Die spiegelnden Lichtspruch-Mantren 22 V und 31 e
22 V Das Licht aus Weltenweiten, Im Innern lebt es kräftig fort: Es wird zum Seelenlichte Und leuchtet in die Geistestiefen, Um Früchte zu entbinden, Die Menschenselbst aus Weltenselbst Im Zeitenlaufe reifen lassen. |
31 e Das Licht aus Geistestiefen, Nach außen strebt es sonnenhaft: Es wird zur Lebenswillenskraft Und leuchtet in der Sinne Dumpfheit, Um Kräfte zu entbinden, Die Schaffensmächte aus Seelentrieben Im Menschenwerke reifen lassen. |
Musik zum Mantra 31 e — drohend — komponiert von Herbert Lippmann
Die Venusfigurine und der Löwenmensch von der Schwäbischen Alb
Die Venusfigurine vom Hohlefels und der Löwenmenschen vom Holenstein-Stadel, beide auf der Schwäbischen Alb nur 50 km voneinander entfernt gefunden, sind die ältesten plastischen Darstellungen des Menschen, die weltweit bisher gefunden wurden. Der Löwenmensch zeigt erwiesenermaßen einen Mann. Seine Darstellung ist einzigartig, während in der Venusfigurine ein Typ erkennt werden kann, der über viele Jahrtausende und weite Entfernungen wiederholt wurde. So zeigt die Venus von Willendorf diesen Typ, ebenso zwei Venusfigurinen von Kostënki, (Kalkstein, ca. 25.000 – 20.000 Jahre alt, Russland) oder die Venus von Amien-Renancourt, (Kalkstein, 23.000 Jahre alt, Nordfrankreich). Die Venusfigurine vom Hohlefels hat keinen Kopf und hatte auch nie einen, denn statt eines Kopfes ragt eine Öse aus der Figur. Auch der Löwenmensch hat zwar eine aufrechte, menschliche Haltung, jedoch keinen menschlichen Kopf — er hat einen Löwenkopf. Sofern die Venusfigurinen einen Kopf aufweisen, wie z.B. die Venus von Willendorf, so wirkt dieser trotzdem tief unbewusst, schlafend.
Venus vom Hohlefels, Mammut-Elfenbein, ca. 6 cm hoch, 2008 auf der Schwäbischen Alb gefunden, 35.000 — 40.000 Jahre alt
Löwenmensch (aus zwei Perspektiven) vom Hohlenstein-Stadel im Lonetal, Mammut-Elfenbein, ca. 31 cm hoch, 1939–2012 auf der Schwäbischen Alb gefunden, 31.000 — 45.000 Jahre alt
Bis zur letzten Eiszeit lebten in Europa Höhlenlöwen. Sie wurden so genannt, weil ihre Knochen meist in Höhlen gefunden wurden, doch nimmt man an, dass sie wie die bedeutend kleineren afrikanischen Löwen über weite Flächen streiften. Durch Schnittspuren an Höhlenlöwen-Knochen, die zeigen, dass das Fell mitsamt der Krallen vom Knochen gelöst wurde, nimmt man an, dass schon der Neandertaler einen Löwenkult besaß.
Aufgrund der Nähe der Fundorte und der anzunehmenden konstanten religiösen Ideenzusammenhänge über sehr lange Zeiträume gehe ich davon aus, dass diese beiden Figuren zusammen betrachtet werden müssen, dass sie sich in ihren Aussagen ergänzen. Der Löwenmensch scheint mir der männliche, die Venusfigurine der weibliche Ausdruck einer einzigen Grundidee zu sein.
Die Venusfigurine zeigt tiefste Unbewusstheit. Ihr Bewusstsein ist vollständig nach innen gerichtet. Der Löwenmensch sieht. Sein Kopf ist sonnenhell, doch hat er kein menschliches Bewusstsein, sondern ein Löwen-Bewusstsein. Er ist über den für den Menschen typischen Zweifel hinausgewachsen und hat die allen Tieren eigene unumstößliche Instinkt-Sicherheit gewonnen. Er hat das Ziel der Bewusstseinsentwicklung erreicht. Gleichzeitig schaut er nach oben und ist auf etwas Höheres, sich über ihm befindendes ausgerichtet. Er scheint diesem Höheren lauschend hingegeben zu sein.
Die Idee hinter den weiblichen Figurinen zeigt die Venus von Willendorf am deutlichsten (siehe Blog 46 u und hier). Ihr Körper — und auch die Körper der anderen Venusfigurinen — zeigen einen Jahreskreis. Das Sommer-Halbjahr ist durch die Brüste dargestellt, das Winter-Halbjahr durch die Schenkel. Sie ist die große Göttin, die alles Leben trägt. Kein Lebewesen kann aus der Zeit herausfallen — alle werden in ihrem Leib von Moment zu Moment, von Tag zu Tag getragen. Jedes Lebewesen ist ihr Kind, mit dem sie schwanger geht, solange sein Leben währt. Die zyklische, unendlich sich wiederholende Zeit ist diese große Göttin.
Doch das zyklische Erleben der Zeit ist nicht das einzige. Die Zeit wird auch als ein linear fließender Fluss erlebt, in dem jeder Augenblick einzigartig und unwiederbringlich ist. Aus diesem zwischen Vergangenheit und Zukunft fließenden Strom der Zeit hebt sich die Gegenwart heraus. Diese Gegenwart wird erlebbar, weil der Mensch und auch die Tiere Bewusstsein entwickeln. Doch nur der Mensch hat über das Bewusstsein hinaus Selbstbewusstsein. Er erlebt sich als ein Ich, das der Welt wahrnehmend gegenüber steht.
Diesen beiden Bildern der Zeit entsprechen die beiden Lichtquellen der Mantren. Im Blog-Artikel 22 V konnte ich zeigen, dass es sich beim Licht aus Weltenweiten um das aus dem Umkreis kommende, moralische Impulse in den Willen tragende Astrallicht handelt, im Blog-Artikel 31 e um das durch die Ätherisation des Blutes aus den Tiefen der Leiblichkeit aufsteigende Bewusstseinslicht. Im Löwenmenschen sehe ich bildlich-wesenhaft das sich erhebenden Bewusstseinslicht dargestellt, das jeden Moment erstirbt und neu entsteht und damit den linearen Aspekt der Zeit hervorbringt. In der Venusfigurine sehe ich das Morallicht, das den Taten der Gegenwart karmische Konsequenzen folgen lässt und das Gewesene bleibend macht. Diesem Licht entspricht der zyklische Aspekt der Zeit.
Die Zusammenschau der vier Lichtsprüche (22 V, 31 e, 5 E, 48 w) zeigt einen Weg des Lichtes auf, der mit dem Licht aus Weltenweiten (22 V) beginnt. Dieses Licht schenkt durch den notwendig gewordenen Ausgleich Zukunft und damit Leben. Es führt den Zeitstrom aus der Vergangenheit in die Zukunft. Es gebiert und trägt mütterlich neues Leben. Während des Schlafs strömt dieses Licht vom Umkreis in den Menschen ein. Polar dazu verhält es sich mit dem Licht aus Geistestiefen (31 e). Dieses Licht entsteht durch absterbendes Leben, das sich aus der Physis wieder befreit. Die aus der Zukunft in die Gegenwart wirkenden Kräfte des Todes schenken dieses Licht und ermöglichen dem Menschen Eigenlicht. Durch das jedem Menschen geschenkte eigene Bewusstsein ist dieses Licht ein individualisierendes Licht. Es stellt den Menschen als Mikrokosmos dem Makrokosmos gegenüber. Es ist ein väterliches Licht, das den Menschen zum Nachkomme des Makrokosmos, zum “Sohn” macht.
Über die spiegelnden Lichtsprüche 22 V und 31 e
Die Mantren 22 V und 31 e sind das Lichtspruch-Paar, das die Lichtquellen thematisiert. Das andere Lichtspruch-Paar 5 E und 48 w handelt vom Beleuchteten. Wie alle Lichtsprüche sind auch diese in der beschreibenden dritten Person verfasst ohne einen bewussten, die Situation reflektierenden Ich-Sprecher. Die Mantren weisen ganz besonders viele grammatische Entsprechungen auf und auch sehr viele identische Satzteile. Sie weisen dadurch auf Themen, die eng miteinander verbunden sind.
Das Licht im Mantra 22 V ist ein Welt-Licht, das Licht im Mantra 31 e ist ein Geist-Licht. Damit steht sich der Ur-Gegensatz von Materie und Geist gegenüber. Da es beide Male um Licht geht, so ist beim Welt-Licht die geistige Seite der Materie gemeint. Da Materie vom lateinischen mater, Mutter stammt, kann angenommen werden (philologisch gedacht), dass das Welt-Licht weiblich-hervorbringenden Charakter hat. Geist wird dagegen (ethnologisch gedacht) z.B. in Märchen durch männliche Figuren ausgedrückt.
Das Welt-Licht kommt von Außen, aus Weltenweiten, aus dem Umkreis — dem Makrokosmos. Das Geist-Licht kommt aus Geistestiefen, dem eigenen Inneren — dem Mikrokosmos. Nun folgen in beiden Mantren vier weitere Schritte, was dieses Licht jeweils tut bzw. wie es sich verwandelt. Zum Schluss, im fünften Schritt, erfährt der Leser das große Warum, das Ziel des jeweiligen Prozesses.
Nach der Ausgangslage folgt der erste Schritt: Das Welt-Licht (22 V) ist aus Weltenweiten ins Innere gezogen und lebt dort kräftig fort. Das Licht aus Weltenweiten war also schon in seinem Ursprung Leben. Nun lebt es im Menschen Innern und dieses Leben ist kräftig, voller Kraft – jung und frühlingshaft. Das Geist-Licht (31 e) ist im Ursprung innen und strebt nun nach außen. Sonnenhaft von einem Mittelpunkt in alle Richtungen strahlt dieses Geist-Licht, verstrahlt und verschenkt sich – wie die Natur im Herbst. Dieses Licht lebt nicht, es strebt – es hat ein Ziel.
In beiden Mantren folgt nun ein Doppelpunkt. Er markiert eine Grenze, denn was nun als zweiter Schritt folgt ist jeweils eine Verwandlung des Lichtes. Das aus den Weiten stammende und ins Innere gezogene, lebensvolle Welt-Licht (22 V) wir zum Seelenlicht. Das aus der Tiefe stammende und nach außen strahlende, sonnenhafte Geist-Licht (31 e) wird zur Lebenswillenskraft. Eine „Überkreuzung“ der Lichter findet hier statt: das Welt-Licht war das kräftig lebende Licht, das nun Seelen‑Licht wird — das Geist-Licht war das nach außen strahlende, also vom Seeleninnenraum ausstrahlende Licht, das nun Lebenswillenskraft, kraftvoller Wille zum Leben, — auch Lebens-Licht genannt — wird. Durch diesen Schritt werden beide Lichter zu individuellen Lichtern. Sowohl das Seelenlicht als auch die Lebenswillenskraft sind nicht mehr allgemeiner, bzw. menschheitlicher Natur. Sie sind individuell geworden, sie sind das Seelenlicht und die Lebenswillenskraft eines einzelnen, individuellen Menschen.
Diese jeweils individuell gewordenen Lichter leuchten jetzt im dritten Schritt dorthin, wo das jeweils andere Licht herkam. Das Licht aus Weltenweiten (22 V) leuchtet als Seelenlicht in die Geistestiefen, von denen das Geist-Licht (31 e) kam. Das Licht aus Geistestiefen (31 e) leuchtet als Lebenswillenskraft in die Dumpfheit der Sinne, mit denen der Mensch die Weltenweiten wahrnimmt.
Nun wird im vierten Schritt in beiden Mantren das Ziel des Licht-Prozesses genannt, das übereinstimmend entbunden, also von dem bisherigen abgelöst werden soll. Im Mantra 22 V sollen durch das in die Geistestiefen leuchtende Seelenlicht Früchte entbunden werden. Im Mantra 31 e sollen durch die in die Dumpfheit der Sinne leuchtende Lebenswillenskraft Kräfte entbunden werden. Das Seelenlicht führt zu Früchten, die Lebenswillenskraft zu Kräften. Die Ur-Frucht ist der Apfel aus der Paradiesgeschichte. Er hat eine kugelig runde Form und bildet damit eine kleine, mit Substanz erfüllte Weltenweite (22 V). In den Früchten hat sich das Licht aus Weltenweiten eine Vielzahl von Abbildern geschaffen – nun nicht als Negativ‑, sondern als Positiv-Formen. Die Kraft des Lebenswillens bringt dagegen Vervielfachungen von sich selbst hervor – Kräfte eben.
Als fünften Schritt erfährt der Leser jeweils das übergeordnete Ziel, das sowohl bei den Früchten (22 V) als auch bei den Kräften (31 e) ein Reifungsprozess ist. Dadurch wird der jeweilige Licht-Prozess in einen größeren Zusammenhang eingeordnet. Die zu entbindenden Früchte lassen das Menschenselbst aus dem Weltenselbst im Zeitenlauf reifen (22 V). Die zu entbindenden Kräfte lassen die Schaffensmächte aus den Seelentrieben im Menschenwerk reifen (31 e).
Die zu entbindenden Früchte (22 V) tragen also Reifungszyklus für Reifungszyklus — Jahr für Jahr und Inkarnation für Inkarnation — bei, dass das Menschenselbst aus dem Weltenselbst reift. Das Menschenselbst verstehe ich als das Geistselbst, als das aus dem Astralleib sich entwickelnde rein geistige Wesensglied. Es reift aus dem Weltenselbst, das ich mir als Verursacher des Lichtes aus Weltenweiten denke.
Die zu entbindenden Kräfte (31 e) bewirken also, dass Schaffensmächte – Schöpferkompetenzen, Schöpferkräfte – aus Trieben der Seele im Menschenwerk reifen. Ein Schöpfer ist jemand, der mit den Kräften des Lebensgeistes, des umgewandelten Ätherleibes wirken kann. Das Menschenwerk ist das Werk des Menschen. Sein größtes Werk ist es, aus eigener Kraft — durch sein Ich — die niederen Wesensglieder in die höheren umzuwandeln – sich als Geistmenschen zu erschaffen. Dieser Geistmensch reift aus den Seelentrieben, den zu läuternden Trieben der Seele. Die Voraussetzung für diesen Reifeprozess ist das Ich-Bewusstsein des Menschen, das er hat durch den aus Geistestiefen aufsteigenden Strom seines inneren Lichtes — seines Bewusstseins — hat und mit dem er sich als Ich erfasst.
Der Fünfstern ist die Form des Menschen. Beide Mantren lassen sich als eine geschlossene Durchgehung des Pentagramms lesen.
Die spiegelnden Lichtsprüche 22 V und 31 e als Pentagramm
(Die Nummern bezeichnen die jeweilige Zeile)
Das Licht aus Weltenweiten (22 V), das aus dem Umkreis einstrahlende Leben, führt über das Seelenlicht zu Früchten, die Menschenselbst aus Weltenselbst reifen lassen. Die Venusfigurinen zeigen den Zeitenleib der großen, alles hervorbringenden Muttergöttin, in deren Leib stets alles Leben ruht. Niemand kann aus der Zeit herausfallen, solange er lebt. In ihr reifen die Früchte. Sie ist das Weltenselbst, aus dem das Menschenselbst heraus reift. Der Schritt der Geburt, das Heraustreten aus dem Zeitenleib bedeutet physisch zu sterben.
Das Licht aus Geistestiefen (31 e), das aus dem Leben sich befreiende, strebende, sonnenhafte Bewusstsein, führt dazu, dass mit dem individuellen Bewusstsein auch das Leben als ein eigenes wahrgenommen wird. Hier steht der Löwenmensch, die Verkörperung der linearen Zeit, die Einzigartigkeit jedes Augenblicks.
Die aus der Tiefe aufstrebende Licht-Kraft des Individuums wird Lebenswillenskraft, zur Kraft, das eigene Leben zu bewahren. Die Lebenswillenskraft leuchtet in die Sinne. Rudolf Steiner nennt diese Kraft “Begehren” im Unterschied zur urteilenden Denk-Tätigkeit, die auf den Sinneseindruck folgt: „Das andere, was zum Seelenleben gehört, das Urteilen, wird gerade beim unmittelbaren Sinneserlebnis ausgeschaltet. Da macht sich das Begehren, das Hingebende und Exponierende der Seele gegenüber den äußeren Eindrücken allein geltend. Ein Sinneseindruck ist gerade dadurch charakterisiert, daß die Aufmerksamkeit bei ihm so hingeordnet ist, daß die Urteilsfällung als solche ausgeschaltet wird. Wenn sich die Seele dem Rot oder irgendeinem Ton exponiert, lebt in diesem Exponieren nur Begehren, und die andere Seelentätigkeit, das Urteilen, wird in diesem Falle ausgeschaltet, unterdrückt.“ (GA 115, S. 160) Dieses Kraft-Licht will also die eingetretene Spaltung in Individuum und Umwelt überwinden, indem das Licht in die Sinne leuchtet. Ohne dieses Licht wären die Sinne dumpf, unfähig zur Wahrnehmung. Nicht erst der Wahrnehmungsgegenstand, auch schon die Sinne selber gehören laut Rudolf Steiner der Welt an. Er schreibt im 171. Leitsatz: „Die menschliche Sinnesorganisation gehört nicht der Menschen-Wesenheit an, sondern ist von der Umwelt während des Erdenlebens in diese hineingebaut. Das wahrnehmende Auge ist räumlich im Menschen, wesenhaft ist es in der Welt. Und der Mensch streckt sein geistig-seelisches Wesen in dasjenige hinein, was die Welt durch seine Sinne in ihm erlebt. Der Mensch nimmt die physische Umgebung während seines Erdenlebens nicht in sich auf, sondern er wächst mit seinem geistig-seelischen Wesen in diese Umgebung hinein.“ (Lit.: GA 26, S. 236)
Durch diesen Prozess der Welt-Verbindung werden Kräfte entbunden, die die individuelle Seele mit ihren Trieben reifen lassen. Aus den instinkthaften Seelentrieben sollen bewusst handhabbare Schaffensmächte werden. Diese Schaffensmächte sind enthalten im Menschenwerk. Das scheint ein Widerspruch zu sein. Das Werk, das gleichzeitig Schaffenskräfte enthält ist das schöpferische Wort. Entsprechend der großen Mutter im Mantra 22 V geht es hier um die schöpferisch-zeugende Vaterkraft. Es geht um die Gestaltung zukünftigen Lebens aus dem Geist, dem Geist-Licht.