Bildquelle: Ganz Natürlich — Ju Dosi‘s Bilder
23 W
Es dämpfet herbstlich sich
Der Sinne Reizesstreben;
In Lichtesoffenbarung mischen
Der Nebel dumpfe Schleier sich.
Ich selber schau in Raumesweiten
Des Herbstes Weltenschlaf (Winterschlaf).
Der Sommer hat an mich
Sich selber hingegeben.
Weltenschlaf oder Winterschlaf und was damit gemeint ist
Für dieses Mantra gibt es zwei handschriftlich dokumentierte Fassungen von Rudolf Steiner. Beide sind im Druck zu finden. <Weltenschlaf> steht in der als Faksimile erhältlichen Ausgabe des Seelenkalenders von 1912/13; <Winterschlaf> schrieb Rudolf Steiner auf das Blatt mit der Eurythmie-Form.
Die Bedeutung des Wortes “Winterschlaf” ist klar. Bären und andere Tiere fallen im Winter in einen schlafähnlichen Zustand reduzierter vegetativer Funktionen und Wachheit, eben in den Winterschlaf. Doch was ist mit “Weltenschlaf” gemeint? Rudolf Steiner benutzt das Wort, um das nachfolgende Erwachen der Erde aus der Weltennacht, dem sogenannten Pralaya zu beschreiben. “Aus diesem Weltenschlaf tritt dann die vierte Metamorphose unserer Erde zutage: unser Planet, die Erde selbst.” (Lit.: GA 109, S. 226ff)
Als Pralaya (skrt. प्रलय „Untergang, Zerstörung“) oder Weltennacht wird jener Zwischenzustand bezeichnet, während dem sich ein in Entwicklung begriffenes Weltensystem vollständig aus der äußeren räumlichen Offenbarung, dem sog. Manvantara oder Weltentag, in ein rein geistiges Dasein zurückzieht.” (Anthrowiki.at, Planetensystem)
Sowohl Winterschlaf als auch Weltenschlaf meinen eine Phase ohne waches Selbstbewusstsein. Auch unsere Erde ist dadurch als ein Lebewesen beschrieben mit aufeinander folgenden “Inkarnationen” und wechselnden Graden von Bewusstsein. Sie schläft in der Weltennacht und wacht am Weltentag. Beim Menschen entspricht der Weltenschlaf der Zeit nach dem Tod, in der er ein rein geistiges Dasein hat.
Sehe ich im Jahreslauf den Weg der Seele durch das Leben und auch durch den Tod bis zu einer neuen Inkarnation abgebildet, lässt sich fragen, wann die Zeit des Weltenschlafes uns vor Augen geführt wird. Überraschenderweise ist dies nicht so eindeutig, wie zunächst gedacht. Zum einen beschreibt Rudolf Steiner die Heilige Nacht als die Welten-Mitternachts-Stunde. Zum anderen ist der Hochsommer die Zeit, in der die Erde ganz ausgeatmet hat und „schläft“. Im Mantra 23 W ist vom Welten- oder Winterschlaf im beginnenden Herbst die Rede. Die Frage möchte ich deshalb offen lassen.
Warum das Mantra 23 W so düster ist — das Yin-Yang-Symbol
Das Mantra 23 W hat einen überraschend dunklen Charakter. Sein Gegenspruch, das Mantra mit dem gleichen Buchstaben im Winterhalbjahr ist dagegen der Lichtspruch 48 W. Was zeigt sich dadurch?
Stelle ich mir die beiden gegensätzlichen Jahreshälften des Sommer- und Winter-Halbjahres nicht durch einen geraden Schnitt durchtrennt vor, sondern mit dynamischen Übergängen, entsteht das bekannte Symbol der “Yin und Yang Fischchen”. Das Yin-Yang Symbol stammt aus China (11. Jahrhundert) und bedeutet dort wörtlich: „Symbol des sehr großen Äußersten / Höchsten“ (Wikipedia.org). Yang steht für das weiße, helle, harte, heiße, männliche, aktive, bewegende Prinzip und Yin für das dunkle, weiche, kalte, weibliche, passive ruhende Prinzip. Das Symbol zeigt den großen Wandel zweier Polaritäten, der im Jahreslauf sein Urbild hat. Beide “Fischchen” haben den entgegengesetzten Pol in sich integriert als “Auge”. Wie ein Same das Zukünftige birgt, ist dies “Auge” Garant für den Ausgleich. Danach gewinnt — zunächst ganz unmerklich, sichtbar als dünnes “Schwänzchen” — der entgegengesetzte Pol an Einfluss, bis er sich zum ganzen “Fischchen” ausgewachsen hat.
Der Seelenkalender und die Yin und Yang “Fischchen”
Das Yin und Yang Symbol erscheint im Seelenkalender, wenn ich das Mantra 23 W als das dunkles “Auge” im hellen Sommer-Halbjahres-“Fischchen” ansehe und den Lichtspruch 48 w als das helle “Auge” im dunklen Winter-Halbjahre. Diese beiden Wochen sind die Samen der jeweils polaren Halbjahre. Ab dieser Zeit beginnt sich die neue Energie einzuleben und an Kraft zuzunehmen, bis sie zum Halbjahres-Wechsel beherrschend wird. Mit dem dunklen Auge, dem Mantra 23 W, beginnt das schwarze “Schwänzchen” zu wachsen und das Winter-Halbjahr vorzubereiten.
Wie kann ich das Mantra 23 W verstehen?
Das Streben der Sinne nach Sinnesreizen kennt wohl jeder. Kaum sind wir erwacht, sind unsere Sinne auf “Informationssuche”. Doch um gut einschlafen zu können, muss dieser Sinneshunger reduziert werden. Im Mantra 23 W wird diese nach innen gerichtete, sich abschließende Seelenbewegung im Bild des Herbstes beschrieben.
Es ist der Astralleib, der nach Sinnesreizen hungert und dürstet. Er sendet durch die Sinne Lichtstrahlen voller Weltinteresse nach außen. Damit ‘nährt´ er sich und ermöglicht Bewusstsein. Die Seele braucht die Anregung aus der Sinneswelt, um sich lebendig zu fühlen und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Diese Unterscheidung und Abgrenzung von Innen und Außen ermöglicht es dem Ich, in der Seele zu wirken. Das Mantra 23 W beschreibt die Seelenstimmung, in der das Ich als neue Kraft in der Seele beginnt zu wirken, d.h., wenn sich das Ich darin zur Geltung bringt und beginnt, sich zu entwickeln.
Für die Seele geschieht dadurch ein Umnebeltwerden. Sie wird verschleiert. Das strahlende Astrallicht, das im Lichtspruch 22 V aus Weltenweiten kommend zum Seelenlicht wurde, ist nun im Mantra 23 W die Lichtesoffenbarung. Sie mischt sich mit dumpfen Nebelschleiern. Wie ist das zu verstehen? Im Zuge der Ichentwicklung wirkt zunächst das Ego und mischt selbstsüchtige Interessen in die Ausstrahlung hinein und verdunkelt das Astrallicht.
Wenn Licht durch eine Trübung scheint, wird es farbig. Auch die Aura, die Ausstrahlung des Menschen wird als farbig beschrieben. Entsteht diese Farbigkeit, weil das Ich abgrenzend und verschleiernd wirkt? Es ist die Aufgabe des Ichs, den Reizeshunger des Astralleibs zu führen und zu begrenzen. Hier liegt das Entwicklungspotential des Ichs. Die Wahrnehmung ist wie ein Strom aus Informationen, der beständig fließt. Die Ich-Kraft ermöglicht es uns, aus diesem Strom auszuwählen, Prioritäten zu setzen, den Fokus zu halten und aus der Übersicht Zusammenhänge zu erkennen. Dadurch tauchen wir auf aus diesem Strom, die Welt steht uns nun gegenüber. Wir erwachen in die Gegenwärtigkeit.
Auch im Mantra erscheint nun dieses Ich als bewusster Ich-Sprecher. Als Leser identifiziere ich mich mit ihm. Ich schaue nun heraus aus der Hülle meines Astralleibs in die Weiten des Raumes. Ich schaue in Raumesweiten den Schlaf der zur Reife gekommenen Welt. Der Herbst ist die Zeit der Reife. Das Ich lässt sich vergleichen mit dem Samen, aus dem eine neue Welt erstehen soll. Dieses Ich schaut die Ruhephase, die die eine Schöpfung von der anderen trennt, die Pralaya-Zeit, die Nacht zwischen den Schöpfungstagen, den Welten- bzw. Winterschlaf. Äußerlich ist auch der Winter solch eine Ruhephase und der Herbst nicht nur die Zeit der Reife, sondern auch des Ersterbens.
Rudolf Steiner beschreibt jedes Wesensglied als verwandt mit einem Naturreich: der physische Leib mit dem Mineralreich, der Ätherleib mit dem Pflanzenreich, der Astralleib mit dem Tierreich, das Ich mit dem Menschenreich. Die Wesensglieder, die mit den Naturreichen verwandt sind, gehören zur Raum-Welt. Sie müssen mit der Natur mit-leben und im Herbst tendenziell mit in den Tod gehen. (Nach dem Tod des Menschen lösen sie sich dann wirklich auf und leben nicht fort.) Sie schlafen den Weltenschlaf. Nur durch das Ich hat der Mensch die Möglichkeit, sich aus dem Naturgeschehen auszuklinken, in der Gegenwart zu erwachen und dadurch nicht mehr in der Raum-Welt, sondern in der Zeit-Welt zu leben. Das so erwachte Ich kann sich gegenüberstellen und in der Pralaya-Zeit bestehen. Als wachendes, geistiges Wesen kann das Ich den Welten- oder Winterschlaf der Naturreiche in den Raumesweiten schauen.
Nun geht im Mantra die Aufmerksamkeit nach innen. Das Ich blickt auf sich selber. Hier nimmt der Ich-Sprecher die gebündelte Lichtkraft des Sommers wahr, seine Wärme und Fülle. Im Außen ist der Sommer vergangen. Hier sind Verdunkelung und dumpfe Nebelschleier zu sehen. Doch im Innern ist Licht und Wärme. Die gesamte, gebündelte Lichtfülle und Wärme des Sommers finden sich hier. Der Ich-Sprecher erkennt: der Sommer ist eingezogen in mich. Er hat sich an mich hingegeben, sich mir hingeopfert.
Der Sommer ist hier ein Selbst, denn er hat sich selber hingegeben. Das Selbst des Sommers ist die Schöpferkraft auf ihrem Zenit der Wirksamkeit. Indem mein Ich als ein sich entwickelnder Keim der neuen Schöpfung geschaffen wurde, ist die ganze Schöpferkraft der alten Schöpfung, der Sommer, in mich eingezogen. Mein Ich ist der werdende Gott in meinem Innern.
Eine große Einsamkeit spricht aus den Zeilen. Den Ich-Sprecher umgibt soweit das Auge reicht herbstliche Dunkelheit und Schlaf. Nur in ihm selber ist Sommer, nur im Innern leuchtet und wärmt das in ihn eingezogene Licht. Das ist Ich-Erlebnis. Das Ich ist der sich entwickelnde, reifend Same einer zukünftigen Schöpfung.
Ergänzung: Die Entstehung von Rot und Blau und die Quelle des Lichtes
Rudolf Steiner legte großen Wert darauf zu beachten, wie die Farben Rot und Blau ursprünglich entstehen und zwar als Morgen- bzw. Abendröte und als Bläue des Himmels. Rot erscheint, wenn das Licht durch Trübe, durch die Materie scheint: so sehen wir es rot. Wenn aber das Licht die Trübe unserer Luftschicht bescheint, das Licht auf die Trübe trifft, so erscheint der blaue Himmel: wir sehen blau.
“Da haben Sie die zwei Grundgesetze der Farbenlehre, die Sie einfach an der Umgebung ablesen können. Wenn Sie die Morgen- und Abendröte richtig verstehen, so sagen Sie sich: Licht durch Dunkelheit oder Licht durch Finsternis gesehen, ist rot. Wenn Sie am Tag hineinschauen in den schwarzen Himmelsraum, sagen Sie sich: Dunkelheit oder Finsternis durch Licht gesehen — weil es rings um Sie herum beleuchtet ist -, ist blau. Sehen Sie, diese ganz natürliche Anschauung, die hat man immer gehabt, bis die Menschen «gescheit» geworden sind.” (GA 349, S. 36)
Der Beobachter steht also das eine Mal der Lichtquelle gegenüber, sie ist vor ihm. Das andere Mal schaut er mit dem Licht, die Lichtquelle ist hinter ihm. Steht er der Lichtquelle gegenüber und Trübe, also Materie ist zwischen der Lichtquelle und dem Beobachter, erscheint das Licht rot. Steht er jedoch mit dem Licht im Rücken und schaut in die gleiche Richtung, wie das Licht strahlt, das auf die Trübe trifft, auf die Materie, so erscheint der blaue Himmel. Durchleuchtete Materie erscheint rot, angestrahlte Materie erscheint blau.
Nach dem Mantra 22 V, das vom Licht, dem Leben im Innern und den (roten) reifenden Früchten spricht — in dem wir dem Licht sozusagen aufnehmend gegenüberstehen, zeigt das Mantra 23 W eine Umwendung. Der Ich-Sprecher schaut in Raumesweiten. Die beruhigende Wirkung, die Rudolf Steiner dem Blau zuschreibt, zeigt sich schon in dem gedämpften Reizesstreben. Könnte es sein, dass er durch die Umwendung hier selber zur Lichtquelle wird?
Die sechste Stufe im Sternbereich – die Stufe der Kyriotetes
„Es gibt eine weitere Ordnung, die uns lehrt, Höheren die gebührende Ehrfurcht entgegenzubringen; daher wird sie als Herrschaften (Dominationes, Kyriotetes, Geister der Weisheit) bezeichnet. Zu dieser Ordnung werden diejenigen gehören, die ihren Herren in der gebührenden Weise gehorchen. …
Arbeite also, o Mensch, damit du … als einer, der den gebotenen Gehorsam zeigt, dich mit den Herrschaften verbinden wirst; …“ (Alanus ab Insulis, Übersetzt und veröffentlicht von Wolf-Ulrich Klünker unter dem Titel, „Alanus ab Insulis“, 1993, S. 53f)
Es erstaunt sehr, an dieser Stelle den Gehorsam und das Dienen zu finden. Dagegen hat nach Alanus ab Insulis die viel niedriger stehende Ordnung der Archai die Aufgabe, <den Fürsten zu lehren, sein Volk zu regieren. Und zu dieser Ordnung wird gehören, wer seine Untertanen vernünftig regiert>. Warum ist das so? Was könnte der Grund dafür sein?
Die neun Engelhierarchien gliedern sich in drei mal drei Gruppen:
Erste Hierarchie:
Seraphim
Cherubim
Throne
Zweite Hierarchie:
Kyriotetes
Dynamis
Elohim
Dritte Hierarchie:
Archai
Erzengel
Engel
Die Kyriotetes stehen auf dem höchsten Rang der mittleren Gruppe, der zweiten Hierarchie, zu der noch die Dynamis und die Elohim gehören. Die Archai haben ebenso den höchsten Rang in ihrer Gruppe, der dritten Hierarchie, zu der außerdem die Erzengel und Engeln gehören. Über den Kyriotetes ist die erste Hierarchie mit den Seraphim, den Cherubim und den Thronen.
Offensichtlich ist es die Aufgabe der Kyriotetes, den Willen dieser höchsten Hierarchie den unter ihren stehenden Engelgruppen zu vermitteln. Dafür müssen sie den höheren dienen und ihnen gehorchen. Die Hinwendung nach oben steht im Vordergrund. Die Archai dagegen sind die Fürsten über Erzengel und Engel; die Archai regieren und wenden den unter ihnen stehenden Stufen zu.