heutigen Welt, sind diese drei Seelenkräfte in einer innigen Verbindung. Mit seinem Ich ist er hineinverwoben in Denken, Fühlen und Wollen, weil der Mensch, bevor er durch die Einweihung aufsteigt, noch nicht vom Ich aus an der Entwickelung der höheren Leiber gearbeitet hat. Zunächst wird das, was im astralischen Leibe ist, das, was der Mensch an Gefühlen und Empfindungen, an Trieben und Begierden hat, geläutert und gereinigt. Dadurch entsteht das Geistselbst oder «Manas». Dann kommt der Mensch zunächst so weit, daß er jeden Gedanken mit einem bestimmten Gefühlston durchsetzt, daß jeder Gedanke kalt oder warm wird, daß er umwandelt seinen Äther- oder Lebensleib. Das ist die Umwandlung des Fühlens, und es entsteht so die «Buddhi». Dann folgt noch die Umwandlung des Wollens bis in den physischen Leib hinein zu «Atma» oder Geistesmensch. So wandelt der Mensch um sein Denken, Fühlen und Wollen und damit seinen Astralleib zu Manas oder Geistselbst, den Ätherleib zu Buddhi oder Lebensgeist, den physischen Leib zu Atma oder Geistesmensch. Diese Umwandlung ist der Ausdruck für das systematische Arbeiten des Eingeweihten an seiner Seele, wodurch er sich hinauf hebt in die geistigen Welten.“ (Lit.: GA 57, S. 433ff)
Das alles entscheidende Element im Parzival Mythos ist die Frage, die er zunächst nicht stellt. Rudolf Steiner erläutert: “Aber es ist uns ja bekannt, worauf es ankommt: daß Parzival nicht gefragt hat. Trotzdem das Wunderbarste vor seine Seele getreten ist, hat er zu fragen versäumt. Und er muß es immer wieder hören, daß es mit dem, was zu seiner Sendung gehört, etwas zu tun hat, daß er hätte fragen müssen, daß gewissermaßen seine Mission zusammengehangen hat mit dem Fragen nach dem Wunderbaren, das ihm entgegengetreten ist. Er hat nicht gefragt! Erkennen ließ man ihn, daß er eine Art Unheil dadurch herbeigeführt hat, daß er nicht gefragt hat.
Wie steht hier Parzival vor uns? So steht er vor uns, daß wir uns sagen: In ihm haben wir eine Persönlichkeit, die abseits erzogen worden ist von der Kultur der äußeren Welt, die nichts hat wissen sollen von der Kultur der äußeren Welt, die zu den Wundern des Heiligen Grals hat geführt werden sollen, damit sie nach diesen Wundern fragt, aber fragt mit jungfräulicher, nicht durch die übrige Kultur beeinflußter Seele.” (Lit.: GA 148, S. 162f)
Die Bedeutung des Fragens in vor- und nachchristlicher Zeit
So wichtig die Frage für uns heute ist, so falsch war sie in vorchristlicher Zeit. Rudolf Steiner erklärt dies so: „Bei den Menschen vor dem Mysterium von Golgatha war es so, daß sie wie Kinder heranwuchsen: sie lernten gehen, sprechen, und sie lernten selbstverständlich, solange die elementaren Kräfte im Sinne des alten Hellsehens noch da waren, auch hellsehen. Sie lernten es wie etwas, was sich ergab im Umgange mit der Menschheit, so wie es sich ergab im Umgange mit der Menschheit, daß man durch die Organisation des Kehlkopfes das Sprechen lernte. Man blieb aber nicht beim Sprechenlernen stehen, sondern schritt vor zu dem elementaren Hellsehen. Dieses elementare Hellsehen war gebunden an die gewöhnliche menschliche Organisation so, wie die menschliche Organisation drinnenstand in der physischen Welt; es mußte also notwendigerweise das Hellsehen auch den Charakter der menschlichen Organisation annehmen. Ein Mensch, der ein Wüstling war, konnte nicht eine reine Natur in sein Hellsehen hineinschieben; ein reiner Mensch konnte seine reine Natur auch in sein Hellsehen hineinschieben. Das ist ganz natürlich, denn es war das Hellsehen an die unmittelbare menschliche Organisation gebunden.
Eine notwendige Folge davon war, daß ein gewisses Geheimnis — das Geheimnis des Zusammenhanges zwischen der geistigen Welt und der physischen Erdenwelt -, das vor dem Herabstieg des Christus Jesus bestand, nicht für diese gewöhnliche menschheitliche Organisation enthüllt werden durfte. [Es durfte nicht gefragt werden. A.F.] Es mußte die menschheitliche Organisation erst umgestaltet, erst reif gemacht werden. Der Jüngling von Sais durfte nicht ohne weiteres, von außen kommend, das Bild der Isis sehen. Mit dem vierten nachatlantischen Zeitraume, in welchen das Mysterium von Golgatha hineinfiel, war das alte Hellsehen verschwunden. Eine neue Organisation der Menschenseele trat auf, eine Organisation der Menschenseele, die überhaupt abgeschlossen bleiben muß von der geistigen Welt, wenn sie nicht fragt, wenn sie nicht den Trieb hat, der in der Frage liegt. Dieselben schädlichen Kräfte, die in alten Zeiten an die Menschenseele herangetreten sind, können nicht an sie herantreten, wenn man gerade nach dem Geheimnis fragt, das das Geheimnis des Heiligen Grales ist. Denn in diesem Geheimnisse birgt sich das, was seit dem Mysterium von Golgatha in die Aura der Erde jetzt ausgeflossen ist. Was früher nicht in sie ausgeflossen war, was jetzt als das Geheimnis des Grales in die Erdenaura ausgeflossen ist, bliebe einem doch immer verschlossen, wenn man nicht fragt. Man muß fragen, was aber nichts anderes heißt als: man muß den Trieb haben, dasjenige, was ohnedies in der Seele lebt, wirklich zu entfalten.
Vor dem Mysterium von Golgatha war es nicht in der Seele, denn der Christus war nicht in der Erdenaura. Vor dem Mysterium von Golgatha würde jemand ohne weiteres, wenn er nur das Bild der Isis im rechten Sinne geschaut und ihr Geheimnis ergründet hatte, durch das, was in ihm noch an alten hellseherischen Kräften vorhanden war, seine ganze Menschennatur da hineingelegt haben, und er würde es dann so erkannt haben.
In der Zeit nach dem Mysterium von Golgatha wird eine Seele, die zum Fragen kommt, im rechten Sinne zum Fragen kommen, und sie wird auch im rechten Sinne das neue Isis-Mysterium empfinden können. Daher ist es so, daß es heute ankommt auf das richtige Fragen, das heißt auf das richtige Sich-Stellen zu dem, was als spirituelle Weltanschauung verkündet werden kann. Kommt ein Mensch bloß aus der Stimmung des Urteilens, dann kann er alle Bücher und alle Zyklen und alles lesen — er erfährt gar nichts, denn ihm fehlt die Parzival-Stimmung. Kommt jemand mit der Fragestimmung, dann wird er noch etwas ganz anderes erfahren, als was bloß in den Worten liegt. Er wird die Worte fruchtbar mit den Quellkräften in seiner eigenen Seele erleben. Daß uns das, was uns spirituell verkündet ist, zu einem solchen inneren Erleben werde, das ist es, worauf es ankommt.“ (Lit.: GA 148, S. 169f Hervorhebungen A.F.)
Das “Fragen” in der physischen und in der geistigen Welt
In der physischen Welt muss der Mensch die Dinge befragen und aus ihnen Antworten gewinnen, um eine sich selbst führende Seele zu werden, wie Rudolf Steiner sagt. Doch in der geistigen Welt ist es anders. Hier fragen die Dinge und die Antworten muss der Mensch aus sich, aus seiner erworbenen Weisheit finden: „In der physischen Welt können wir so an den Dingen vorbeigehen, daß wir, indem wir die Dinge betrachten, sagen: Wie ist es mit dem Wesen dieses Dinges? Wie verhält es sich denn? Was ist das Gesetz dieses Wesens, dieses Vorgangs? Oder aber, wir gehen stumpf vorbei und fragen überhaupt nicht. Wir werden niemals auf dem physischen Plan etwas Vernünftiges lernen, wenn wir nicht sozusagen von den Dingen veranlaßt werden, Erkenntnisfragen zu stellen, wenn uns nicht die Dinge Rätsel aufgeben, so daß diese Rätsel in uns entstehen. Beim bloßen Anschauen der Dinge und Vorgänge werden wir auf dem physischen Plane niemals zu einer sich selbst führenden Seele kommen können. Auf dem geistigen Plan ist das wieder anders. Auf dem physischen Plan stellen wir die Fragen an die Dinge und Vorgänge, und wir müssen uns bemühen, die Dinge zu untersuchen, herauszubekommen, wie wir die Antwort auf die Frage, die wir uns stellen, aus den Dingen heraus bilden können. Wir müssen die Dinge untersuchen. Auf dem geistigen Plane ist es so, daß die Dinge und Wesenheiten um uns herum geistig sind; und die Dinge, die fragen uns, nicht wir fragen die Dinge. Die Dinge fragen uns, sie stehen da, die Vorgänge und Wesenheiten, und wir stehen ihnen gegenüber und werden fortwährend von ihnen gefragt. Wir müssen jetzt die Möglichkeit haben aus dem unendlichen Meer von Weisheit das herauszugreifen, was auf die Fragen antworten kann, die uns da gestellt werden. Wir müssen nicht aus den Dingen und Vorgängen heraus die Antworten suchen, sondern aus uns heraus, denn fragen tun uns die Dinge, überall um uns herum sind die fragenden Dinge.“ (Lit.: GA 153, S. 133 Hervorhebungen A.F.)
Richtig fragen lernen
Das Fragen und auch das Stellen der richtigen Fragen muss gelernt werden. Rudolf Steiner sagt: “In der spirituellen Strömung müssen wir lernen zu fragen. In der materialistischen Strömung führt aber die Menschen alles ab vom Fragen. Wir wollen diese zwei Dinge nur nebeneinander hinstellen, um zu zeigen, wie die eine und wie die andere Strömung ist. In der einen haben wir diejenigen Menschen, die im Materialismus drinnenstehen. Das können durchaus solche sein, die an diesen oder jenen spirituellen Dogmen festhalten, die mit Worten, mit Theorien die spirituelle Welt anerkennen. Aber darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß wir mit dem Ganzen unserer Seele in die spirituelle Strömung hineinkommen. Von den Menschen, die in der materialistischen Strömung drinnenstehen, kann man sagen: sie sind keine «Frager». Sie sind wirklich keine Frager, denn sie wissen schon alles. Das ist das Charakteristikon der materialistischen Kultur, daß diese Menschen alles wissen, daß sie nicht fragen wollen. Sogar die jüngsten Menschen wissen heute alles und fragen nicht. Man hält das für Freiheit und für eine Erhöhung des persönlichen Wertes, wenn man überall ein eigenes Urteil fällen kann. Man merkt nur nicht, wie dieses persönliche Urteil reift. Wir wachsen herein in die Welt. Mit den ersten Worten der Kindheit nehmen wir dieses oder jenes auf. Dann wachsen wir heran, nehmen mehr und mehr auf, merken nicht, wie wir die Dinge aufnehmen. Wir sind durch unser Karma so und so geartet. Dadurch gefällt uns dieses oder jenes mehr oder weniger gut. Wir wachsen heran und erreichen mit unserem Urteil das für manche Kritiker schon durchaus respektable Alter von fünfundzwanzig Jahren, und wir fühlen uns reif in unserem Urteil, weil wir glauben, daß es aus unserer eigenen Seele kommt. Wer aber in die Seelen hineinblicken kann, der weiß, daß dahinter nichts steckt als das auf die eigene Seele konzentrierte äußere Leben, in das wir gerade hineingestellt sind. Wir können damit auch in Konflikt kommen, wenn wir glauben, dies oder jenes bringe uns unser eigenes Urteil bei. Indem wir glauben, unabhängig zu sein, werden wir nur um so sklavischer abhängig von unserem eigenen Inneren. Wir urteilen, aber wir verlernen vollständig, zu fragen.
Fragen lernen wir nur, wenn wir jenes Gleichmaß der Seele in uns auszubilden vermögen, das sich Ehrfurcht und Ehrerbietung bewahren kann vor den heiligen Gebieten des Lebens, wenn wir imstande sind, in unserer Seele so etwas zu haben, das immer den Drang hat, sich auch durch das eigene Urteil nicht zu engagieren gegenüber dem, was aus den heiligen Gebieten des Lebens an uns herandringen soll. Fragen lernen wir nur, wenn wir uns versetzen können in eine erwartungsvolle Stimmung, so daß durch dieses oder jenes Ereignis sich uns dieses oder jenes im Leben offenbaren mag, wenn wir warten können, wenn wir eine gewisse Scheu tragen, das eigene Urteil anzuwenden gegenüber dem gerade, was mit Heiligkeit aus den heiligen Gebieten des Daseins herausströmen soll, wenn wir nicht urteilen, sondern fragen, und nicht nur etwa Menschen fragen, die uns etwas sagen können, sondern vor allem die geistige Welt fragen, der wir nicht unser Urteilen entgegenhalten, sondern unsere Frage, unsere Frage schon in der Stimmung, in der Gesinnung.
Versuchen Sie sich durch Meditation so recht klar zu werden, welcher Unterschied besteht zwischen dem Entgegenhalten von Urteilen und dem Entgegenhalten von Fragen gegenüber den geistigen Gebieten des Lebens. Das muß man innerlich erfahren, daß ein radikaler Unterschied zwischen den beiden besteht. Mit diesem Unterschiede hängt etwas zusammen, das durch unsere ganze Zeit geht und das wir in unserer spirituellen Geistesströmung ganz besonders wohl beachten sollen. Denn diese spirituelle Geistesströmung wird nur gedeihen können, wenn wir den Unterschied zwischen Fragen und Urteilen verstehen lernen. Gewiß müssen wir urteilen in bezug auf die äußeren Verhältnisse des Lebens. Daher habe ich auch nicht gesagt, wir sollen überall unser Urteilen einschränken; sondern über das, was die tieferen Geheimnisse der Welt sind, sollen wir die erwartungsvolle Fragestimmung kennenlernen. Fortgehen wird unsere spirituelle Bewegung durch alles, wodurch diese Fragestimmung in einem größeren Teile der Menschheit anerkannt und gefördert wird; gehemmt wird unsere spirituelle Bewegung durch alles, was an leichtfertigem Urteilen sich dieser Strömung entgegensetzt. Und wenn wir in rechten Feieraugenblicken unseres Lebens uns zu überlegen versuchen, was wir aus einer solchen Darstellung gewinnen können, wie die von dem nach der Gralsburg gehenden Parzival, der fragen soll, dann gewinnen wir gerade in dieser Parzival-Gestalt ein Vorbild für unsere spirituelle Bewegung.” (Lit.: GA 148, S. 166ff)
“Warum fragen wir eigentlich? Wir fragen, weil unser Verstand in einer gewissen Weise beschaffen ist. Aber wir haben gesehen, unser Verstand hat sich selbst erst mit unserem Gehirn gebildet. Unsere Verstandesfragen haben also gar keinen Sinn mehr, wenn wir in solche Zustände kommen, wo unser Gehirn noch nicht gebildet war. In den Welten, die erst die Grundlage der Verstandeswelt bilden, hat das Fragen nach den Begriffen des Verstandes keinen Sinn; da müssen wir zu anderen Mitteln des Erforschens, des Erkennens gehen, als zu denen, die uns der Verstand gibt. Diejenigen Menschen, die allerdings nicht weiter sehen, als ihre Nase reicht, die werden in der Tat glauben, daß man mit der gewöhnlichen Form des Fragens die ganze Welt abfragen kann. Das kann man aber nicht, sondern man muß sich klar sein darüber, daß man ein jegliches Ding nur in seiner Art erfragen kann. Für die Welt, die der unseren vorangegangen ist, werden wir nur zurechtkommen können, wenn wir in uns diejenigen Kräfte anregen, die im Denken des Herzens zum Ausdruck kommen.” (Lit.: GA 119, S. 257f)
Das Seelenkleid
Wie wird die Seele zum Geisteskleid (18 R) gebildet? Im Evangelium gibt es das Gelichnis von der königlichen Hochzeit (Mt. 22), in dem ein Gast kein hochzeitliches Gewand trägt und daraufhin “in die Finsternis des äußeren Daseins hinausgeworfen [wird], wo die Menschen wehklagend und zähneklappernd leben. Denn an viele ergeht der Ruf, wenige jedoch machen sich wirklich zu Trägern des höheren Lebens.” (Mt. 22, 13–14 in der Übersetzung von Emil Bock) Das hochzeitliche Gewand muss also erworben werden. Das macht der Ausdruck Chela deutlich, der für einen fortgeschrittenen Geistesschüler verwendet wird. Er bedeutet unter anderem Kleid, Gewand. Ein solcher Mensch hat seinen Astralleib bereits von den eigensüchtigen Trieben und Begierden gereinigt und arbeitet an der Verwandlung des Ätherleibs zum Lebensgeist. Da Chela ebenso Jünger bedeutet, kann ein solcher Mensch auch als Jünger angesehen werden.
Rudolf Steiner sagt über den Chela: „Was der Mensch selbst in den Astralleib hineingearbeitet hat, das nennt man Manas; das ist der fünfte Grundteil. So viel also der Mensch selbst in sich hineingearbeitet hat, so viel ist in ihm Manas; daher ist immer ein Teil seines Astralleibes Manas. Aber es ist dem Menschen nicht unmittelbar gegeben, auch auf seinen Ätherleib einen Einfluß auszuüben. So wie man lernt, auf eine höhere moralische Stufe zu kommen, so kann man auch lernen, in seinen Ätherleib hineinzuarbeiten. Wer dies lernt, ist ein Schüler, ein Chela. Dadurch wird der Mensch Herr über seinen Ätherleib, und so viel er in diesen hineingearbeitet hat, so viel ist in ihm vorhanden von Budhi. Das ist der sechste Grundteil, der umgewandelte Ätherleib.
Einen solchen Chela können wir an etwas erkennen. Der gewöhnliche Mensch ist nicht ähnlich seiner früheren Verkörperung, weder in Gestalt noch Temperament; der Chela aber hat dieselben Gewohnheiten, dasselbe Temperament wie in der früheren Verkörperung. Er bleibt sich ähnlich. Er hat bewußt hineingearbeitet in den Leib, der Fortpflanzung und Wachstum trägt.“ (Lit.: GA 95, S. 18)
Drei Stufen lassen sich laut Rudolf Steiner auf diesem Entwicklungsweg unterscheiden: „Was sind nun die Eigenschaften der Einweihungsstufen eines Chela? [Erste Stufe] Erstens: Das Überwinden des Persönlichen, das Freimachen des Gottes in seinem Innern. Zweitens: Freiheit von jedem Zweifel; jede Skepsis hört auf. Die Dinge des Geistigen stehen vor seiner Seele als Tatsachen. Freiheit auch von jedem Aberglauben, denn da er alles selbst zu prüfen vermag, kann er keiner Täuschung mehr verfallen. Auf einer noch höheren Stufe wird ihm dann der Schlüssel des Wissens ausgeliefert. Man sagt, dass er das Sprechen erhält; er wird ein Bote der übersinnlichen Welt. Die Tiefen der geistigen Welt werden ihm offenbar. Das ist die zweite Stufe der Chelaschaft. Die dritte Stufe ist die, wo der Mensch, wie er im gewöhnlichen Leben zu sich «Ich» sagt, nun zu allen Wesenheiten der Welt «ich» sagen kann, wo er erhoben wird zur Umfassung des Alls. Auf dieser dritten Stufe bezeichnet man in der Mystik den Chela als «Schwan»; er wird zum Vermittler zwischen dem Arhat, dem Lehrer, und den Menschen. So stellt sich uns der Schwanenritter dar als ein Bote der großen Weißen Loge; so ist Lohengrin ein Bote der Gralsgemeinschaft.“ (Lit.: GA 92, S. 110 Hervorhebungen und Ergänzung A.F.)
Das Sein
Das Mantra 35 i spricht vom Sein, das erkannt werden soll. Was meinte Rudolf Steiner mit Sein? Aus anthroposophischer Sicht ist alles Sein kein materielles, sondern ein sich seiner selbst bewusstes, also geistiges Sein. Sein ist Bewusstsein, denn es gründet sich auf das Wirken individueller geistiger Wesen. Sie sind es, die gemeinsam die Wirklichkeit erschaffen.
„Es ist gut, festzuhalten, daß es im Grunde genommen im Weltenall doch nichts anderes gibt als Bewußtseine. Außer dem Bewußtsein irgendwelcher Wesenheiten ist letzten Endes alles übrige dem Gebiete der Maja oder der großen Illusion angehörig. … Also man kann eigentlich nur Bewußtseine schildern, wenn man die Realitäten schildert. … Also, die wirklichen Realitäten der Welt sind Wesen in den verschiedenen Bewußtseinszuständen.“ (Lit.: GA 148, S. 305f)
„Alle Wesenheiten steigen auf von Wesen, die empfangen, zu Wesen, die produzieren und schaffen. Schöpfer werden ist das Ziel der Wesen.“ (Lit.: GA 98, S. 194)
Über die Spiegelsprüche 18 R und 35 i
Mit den Mantren 18 R und 35 i betreten wir einen neuen Bereich im Jahr. Wie die zu Ostern gehörenden Wochen das untere Drittel des Jahres umfassen, den Mondbereich, so beginnt nach dem mittleren Drittel, dem Sonnenbereich, nun das obere Drittel, der Sternbereich. Das Mantra 35 i ist außerdem das Mantra der ersten Adventswoche.
Beide Mantren verbindet eine Besonderheit, die im Seelenkalender nur hier auftritt: sie stellen eine Frage. Der Ich-Sprecher ist es, der sich fragt. Diese Frage bildet jeweils den ersten Teil des Mantras. Der Ich-Sprecher fragt nach seinem Können, ob die Fähigkeiten ausreichen für die anvisierten Ziele. Er fragt, ob der Erwerb der jeweiligen Fähigkeit bereits weit genug fortgeschritten ist. Er prüft also den Stand seiner Entwicklung, er ringt um Selbsterkenntnis. Diese Selbsterkenntnis fragt in zwei Richtungen. Im Mantra 18 R fragt sich der Ich-Sprecher, ob er die Seele ausreichend weiten kann und im Mantra 35 i, ob er das Sein angemessen erkennen kann. Im Mantra 18 R fragt er nach der Macht über die eigene Seele, im Mantra 35 i prüft er seine Fähigkeit, das Außen, die Welt zu erkennen.
Warum ist es nötig, die Seele zu weiten (18 R)? Von Natur aus schließt der Mensch von sich auf andere. Doch die Menschen sind sehr verschieden. Jemand, der sich zum Maßstab aller anderen macht, wir als ein engstirniger Mensch genannt. Er ist jemand, der nicht gelernt hat, dass Wahrheit zunächst subjektiv ist, dass seine Interessen, Vorlieben, Ansichten nicht die eines anderen Menschen sein müssen. Der Ich-Sprecher fragt sich also, ob er genügend Toleranz, genügend Mitgefühl, genügend Hilfsbereitschaft erworben hat — ob er eine große Seele geworden ist. Er fragt, ob seine Sympathiekräfte ausreichen werden.
Im Mantra 35 i fragt sich der Ich-Sprecher, ob er das Sein erkennen kann. Von der Notwendigkeit, Seinserkenntnis zu erwerben, zeugt die Entwicklung des Schulsystems. Hier wird vermittelt, was die Gesellschaft für Seinserkenntnis hält, ohne die ein erfolgreiches Leben nicht für möglich erachtet wird. Der Seinserkenntnis liegt die zur Sympathie entgegengesetzte Seelenkraft zugrunde, die Antipathie. Um das Andere erkennen zu können, muss zunächst Abgrenzung und Gegenüberstellung stattfinden. Innere Neutralität und Vorurteilslosigkeit muss erworben werden, die Seele muss ruhig und klar sein können. Der Ich-Sprecher muss sich fragen, ob seine hier notwendig einzusetzenden Antipathikräfte ausreichen werden.
Nun wird in beiden Mantren das Ziel angegeben, das dadurch erreicht werden soll. Im Mantra 18 R ist die Zieltätigkeit ein sich selbst Verbinden, im Mantra 35 i ein Wiederfinden. In beiden Mantren ist das Ziel eine Vereinigung. Im Mantra 18 R soll die Seele soweit geweitet sein, dass es ihr möglich ist, sich mit dem bereits empfangenen Welten-Keimeswort selbständig zu verbinden. Die Verbindung geschieht also durch raumgeben dem Neuen, Fremden gegenüber. Im Mantra 35 i soll ein Wiederfinden geschehen. Damit ist in diesem Fall ein Widerspiegeln gemeint, denn die Seinserkenntnis soll sich im Schaffensdrang der Seele wiederfinden. Die Seele soll ihren Schaffensdrang nach der Erkenntnis des Seins ausrichten. Das Erkannte, das bereits Bekannte soll die Richtschnur für das Handeln sein. Das im Außen erkannte Sein soll auch im Innern, dort, wo der Drang zu schaffen entsteht, sich abbilden und das Schaffen leiten.
Was ist das Welten-Keimeswort, dem die Seele sich nur verbinden kann, wenn sie genügend geweitet ist? Das Welten-Keimeswort ist ein Wort, aus dem eine neue Welt keimt, das eine neue Welt aus sich erschafft. Das Wort ist die Logoskraft, die sowohl schöpferisch ordnend in der Welt als auch im menschlichen Verstand, hier als Logik erlebt, wirkt. Die Kraft des Lebensäthers wird das Wort genannt, weil alle Schöpfung dadurch mit Sinn erfüllt wird, mit Wesenhaftigkeit. So ist das Welten-Keimeswort in der Seele empfangen worden, wie die Frau ein Kind empfängt. Auch in diesem Fall muss die Immunabwehr des weiblichen Organismus für die Zeit der Schwangerschaft unterdrückt werden. Und woher kommt das Welten-Keimeswort? Wie kommt das ganz Neue, Fremde in die Seele? Rudolf Steiner spricht davon, dass der Geist des Menschen zur Schöpfung aus dem Nichts in der Lage ist: „In allem Leben wirkt die Dreiheit von Evolution, Involution und Schöpfung aus dem Nichts. Beim Menschen haben wir diese Schöpfung aus dem Nichts in der Arbeit seines Bewußtseins. Er erlebt die Vorgänge in seiner Umwelt und verarbeitet sie zu Ideen, Gedanken und Begriffen. Veranlagungen stammen aus früheren Verkörperungen, aber aller Fortschritt im Leben beruht darauf, daß neue Gedanken und neue Ideen produziert werden.“ (S. 260) Dieses ganz Neue darf von der Seele nicht aufgrund festgefahrener Gewohnheiten abgelehnt werden. Sie muss sich dem Neuen verbinden können — sie muss es mit offenen Armen empfangen. Im Erkennen des Seins (35 i) findet sich der Aspekt der Involution, im Seelenschaffensdrang der Evolution.
Welches Mantra entspricht nun der Parzival-Frage? Ich denke, die unterlassene Frage spiegelt das Mantra 18 R wider. Seine Seele war nicht ausreichend geweitet. Parzival unterließ die Frage aufgrund übernommener Konventionen. Die beim zweiten Besuch gestellte Frage, “Oheim, was wirret dir?” zeigt dagegen die Frage nach dem Sein — dem Sein des Onkels — und entspricht deshalb dem Mantra 35 i. Parzival wird daraufhin Gralskönig, denn sein Seelenschaffensdrang spiegelt seine Seinserkenntnis und diese hat königliche Höhe und Würde erreicht.
Nach der Frage folgt in beiden Mantren eine Selbstreflexion des Ich-Sprechers. Diese Selbstreflexion ist im Mantra 18 R eine ahnende, im Mantra 35 i eine fühlende. Im Mantra 7 G soll das Ahnen das Denken ersetzen, da dort das Denken droht, sich im Schein der Sinne zu verlieren. Ahnen ist die auf das unsichtbare gerichtete Denkfähigkeit, die das unkonkrete, noch nicht Form gewordene ins Bewusstsein heben kann. Die ahnende Selbstreflexion ist also eine Aktivität der denkenden Seele, im Mantra 35 i dagegen eine der fühlenden Seele.
Der Ich-Sprecher ahnt im Mantra 18 R, dass er Kraft finden muss, im Mantra 35 i dagegen fühlt er, dass ihm Macht verliehen ist. Kraft ist eine momentane Energieentladung. Es ist eine durch den Ätherleib hervorgebrachte Wirkung. Macht ist dagegen die Potenz der Kraftentfaltung. eine astrale Kompetenz. Im Bild des Königs mit seinem Diener lässt sich Macht und Kraft verstehen. Der König hat Berechtigung und Macht zu befehlen, der Diener benötigt Kraft, um die Aufgabe zu erledigen. Die Kraft muss der Ich-Sprecher finden (18 R), die Macht wurde ihm gleich einer Königswürde verliehen (35 i). Im Mantra 18 R ist der Ich-Sprecher in der Position des Dieners. Er muss die Seele würdig gestalten, er muss für Ordnung im Seelenraum sorgen. Im Mantra 35 i ist der Ich-Sprecher dagegen in der Position des Königs. Ihm ist die Macht verliehen, dem großen Ganzen das Eigene einzufügen, das große Ganze zu bereichern und dadurch zu verändern. Um im Bild des Königs zu bleiben: ihm ist die Macht verliehen, sein Reich in die Gemeinschaft der anderen Reiche auf der Welt zu integrieren.
Im Mantra 18 R ist das Ziel, dass die Seele zum Geistes-Kleid gestaltet wird. Das Welten-Keimeswort ist der Geist, die Seele soll es bekleiden. Sie muss sich zunächst weiten, sie muss wachsen, um dem ganz Neuen Raum zu geben. Dann muss sie würdig gestaltet werden, damit das ganz Neue würdig in Erscheinung treten, sich offenbaren kann. In diesem Mantra ahnt der Ich-sprecher, dass er die Kraft finden muss, ein Chela, ein fortgeschrittener Geistesschüler zu werden, der seinen Ätherleib, seinen Gewohnheitsleib umarbeitet. Er muss die Kraft finden, sein Temperament und seine unbewussten Reaktionsweisen zu verändern, damit sich die Seele zum würdigen Geistes-Kleid bilden kann, mit dem er bei der himmlischen Hochzeit (Mt. 22) als Gast teilnehmen darf.
Im Mantra 35 i ist es das Ziel, das eigene Selbst in das Weltenselbst als Glied zu integrieren. Das Selbst ist sicherlich als ein geistiges Selbst, also als das Geistselbst zu denken. Es ist der vom Ich umgearbeitete Astralleib, das Geistselbst, das in den durch die ganze Menschheit nach und nach umgearbeiteten Welten-Astralleib, das Weltenselbst, eingefügt werden soll. In diesem Mantra nimmt der Mensch an der himmlischen Hochzeit teil, er steigt zur Engelstufe auf, denn er darf sich bescheiden einleben in den großen Chor der himmlischen Selbste, der neun Engelhirarchien. Bis Michaeli sind es mit diesem Mantren-Paar neun Stufen, wobei acht davon spiegeln, die oberste Stufe, die Mantren 26 Z und 27 a jedoch nicht.