Die Gegensprüche 2 B und 28 b
2 B
Ins Äußre des Sinnesalls Verliert Gedankenmacht ihr Eigensein; Es finden Geisteswelten Den Menschensprossen wieder, Der seinen Keim in ihnen, Doch seine Seelenfrucht In sich muss finden. |
28 b
Ich kann im Innern neu belebt Erfühlen eignen Wesens Weiten Und krafterfüllt Gedankenstrahlen Aus Seelensonnenmacht Den Lebensrätseln lösend spenden, Erfüllung manchem Wunsche leihen, Dem Hoffnung schon die Schwingen lähmte. |
Die Eurythmieformen zu den Mantren 2 B und 28 b
Über den Buchstaben “B”
Das B ist der erste Konsonant nach dem Vokal A. So wie das A als der Ur-Laut und im spezielleren als der Ur-Vokal angesehen werden kann, so ist das B der Ur-Konsonant, das Hülle und Form gebende, Leibliche schlechthin. Rudolf Steiner sagt: „Die Griechen haben nicht ein A, ein Alpha, so gedacht, ohne an den Menschen zu denken. Sie wurden gleich an den Menschen erinnert. Und sie haben nicht ein Beta gehabt, ohne sich an ein Haus zu erinnern, worin der Mensch wohnt. Das Alpha ist immer der Mensch. Sie stellten sich etwas dem Menschen Ähnliches vor. Und bei Beta, da stellten sie sich etwas, was um den Menschen herum ist, vor. Da wurde dann das jüdische Beth und das griechische Beta das Umhüllende um das Alpha, das noch drinnen ist als geistiges Wesen. So würde auch der Körper das Beth, Beta sein, und das Alpha der Geist darinnen. Und nun reden wir heute vom «Alphabet» — das heißt aber für die Griechen: «der Mensch in seinem Haus», oder auch: «der Mensch in seinem Körper», in seiner Umhüllung.” (GA 353, S. 226) Und an anderer Stelle nennt Rudolf Steiner dieses Haus des B den Tempel.
Das Bergende, Bewahrende des B impliziert auch, dass diese Begrenzung durchbrochen wird. Hermann Beckh sagt, dass dem Namen des indischen Schöpfergottes Brahman das seelische Erleben des sich Ausweitens, sich Ausdehnens ins Kosmische zugrunde liegt, denn die Wurzel ‘brh’, auf die auch das deutsche Wort Berg zurückgeht, bedeutet ‘groß sein, weit sein, sich ausweiten’. “Das B von ‘Brahman’ ist der Sinnes-Schleier, der durch-‘brochen’ wird, über den hinaus die Seele sich aus-‘breitet’ in das A und H der göttlichen Welt, des göttlichen Hauches.” (Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 80)
Über die Gegensprüche 2 B und 28 b
Schon beim ersten Lesen fällt auf, dass beiden Mantren, 2 B und 28 b, die sich weitende, sich ausbreitende Geste gemeinsam ist. Im Mantra 2 B wird der Zusammenhang des Menschen — ich würde sagen sogar der Menschheit — mit den Geisteswelten, also mit dem, was nicht Innenwelt ist geschildert. Diese Beschreibung erfolgt sachlich, allgemeingültig. Sie ist in der neutralen dritten Person verfasst. Im Mantra 28 b beschreibt der Ich-Sprecher sein eigenes Erleben im Innenraum seiner Seele. Hier fühlt er die Weite seines eigenen Wesens und auch die Seelensonnenmacht ist eine ausstrahlende Macht. Schaut das Mantra 2 B wie von außen auf den Menschen, übermittelt das Mantra 28 b das nur von einem einzelnen Ich zu erfahrende Innenerlebnis.
Das Mantra 2 B schildert das Objektivwerden der Gedankenmacht, indem sich diese nach außen an die Sinne, genauer an das Sinnesall, die gesamte Wahrnehmungswelt wendet — mit der Wahrnehmung ausstrahlt. Das Gegenteil ist der Fall, wenn die Macht der Gedanken sich nach innen wendet, denn dann kann es passieren, dass diese Macht phantastische, unrealistische und unwahre Gedanken bildet. Die Wahrnehmungswelt ist das Korrektiv für zu eigenmächtige Gedankenschöpfungen.
Dem Verlieren des Eigenseins (2 B) durch die Hingabe an die Wahrnehmung, an das Sinnesall, steht das intensivierte, neu belebte Erleben des eigenen Innenraumes im Mantra 28 b gegenüber. Der Ich-Sprecher kann die Weiten des eigenen Wesens erfühlen und sich selber als neu belebt wahrnehmen. Im Mantra 2 B ist der Prozess ein Verlieren, im Mantra 28 b kam neue Lebenskraft hinzu.
Beide Mantren sprechen von der Seelenfähigkeit des Denkens und von Macht, der Gedankenmacht (2 B) und der Seelensonnenmacht, die die Gedankenstrahlen aussendet. Im Mantra 2 B üben die Gedanken selber, d.h. die Ideen Macht aus, im Mantra 28 b ist es die Seelensonne, die Macht innehat. Im Mantra 2 B ist es die Macht der Gedanken, die ihr Eigensein, ihre Willkür verliert, wenn die an der Außenwelt gemachten Wahrnehmungen zugrunde gelegt werden. Dann werden die Ideen wirklichkeitsgemäß, objektiv bzw. objektiver. Die Gedanken werden klarer. Im Mantra 28 b kann der Ich-Sprecher, der selber mit Kraft, mit Lebenskraft erfüllt ist, Gedankenstrahlen aus der Sonnenmacht seiner Seele spenden. Die Seelensonnenmacht ist die ausstrahlende Macht des Bewusstseins, die Sonne des Bewusstseins. Der Strahl dieser Lichtquelle des Bewusstseins ist ein Gedankenstrahl, eine stringent und logisch, am roten Faden entwickelte Idee. Der Ich-Sprecher kann sein Denk‑, sein Erkenntnislicht dorthin senden, wo es dunkel ist — zu den Lebensrätseln. Bei der Gedankenmacht (2 B) geht es um Ideenzusammenhänge, um menschheitliche, Macht ausübende Hypothesen über das Dasein, die wenn sie nicht wirklichkeitsgemäß sind, die Menschen täuschen. Dann weisen sie Eigensein auf, menschliche Begrenztheit. Die Gedankenstrahlen meinen dagegen die vom einzelnen Individuum auszuführende Tätigkeit des Denkens, die wie alle Betätigung Kraft und Hingabe — Spende — braucht.
Wenn der Ideengehalt der geistigen Realität entspricht, die durch die Schöpfung in allen Dingen liegt, finden die Geisteswelten den Menschen wieder (2 B). Der Mensch wird sichtbar für die geistige Welt, weil geistgemäßes Denken sozusagen leuchtet. Im Mantra 28 b beleuchtet der Ich-Sprecher dagegen die Lebensrätsel mit seinen eigenen Gedankenstrahlen. Er ist durch die Sonnenmacht seiner Seele selber Lichtquelle.
Die Geisteswelten des Mantras 2 B sind nicht geistige Wesen, geistige Lichtquellen, sondern sie sind das Gewebe der Weisheit, der Schein des Lichtes. Allerdings können diese geistigen Welten selber handeln. Sie können den Menschen wiederfinden, wenn der Mensch das ihn begrenzende Eigensein verliert. Der Aktivität der Geisteswelten steht der passive Verlust des Eigenseins auf Seiten des Menschen gegenüber. Mit dem Verlust des Eigenseins, der Willkür im Denken, wird der Mensch pflanzenhaft. Er wird als Spross, als Menschenspross geschildert, dann als Keim, der in Zukunft Frucht hervorbringen wird. Als Pflanze ist der Mensch einstmals den geistigen Welten entkeimt. Wie die Pflanze in den Gesetzmäßigkeiten ihrer Bildung Ausdruck der kosmischen Sternengesetze ist, so findet der Mensch seinen Keim, seinen Ursprung in der Weisheit dieser Welten. Weisheit hat ihn gebildet. Anders sieht es mit seiner Zukunft aus. Seine Seelenfrucht kann er dort im Reich der Weisheit nicht finden. Für diese Seelenfrucht muss er sich verändern. Er muss sein Pflanzenleben aufgeben und Innenraum bilden, denn seine Seelenfrucht muss er in sich finden. Innenraumbildung ist das Charakteristikum des Tier- und auch des Menschenreiches.
Durch Keim und Frucht beschreibt das Mantra den großen Bogen menschlicher Entwicklung in einer ewig gültigen Art und Weise.
Auch das Mantra 28 b zeigt am Ende eine Zukunftsausrichtung der Seele. Jeder Wunsch ist eine vorstellungsmäßige Vorwegnahme einer erwünschten Zukunft. Wird der Wunsch erfüllt, füllt er sich mit Realität. Doch diese Realität ist stets eine Vergängliche, denn alles Sein ist der Zeit und damit der Veränderung unterworfen — die Erfüllung, die Realisierung des Wunsches kann nur geliehen werden. Das Mantra spricht also eindeutig vom Menschen in der irdischen Welt.
Verwendete das Mantra 2 B Pflanzenbilder, um den Menschen zu beschreiben, so erscheint im Mantra 28 b ein Hinweis auf die Vogelwelt. Der Wunsch hat Schwingen wie ein Vogel — oder ein Engel, doch die Hoffnung lähmt diese Flugfähigkeit der Seele. Der Wunsch entstammt dem Innersten, dem Herzen und hebt den Menschen über sich hinaus. Deshalb hat er Schwingen. Der Wunsch selber lässt sich mit der Blüte einer Pflanze vergleichen, die Erfüllung des Wunsches mit der gereiften Frucht. Eine lähmende Hoffnung ist eine passive, wartende Haltung der Seele, die durch die krafterfüllten Gedankenstrahlen überwunden wird.
Das Mantra 2 B schildert den Menschen auffallend passiv. Zunächst geht es um die Gedankenmacht als solche, die nur durch ihr Eigensein als menschlich zu erkennen ist. Danach wird der Mensch durch Bilder aus dem Pflanzenreich beschrieben. Verlieren und Gefunden-werden ist das, was ihm passiert. Nur am Schluss findet sich eine Aufforderung zur Aktivität, zum Finden der Seelenfrucht in sich selber. Doch diese Aktivität ist kein Angebot, sondern Notwendigkeit, Gesetz, dem der Mensch unterworfen ist. Er muss. Von Freiheit ist in diesem Mantra keine Spur.
Ganz anders im Mantra 28 b. Es beginnt schon mit “Ich kann” und macht deutlich, dass der Ich-Sprecher nicht muss. Er kann die Weiten des eigenen Wesens erfühlen; er kann die krafterfüllten Gedankenstrahlen aus der Sonnenmacht seiner Seele den Lebensrätseln zur Lösung spenden; er kann dem Wunsch Erfüllung leihen. Dieses Mantra ist ganz Möglichkeit, ganz Angebot eigener Aktivität. Hier herrscht Freiheit, wie der Ich-Sprecher seine Möglichkeiten nutzen will.
Im Mantra 2 B erscheint der begrenzende, haltgebende Aspekt des B, die Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit der Umhüllung. Im Mantra 28 b ist der Ich-Sprecher das Wesen, das die Umhüllung bewohnt und durch den Wunsch das Gewordene überwindet, die Begrenzung durchbricht. Auch diese Qualität gehört zum B, werden die Lippen bei seiner Aussprache doch sanft gesprengt.