Die Zwischen-Gegensprüche 6 F und 32 f
6 F
Es ist erstanden aus der Eigenheit Mein Selbst und findet sich Als Weltenoffenbarung In Zeit- und Raumeskräften; Die Welt, sie zeigt mir überall Als göttlich Urbild Des eignen Abbilds Wahrheit. |
32 f
Ich fühle fruchtend eigne Kraft Sich stärkend mich der Welt verleihn; Mein Eigenwesen fühl ich kraftend Zur Klarheit sich zu wenden Im Lebensschicksalsweben. .… .… |
Die Eurythmieformen zu den Zwischen-Mantren 6 F und 32 f
Über den Buchstaben “F”
Das F steht gewissermaßen am Ende einer Entwicklungsreihe, denn es ist aus dem alten phönizischen ‘Waw’, ‘Vav’ (vv) oder ‘Vau’ hervorgegangen. Dieser Waw-Laut umfasste nach Herman Beckh alle Übergänge zwischen dem vokalischen U über das stimmhafte W bis zum verhauchenden F. Das V, das im Deutschen mal als F, mal als W gesprochen wird, gehört in diese Reihe und zeigt einen Rest dieser Klangvarianz. (nach Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 127)
Rudolf Steiner beschreibt den Charakter des F folgendermaßen: “Das F ist vielleicht schwer zu empfinden in dem heutigen sprachlich so verschrumpelten Leben. Aber es kann einem zuhilfe kommen eine Redensart, die ziemlich allgemein gebraucht wird. Man sagt nämlich, wenn einer über etwas Bescheid weiß: einer kennt die Sache aus dem FF. Und in den Mysterien sagte man über das F: Wenn jemand das F spricht, stößt er den ganzen Atem aus: der Atem aber ist dasjenige, wodurch die Gottheiten den Menschen geschaffen haben, was also die ganze menschliche Weisheit im Winde enthält. … Sodass alles dasjenige, was der Inder lernen konnte, indem er in der Yoga-Philosophie den Atem beherrschen lernte, dadurch sich mit innerer Weisheit füllte, er dann fühlte, wenn er das F ausstieß … Man machte seine Yoga-Übungen, deren Technik darinnen bestand, dass man innerlich fühlte die Organisation des Menschen, die Fülle der Weisheit. Und im Aussprechen des F fühlte man, wie einem die Weisheit im Worte bewusst wurde. F kann daher nur richtig empfunden werden, wenn man auch noch nachfühlt, wie eine gewisse Formel … in den ägyptischen Mysterien lautete: Willst du anzeigen, was die Isis ist, die da weiß das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige, die niemals ganz enthüllt werden kann, so musst du es in dem Laute F tun. Das sich Erfüllen mit der Technik des Atems, das Erleben der Isis im ausgehauchten Atmungsvorgange ist im F. Sodass eigentlich F nicht ganz genau, aber annähernd gefühlt werden kann als: ‘Ich weiß’. (GA 279 in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 128)
Allwissende Frauen waren die drei Nornen der nordischen Mythologie, die im römischen Reich als die ‘tria fata’ bekannt waren, die drei Matronen. Das lateinische Wort für Schicksal, ‘fatum’, hängt mit diesen weisen Frauen zusammen. Daraus wurde das deutsche Wort Fee, das durch keltischen Einfluss eine mehr elfenartige Bedeutung erlangte.
Das F ist zunächst der Laut der gefühlten, aus dem eigenen Inneren stammenden Weisheit. Rudolf Steiner sagt: “Das F ist das Bewusstsein von dem Durchdrungensein mit der Weisheit. Wenn man das eigene Wesen zuerst in sich empfindet, und dann es in dem Aushauchen, in dem Ausatmen erlebt … dann hat man das F. Man erlebt die Weisheit seiner selbst, gewissermaßen den eigenen Ätherleib im Aushauchen. In dem F haben wir sehr genau drinnen die Nachahmung dieses so viel sagenden bewussten Aushauchens.” (GA 279 in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 133)
Als dieses ursprüngliche Erleben der Weisheit verloren ging, entschwand auch der elementare Zugang für das F und es wurde der Laut des Wissens, des findigen, sogar spitzfindigen Erfinders. Mit gespitzten Lippen scheinen und werden wir pfiffig — und pfeifen auf jede Ordnung. Homer nannte Odysseus “listenreich”. Homer schildert in ihm den modernen Menschen, denn Odysseus zeichnete sich bei seinen Abenteuern durch listenreiche Ideen aus. Gleichzeitig hatte er seine Heimat verloren und irrte zehn Jahre umher, bis er wieder nach Hause fand.
Der luziferische Einfluss mit dem Sündenfall macht sich geltend im Verb ‘fallen’, das mit dem lateinischen ‘fallere’, ‘täuschen’, zusammenhängt, ebenso in den Worten ‘falsch’, ‘fies’, ‘Fede’ (Streit), ‘Falle’ und ‘Teufel’. Zugleich ist das F auch der Laut des Schönen, der Farbe, des Funkelns, des Feuers, der Freiheit und Freude. Das griechische Phi-Zeichen steht in der Mathematik für die Zahl des Goldenen Schnittes, der Harmonie der Proportionen.
Ein isländischer Runenreim lautet folgendermaßen:
Aurum ist Gold
Gold ist Vieh (fé)
Vieh (fé) ist der Runenstab.
(Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 142)
Was ist mit dem Gold und dem Vieh gemeint? Das Gold ist ist die Erinnerung an das Goldene Zeitalter der Urzeit, an das Weisheitsgold des damaligen Bewusstseins. Das instinktive Wissen der Tiere, des Viehs, erinnerte die Menschen an diesen Bewusstseinszustand. Pallas Athene wird ‘kuhäugig’ genannt, denn die Kuh verkörpert diese alte Weisheit, das Pferd dagegen die menschliche Intelligenz. Die Milch der Kuh erinnerte die Menschen an die nährende, weisheitsvolle Urflut, die alles Leben ins Dasein trägt. Auch die Milchstraße am nächtlichen Sternenhimmel ist Bild dieser Erinnerung. Nicht der einzelne Mensch hatte damals Weisheit. Sie lebte in der Gemeinschaft, in der Gruppenseele. Die Weisheit umgab die Menschen wie die Luft zum Atmen, als sie noch eine “Herde” waren. Hier erlauschten sie das Urwort, indisch ‘Vâc’, von dem die Veden erzählen. ‘Veda’, wörtlich ‘Wissen’, heißen die alten, heiligen indischen Texte.
Wer heute etwas wissen will, muss sich das Wissen durch Lernen aneignen, bis er es aus dem FF kann. Auch diesen Aspekt beinhaltet das F. Rudolf Steiner sagt: F ist, “wenn jemand, der einen belehren will, auf ihn losgeht und in irgend einer Form F faucht. — Wisse du — (der Andere, zu dem man spricht; F sage ich zu ihm, um ihn aufmerksam zu machen, dass ich ihn belehren kann -) ‘wisse, dass ich weiß!’ ”(GA 279 in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 142)
Über die Gegensprüche 6 F und 32 f
Die Gegensprüche 6 F und 32 f liegen beide zwischen einem Licht- und einem Krisenspruch. Sie liegen zwischen Licht und Dunkel, zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein. Interessanterweise sind es jedoch die Lichtsprüche, die in der neutralen dritten Person geschrieben sind, also ohne bewussten Ich-Sprecher, und damit stehen sie für ein Bewusstsein des Menschen, das sich nicht selber reflektieren kann. Sowohl die Zwischensprüche als auch die Krisensprüche weisen dagegen dieses Selbst-Bewusstsein auf, denn sie sind aus der Perspektive eines Ich-Sprechers verfasst. Die Lichtsprüche können deshalb als Ausdruck des Schlafbewusstseins gelesen werden, die Krisensprüche als Ausdruck des Wachbewusstseins. Dazwischen befindet sich das Traumbewusstsein, das sich in den Zwischensprüchen wiederfinden müsste. Die Seelenfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens arbeiten auf je einer Wachheitsstufe der Seele: Denken braucht ein waches Bewusstsein, Fühlen findet im Traumbewusstsein statt und der Wille arbeitet im Schlafbewusstsein, denn die eigentlichen Muskelvorgänge bei der Bewegung vollziehen sich unbewusst. Das Wachbewusstsein ist ein Gegenstandsbewusstsein, das Traumbewusstsein ein Bilderbewusstsein und das Schlafbewusstsein ist noch ein Bewusstsein ohne solchen Inhalt.
In den Mantren 6 F und 32 f müsste sich demnach das Fühlen und das träumende Bilderbewusstsein zeigen. Das ist tatsächlich der Fall. Im Mantra 32 f wird die Tätigkeit des Ich-Sprechers zweimal als Fühlen benannt. Das Mantra beginnt mit “Ich fühle …” und in der mittleren Zeile heißt es nochmals “Mein Eigenwesen fühl ich kraftend …” Das Mantra 6 F schließt damit, dass die Welt dem Ich-Sprecher zeigt, dass er das wahre Ab-Bild des göttlichen Ur-Bilds ist. Er ist Bild. Vorher findet sich das Selbst als Weltenoffenbarung in Zeit- und Raumeskräften. Auch eine Offenbarung kann Bildcharakter haben, insbesondere wenn es sich um eine Offenbarung des Selbst in den Raumeskräften handelt.
Im Mantra 6 F beschreibt der Ich-Sprecher sein Erleben einer großen Veränderung. War das Selbst vorher in der Eigenheit gefangen, so hat es sich nun daraus erhoben, ist erstanden — auferstanden. Das Selbst ist die Spiegelung des rein geistigen Ichs am individuellen physischen Leib, wie Rudolf Steiner einmal das Selbst definiert hat. Das in der Eigenheit gefangene Selbst entspricht also etwa dem Alltags-Ich bzw. dem Ego. Doch nun ist das Selbst befreit von dieser Eigenheit und findet sich neu. Es findet sich als Weltenoffenbarung — in der Offenbarung der Zeitkräfte und der Raumeskräfte. Das Ich spiegelt sich jetzt nicht mehr nur am eigenen Leib, sondern an den Zeit- und Raumeskräften. Diese Kräfte offenbaren ein weit größeres Bild. Sie sind eine viel größere Projektionsfläche für das Ich, als der physische Leib. Im Jahreskreis erlebe ich die Projektion der Zeitkräfte im Horizontkreis mit den vier Himmelsrichtungen die Projektionsfläche der Raumeskräfte. Diese beiden nur gedanklich zu fassenden Kreisflächen bilden gemeinsam das göttliche Urbild, das die Welt dem Ich-Sprecher zeigt. Von diesem Urbild ist er selber Abbild. Und dieses Abbild ist die Wahrheit. Das in der Eigenheit gefangene, nur den eigenen Körper als Projektionsfläche anerkennende Selbst war Täuschung. Dieses Bild war ein falsches Bild.
Das Bewusstsein des Ich-Sprechers ist kein Gegenstandsbewusstsein mehr. Es ist ein Traumbewusstsein. Doch der Ich-Sprecher reflektiert sich in diesem Traumbewusstsein, wodurch deutlich wird, dass es sich nicht um das normale Traumbewusstsein handeln kann. Im Mantra 6 F kommt ein Bewusstsein zur Geltung, das nicht wie das übliche Traumbewusstsein unter der Wachheit des tagwachen Gegenstandsbewusstseins liegt, sondern darüber. Diesen Wachheitsgrad des Bewusstseins nennt Rudolf Steiner das bewusste Bilderbewusstsein oder das psychische Bewusstsein.
Der Ich-Sprecher im Mantra 32 f fühlt seine eigene Kraft fruchtend. Die eigene Kraft wirkt also, die Bemühungen fruchten. Die eigene Kraft ist nach meiner Meinung die Kraft des Bewusstseins. Präsent im Hier und Jetzt zu werden bedarf einer Kraftanstrengung des Bewusstseins. Je öfter diese Bewusstwerdung gelingt, desto stärker wird die Kraft des Bewusstseins und umso präsenter ist ein Mensch in der Welt. Die Präsenz verleiht den Menschen der Welt. Er ist wach und handlungsfähig in der Welt.
Nachdem vom Ich-Sprecher zuerst die eigene Bewusstseinskraft fruchtend, also wirksam gefühlt wurde, wird im zweiten Schritt das Eigenwesen gefühlt. Dieses Eigenwesen gewinnt fortlaufend an Kraft. Der Ich-Sprecher fühlt sein Eigenwesen kraftend. Das Eigenwesen ist mehr als nur Bewusstsein. Es ist der ganze inkarnierte Mensch. Ausgestattet mit der wachsenden Bewusstseinskraft kann sich das Eigenwesen, der Mensch als Ganzes, zur Klarheit wenden im Weben des Schicksals. Erschienen viele Ereignisse des Schicksals früher zufällig, wirr und ungeordnet, weil er sein Leben eher wie im Traum lebte und nicht wach war für die weisheitsvolle Ordnung, so ändert sich das nun mit erhöhter Wachheit. Klarheit erscheint, die Lebensfäden können in ihren Zusammenhängen erkannt werden. Eine innere Umwendung geschieht, wenn diese Fäden in zukünftigen Schritten nicht weiter verwirrt, sondern nach und nach geordnet werden. Der Ich-Sprecher fühlt, dass sein Eigenwesen dazu im Begriff ist, die Kraft zu entwickeln. Auch dieser Ich-Sprecher wächst über das alltägliche Gegenstandsbewusstsein hinaus. Er fühlt und erkennt fühlend. Sein Bewusstsein kann als psychisches Bewusstsein angesehen werden. Im “Lebensschicksalsweben” erscheint zum Schluss und wie zur Bestätigung des vom Ich-Sprecher errungenen Bilderbewusstseins das Bild-Wort des Webens.
Der Ich-Sprecher des Mantras 6 F weiß durch sein Bilderbewusstsein, das dem uralten hellsichtigen Bewusstsein des ursprünglichen “Ich weiß” des F‑Erlebens entspricht — nun allerdings mit gleichzeitig wachem Ichbewusstsein. Der Ich-Sprecher des Mantras 32 f weiß durch sein Fühlen. Hier kommt die Erkenntnis von innen. Sie ist nicht belehrend, besserwisserisch, sondern auf das Wohl aller orientiert. So können die Schicksalsfäden von einem Wissenden, in einem wunderschönen Muster verwebt werden.