Die Gegensprüche 9 I (großes i) und 35 i

9 I

Vergessend meine Willenseigenheit

Erfül­let Wel­tenwärme sommerkündend

Mir Geist und Seelenwesen;

Im Licht mich zu verlieren

Gebi­etet mir das Geistesschauen,

Und kraftvoll kün­det Ahnung mir:

Ver­liere dich, um dich zu finden.

35 i

Kann ich das Sein erkennen,

Dass es sich wiederfindet

Im See­len­schaf­fens­drange?

Ich füh­le, dass mir Macht verlieh´n,

Das eigne Selb­st dem Weltenselbst

Als Glied beschei­den einzuleben.

.…

 

 

Die Eurythmieformen zu den Mantren 9 I (großes i) und 35 i

Über den Buchstaben “I”

Das I ist nach A und E der dritte und damit auch der mit­tlere der fünf Vokale im Alpha­bet. Die bei­den haupt­säch­lichen Aspek­te des I drück­en sich schon im graphis­chen Zeichen aus. Diese Gegen­sätze sind die Polar­itäten verbindende, Entwick­lung anzeigende Lin­ie und der Punkt, der entwed­er ini­tialer Anfang oder abschließen­des Ende ist — ganz wie der Same am Anfang der Pflanzenen­twick­lung ste­ht und zugle­ich ihr Endergeb­nis darstellt.

Der griechis­che Buch­stabe des I‑Lautes ist das Iota, das aus dem phönizis­chen Hal­b­vokal ‘Jod’ her­vorge­gan­gen ist, was mit ‘Hand’ über­set­zt wird. Im Jod wurde die schöpferisch deu­tende, zur Offen­barung brin­gende Hand erlebt, wie es im Deutschen Wort ‘Fin­ger’ noch nachemp­fun­den wer­den kann. Her­mann Beckh schreibt: “So wie Aleph im Hebräis­chen das Zeichen des Unof­fen­baren, Poten­tiellen, so ist Jod das Zeichen der Offen­barung, der Man­i­fes­ta­tion, der göt­tlichen Welt­be­jahung. … Als Aus­druck des Über­ganges des Poten­tiellen ins Aktuelle des aktiv­en Han­delns ste­ht J auch bedeu­tungsvoll als Anlaut des hebräis­chen ‘Jad’, die ‘Hand’ … Der Funke des Göt­tlich-Geisti­gen, wie er hier aus Jahves Hand auf den Fin­ger Adams über­springt, das Prinzip der sich offen­baren­den göt­tlichen Aktiv­ität ist es, was der Hebräer beim Jod, da wo es in seinem höch­sten geisti­gen Sinne gebraucht wird, erlebt. Wie Aleph das in sich ruhende Ewig-Göt­tliche, so ist Jod dieses Göt­tlich-Ewige, Außer­räum­liche, Außerzeitliche — die Unendlichkeit, wie auch das Unendlich-Kleine, Punk­tuelle, der Punkt (der ja im Hebräis­chen durch Jod dargestellt wurde) — da, wo dieses Außer­räum­liche, Außerzeitliche, sich anschickt, seinen Impuls in die Welt des räum­lich und zeitlich Bed­ingten hineinzus­trahlen, es ist der archimedis­che Punkt, … von dem aus alles Welt­geschehen seinen Aus­gang nimmt, der Ich-Punkt, der sich dann zur Welt erweit­ert.” (in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 201)

Das I ist auch der Strich, die Aufrichte, der Licht­strahl, der als Blitz auf das Ziel hin­schießt. Im I erstirbt das Göt­tliche und erscheint als Licht des Ich. Das I drückt Hochspan­nung aus, es treibt auf die Spitze. Das I ist der hochfliegende Ikarus aus der griechis­chen Mytholo­gie, der dann doch der Schw­erkraft unter­liegt und abstürzt. Eben­so beste­ht für den mit dem Ich begabte Men­schen stets die Gefahr, ins Ego zu fall­en. Erst seit der Ich-Geburt auf Gol­gatha, wie Rudolf Stein­er den Sieg des Chris­tus über den Tod unter anderem charak­ter­isiert, ist es möglich, ein Ikarus zu wer­den, sich inner­lich zu erheben und erken­nend zu fliegen, ohne abzustürzen in Phan­tasterei oder Pedanterie.

Das I ist das Licht, das sowohl im Außen als Son­nen- oder Ster­nen­licht leuchtet, als auch als im Men­schen. Johannes sagt im Pro­log seines Evan­geli­ums über dieses Licht:

“Im Innen-Raum der Urkräfte war und ist wirk­end der Logos,

und der Logos ist in Bewe­gung auf den Gott hin,

und ein göt­tlich­es Wesen ist der Logos,

dieser ist in Bewe­gung auf den Gott hin.

Alles ist durch Ihn geworden

und ohne Ihn ist auch nicht ein Einzelnes geworden.

Was gewor­den ist, in Ihm war und ist es Leben

und das Leben ist das Licht der Menschen,

und das Licht scheint im Innern der Finsternis

und die Fin­ster­n­is hat es nicht überwältigt.”

(Joh. 1,1–5 in der Über­set­zung von Els­beth Wey­mann, Wege im Buch der Büch­er, S. 120)

Das I ist der Laut des Urbilds des Men­schen, des Ichs. So ver­wun­dert es nicht, dass in der Gen­e­sis die Geis­ter der Per­sön­lichkeit, die Archai oder Urbe­ginne ‘Jom’ genan­nt wer­den. Rudolf Stein­er sagt: “Da, wo die Elo­him durch ihre höheren ord­nen­den Kräfte gewirkt hat­ten, dass Licht werde, da stell­ten sie an ihren Platz Jom, die erste Wesen­heit, den ersten der Zeit­geis­ter oder Archai. … So sind diese geisti­gen Wesen­heit­en die wir Geis­ter der Per­sön­lichkeit oder Urbe­ginne nen­nen, das­selbe, was da als Zeiträume, als Tag, als Jom genan­nt wird.” (GA 122, in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 202f) Im obi­gen Zitat aus dem Johan­ne­se­van­geli­um erscheint der Logos in ziel­gerichteter Bewe­gung und gle­ichzeit­ig vol­len­det als Gott. Der Logos zeigt sich dadurch mit der Zeit ver­wandt, die in der lin­earen und zyk­lis­chen Zeit eben­so diese bei­den Aspek­te in sich vere­int. Auch das I ste­ht mit der Zeit-Macht in beson­ders engem Zusam­men­hang, worauf ich unten weit­er eingehe.

Rudolf Stein­er sagt über das I in Bezug zum Men­schen: “Sprechen wir ein I, so haben wir nur das rechte Bild, wenn wir in diesem I sehen die Befes­ti­gung unseres Geisti­gen in uns selb­st. … Wer das I fühlt, der weiß, … dass, indem das I aus­ge­sprochen wird, der Men­sch seine Wesen­heit sel­ber in den Raum hine­in­stellt.” Und: “Man betont, dass man sich fest in seinen Knochen fühlt.” (nach Dubach Donath, Die Grun­dele­mente der Eury­th­mie, in: Die Sprache der Laute, S. 187) Das markan­teste Beispiel dafür ist unser Wort ‘Ich’. Rudolf Stein­er sagt: “Sie kön­nen bei einem I ganz genau fühlen, da macht sich der Men­sch gel­tend. … Gewisse deutsche Dialek­te haben sog­ar für das Ich: i, und da fühlt der Men­sch am aller­stärk­sten, wie das eigene Wesen sich in ihm gel­tend macht, wenn er i sagt: Na, nit du, i! Man springt erst in die Luft und stellt sich dann auf den Boden, wenn man dieses I sagt.” (GA 278, in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute)

In den ger­man­is­chen Sprachen ist der Name des I ‘Eis’, im gotis­chen Alpha­bet ‘Iiz’, im angel­säch­sis­chen ‘Is’ genan­nt. Der gotis­che Runen­reim spricht von der verbinden­den, Brück­en bauen­den Kraft des I, der angel­säch­sis­che von der kristallisieren­den, Punk­t­bilden­den Kraft.

Eis nen­nen wir bre­ite Brücke;

den blind­en muss man führen. (gotisch)

Eis ist sehr kalt — und unmäßig glatt

es glänzt glasklar — und am ähn­lich­sten den Edelsteinen

eine Flur von Frost gewirkt,- schön anzuse­hen. (angel­säch­sisch)

(in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 186)

Eis und Wass­er sind ein Gegen­satz. Wie eine Insel taucht diese Ver-Ich-lichung, Ver­fes­ti­gung des Eis­es aus dem Wass­er auf. Das Wass­er ist das Ele­ment der Hingabe, das Eis behauptet sein Wesen, kristal­lk­lar, mit Eck­en und Kan­ten. Das Eis ist die Insel, die aus dem Meer auf­taucht. Das ital­ienis­che Wort für Insel ist ‘iso­la’, was ety­mol­o­gisch von lateinisch ‘en sol’, ‘im Salz’, kommt. (Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 187)

Isis heißt in Ägypten die ver­witwete Göt­ter­mut­ter. Isis bedeutet nach Ernst Bindel ‘Ich-Ich’. Inter­es­san­ter­weise ist das mit 9 I spiegel­nde Mantra ist 44 s. Gemein­sam rah­men sie die Oster­scholle, den Mond im Jahr ein. Gemein­sam bilden die Mantren Is, in der Wieder­hol­ung Isis. Die Qual­ität der Tren­nung, wie sie die Witwe verkör­pert, klingt auch in ‘divi­dieren’, einem ‘Ver-inseln’ an.

Mit dem I steigt die Gigan­tenkraft des Licht­turms, des Ichs, aus dem Abgrund. Im Merkur-Vokal I kann der Vor­gang des sich-Inkarnierens, des Ein­schießens in die feste Gestalt erblickt wer­den. In der Ger­aden des I wird der Weg der Meta­mor­phose, der ‘Tran­si­tus’, sicht­bar, der das himm­lis­che Sein in das irdis­che ver­wan­delt. Dies ist Isis, das Fließen der Zeit, denn so soll es über dem Ein­gang ihres Tem­pels zu Sais ges­tanden haben: Ich bin die Ver­gan­gen­heit, die Gegen­wart und die Zukunft.

Hier möchte ich einen Gedanken über die Zeit anfü­gen, der die Qual­itäten des I, der Isis aus­drückt. Die Zeit erscheint in dreifach­er Gestalt. Sie zeigt dem Men­schen drei Gesichter, die erst gemein­sam ihr wahres Sein erken­nen lassen.

Als lin­eare Zeit hat sie Anfang und Ende, fließt wie ein Fluss und trägt die Entwick­lung. Hier ist die Zeit die Ger­ade des I, die Brücke oder Verbindung. Aus dem Strom der Zeit son­dert sich das Erleben der Gegen­wär­tigkeit ab, wie das Eis sich vom Wass­er unter­schei­det. Im Erleben der Gegen­wär­tigkeit scheint die Zeit stil­lzuste­hen, das Bild ist kristallin und klar. Es zeigt den Hor­i­zon­tkreis des Bewusst­seins scharf abge­gren­zt. Gegen­wär­tigkeit ist der Eis-Tropfen, das I‑Punkt-Erleben. Diesem zeitlich winzi­gen Moment, dem kle­in­sten Zeitraum, entspricht in der Form im Großen das Bild der zyk­lis­chen Zeit, der Jahreskreis­es — groß wie der Ozean. Dieser ist rein geistiger Natur, denn er muss im Denken erschaf­fen wer­den. Der Jahreskreis und auch der Tageszyk­lus wur­den erlebt als mit der Sonne und dem Him­mel ver­bun­den. Das himm­lis­che Wass­er, der himm­lis­che Ozean wird sicht­bar in den Wolken, die aus Wasser­dampf oder aus Schneekristallen beste­hen. Die zyk­lis­che Zeit ist nicht nur Schleife, son­dern auch dem Punkt ver­wandt. Sie ist seine Meta­mor­phose zum Umkreis. Die zyk­lis­che Zeit ist Bild der Ewigkeit, des ewig Gle­ichen, unwan­del­baren, himm­lisch-vol­len­de­ten. So wun­dert es nicht, dass die himm­lis­chen Wass­er eben auch als gefrorene Wass­er, als Schnee zur Erde fall­en kön­nen, und damit sich dem Eis der Gegen­wär­tigkeit als ver­wandt erweisen. So kön­nen Gegen­wär­tigkeit und zyk­lis­che Zeit als zeit­los­er Anfangs- und End­punkt betra­chtet wer­den. Die lin­eare Zeit ist sowohl die Brücke, die Verbindung, die den einen Zus­tand in den anderen über­führt, als auch die Gewähr für die allem Lebendi­gen innewohnende Entwicklung.

Mit jedem Gesicht, jed­er Offen­barung der Zeit hängt eine See­len­fähigkeit zusam­men: Die zyk­lis­che Zeit kann nur denk­end erkan­nt wer­den. Der Jahres­lauf als Zyk­lus ist nie als Ganzes sicht­bar, son­dern muss aus Erin­nern und Voraus­denken im Bewusst­sein erschaf­fen wer­den. Das Fühlen fließt mit der lin­earen Zeit. Indem die Bewusst­seinsstrahlen nacheinan­der von der Quelle aus­ge­sendet wer­den, tre­f­fen sie jew­eils auf leicht verän­derte Real­itäten. Diese Quelle liegt zum einen im Men­schen, zum anderen als gedachte Sonne im Zen­trum des Jahreskreis­es. Jedes Mantra im See­lenkalen­der kann als Aus­druck eines indi­vidu­ellen Strahls dieser Zen­trums-Sonne, jede Woche als Zeitspanne ein­er wirk­enden Energie betra­chtet wer­den. Gegen­wär­tigkeit entste­ht gewöhn­lich im Men­schen nur, wenn sie gewollt wird. Sie ist Ergeb­nis ein­er Wil­len­sak­tiv­ität oder eines Erleb­niss­es, das drin­gend zu ein­er Hand­lung aufruft oder eine voraus­ge­gan­gene Hand­lung in Frage stellt, wie ein Schock.

Drei Bilder der Zeit im Zusam­men­hang mit den drei See­len­fähigkeit­en und den drei Aggre­gatzustän­den des Wassers

Über die Gegensprüche 9 I (großes i) und 35 i

Das Mantra 9 I ist das Mantra der Fron­le­ich­namswoche. Fron­le­ich­nam, das Fest des Abendmahls, das immer don­ner­stags gefeiert wird, ist das let­zte der an das Oster­da­tum gebun­de­nen Feste. Dadurch endet die wie ein Mond im Son­nen­jahr liegende und vom Lauf des Mon­des bes­timmte, aber vom Son­nen­stand rel­a­tiv unab­hängige “Osterzeit” mit dieser Woche. Das Mantra 35 i ist stets das Mantra der ersten Adventswoche, denn das Mantra 38 m ist mit Wei­he-Nacht-Stim­mung über­schrieben, weshalb das­selbe zur vierten Adventswoche gehört, in der die an das Datum des 24. Dezem­bers gebun­dene Heilige Nacht liegt und das Mantra 35 i somit zur ersten Adventswoche. Mit dem Vor­abend des ersten Advent begin­nt das neue Kirchen­jahr. Die bei­den Wochen der I‑Mantren vere­inen also Ende und Anfang. Die Woche 9 I ist das Ende der vor- und nachöster­lichen Zeit, die (nach mein­er Mei­n­ung) vor Ostern nicht nur von Ascher­mittwoch an sieben Wochen, son­dern eben­so neun Wochen umfasst wie die nachöster­liche Zeit — und damit zusam­men 18 Wochen — rund ein Drit­tel des ganzen Jahres. Mit dem Beginn der Adventszeit und des neuen Kirchen­jahres ist die Woche 35 i die Woche des Anfangs. Diese Mantren verkör­pern deshalb im Beson­deren Anfangs- und Endpunkt.

Im Mantra 9 I wird der Prozess des Ster­bens beschrieben (siehe Mantra 9 I und 9 I und 44 s). Die Ver­ben in der Ver­laufs­form (vergessend, som­merkün­dend) deuten an, das dieser End­punkt noch nicht erre­icht ist. Die Wil­len­seigen­heit des Bewusst­seins, die kristalline Abge­gren­ztheit der Gegen­wär­tigkeit, in der Men­sch und Welt einan­der gegenüber­ste­hen, ist im Begriff, vergessen zu wer­den. Ein wärmeres, lichtvolleres Bewusst­sein kündigt sich an. Wel­tenwärme, die die Licht­fülle des Som­mers verkün­det, erfüllt Geist und See­len­we­sen. Hier gibt es keine Dual­ität mehr. Das Geistess­chauen gebi­etet dem Ich-Sprech­er, sich im Licht zu ver­lieren. Die irdis­che Iden­tität soll ver­loren wer­den, um eine neue zu find­en, die noch nicht da ist, von der die Ahnung aber schon kraftvoll kün­det. Geistess­chauen, also Imag­i­na­tio­nen, erschaf­fen sich durch Gedanken­bilder. Der Jahreskreis mit der Quelle der Zeit als Sonne im Zen­trum ist solch eine Imag­i­na­tion. In ihrem Licht kann sich der Men­sch ver­lieren, denn diese Sonne ist überindi­vidu­ell. Sie strahlt für die ganze Men­schheit. Sie trägt als Zeit im oben dargestell­ten Sinne die ganze Men­schheit in ein­er Echtzeit. Nie­mand kann gestern oder mor­gen leben.

Der Ich-Sprech­er des Mantras 9 I sucht vom Punkt der Gegen­wär­tigkeit über den Licht­strahl der I‑Linie das überindi­vidu­elle Bewusst­sein, welch­es Ein­heits- Jahres­lauf- oder Tierkreis-Bewusst­sein heißen kön­nte. Rudolf Stein­er sagt, dass sich die Präsenz der See­len Ver­stor­ben­er bis in die Tierkreis­sphäre ausdehnt.

Ganz anders ste­ht der Ich-Sprech­er des Mantras 35 i der Welt, dem Sein, gegenüber. In diesem Mantra ist Seins-Erken­nt­nis gefragt, die hand­lungswirk­sam wer­den kann. Das erkan­nte Sein soll sich im See­len­schaf­fens­drang wiederfind­en. Das Sein, das Gewor­dene soll sich im Wer­den­den, im Schaf­fens­drang der Seele wider­spiegeln. Das Große, die äußere Welt, soll sich in der Innen­welt der Seele wiederfind­en, darin repräsen­tiert sein. Erkenne ich in der Gegen­wär­tigkeit das kleine Äquiv­a­lent zum großen Jahreskreis, so erkenne ich das Sein so, dass es in der Seele repräsen­tiert ist. Nur in der Gegen­wart, ob in bewusster Gegen­wär­tigkeit oder in unbe­wusster Rührigkeit, kann gehan­delt wer­den. Der See­len­schaf­fens­drang ist mit dieser Gegen­wart also zwin­gend ver­bun­den. Im Mantra fragt sich der Ich-Sprech­er also, ob er den Zusam­men­hang find­et zwis­chen der großen Geist-Sonne im Zen­trum des Jahreskreis­es, dem Sein, mit seinem son­nen­haft ausstrahlen­den, im Leben han­del­nden Bewusst­sein. Diese Erken­nt­nis lässt ihn fühlen, dass ihm Macht ver­liehen ist. Das eigen so gefun­dene (Geist-)Selbst kann dem Wel­tenselb­st, der geisti­gen Sonne, als ein Glied ein­gelebt wer­den. Die Begren­ztheit der eige­nen Gegen­wär­tigkeit gewin­nt dadurch über­dauernde Bedeu­tung, über­dauern­des Leben, indem das eigene Bewusst­seinslicht dem Licht des Wel­tenselb­st hinzuge­fügt wird. Das kann wahrlich als ein Neuan­fang betra­chtet wer­den. Und durch dieses Ein­leben, dieses Hinzufü­gen des men­schlichen Selb­st zum Wel­tenselb­st verän­dert sich auch dieses Wel­tenselb­st. Die Sein­szustände der aufeinan­der fol­gen­den Run­den des Jahreskreis­es unter­schei­den sich deshalb fort­laufend voneinander.

Aus­ge­hend vom Sein, dem großen Kreis, das ver­mit­telt durch das Erken­nen der kleinen Entsprechung in jed­er Gegen­wär­tigkeit durch­lichtet wird, lenkt das Mantra zur lin­earen Zeit, denn der See­len­schaf­fens­drang kann sich nur nach und nach, Schritt für Schritt, Tat für Tat ver­wirk­lichen. Das eigene Selb­st und das Wel­tenselb­st rufen dage­gen wieder runde, zyk­lis­che innere Bilder her­vor — jeden­falls in mir.

Ergänzung

Das Mantra 35 i the­ma­tisiert das Sein, das Mantra 9 I dage­gen das Nicht-Sein. Diese zusam­menge­hörige Wider­sprüch­lichkeit erörtert Rudolf Stein­er philosophisch im fol­gen­den län­geren Zitat:

„Aber es ist, ich möchte sagen, mit diesen Kräften, indem sie den Men­schen zus­tande brin­gen, etwas ganz ähn­lich­es, wie es mit den alten Keimen ein­er Pflanze ist: Wenn die neue Pflanze her­vorgekom­men ist, dann hat der alte Keim seine Auf­gabe erfüllt; er beansprucht nicht mehr, als eine Pflanze her­vorzubrin­gen. Diese Pflanze wird aufgerufen durch den Kos­mos wieder einen Keim her­vorzubrin­gen. Son­st wäre keine weit­ere Entwick­elung da, und das Pflanzen­leben hätte abreißen müssen mit dieser Pflanze. So müßte, wenn hier nicht das Bilder­be­wußt­sein auf­tauchen würde, das Men­schen­leben abschließen mit der Erneuerung des Lebens zwis­chen Geburt und Tod. Dies, was da als Bild der Welt erscheint, das ist der neue Keim, der nun durch den Tod geht und eben wiederum durch den Tod in ein neues Leben hinüberge­ht. Und dieser Keim, er ist nun wirk­lich so, daß er nichts von dem alten Realen hinüber­bringt, son­dern daß er beim Bild­da­sein, beim Nichts begin­nt, wirk­lich in bezug auf die Real­ität, auf die äußere Real­ität beim Nichts beginnt.

Bitte fassen Sie hier einen Gedanken, der von unge­heur­er Bedeu­tung ist. Denken Sie sich ein­mal, Sie ste­hen der Welt gegenüber. Nun gut, die Welt ist da, Sie sind auch da. Sie sind aber aus der Welt her­vorge­gan­gen, die Welt hat Sie geschaf­fen, Sie gehören zur Welt dazu. Nun soll es weit­erge­hen, das Leben. In dem, was als Wirk­lichkeit in Ihnen ist, was die Welt in Sie hineinge­set­zt hat — diese Welt, die Sie anschauen inner­halb des physis­chen Planes -, da ist nichts, was das Leben weit­er­führen kann. Aber etwas kommt hinzu: Sie schauen die Welt an, machen sich ein Bild, und dieses Bild gewin­nt die Kraft, Ihr Dasein hin­auszu­tra­gen in weit­ere unendliche Fer­nen. Dieses Bild wird zum Keim der Zukunft.

Wenn man das nicht bedenkt, dann wird man niemals begreifen, daß neben dem Satze: Aus Nichts wird nichts -, auch der andere Satz seine volle Richtigkeit hat: Im tief­sten Sinne wird das Dasein stets aus dem Nichts erzeugt. — Bei­de Sätze haben ihre volle Richtigkeit; man muß sie nur an der richti­gen Stelle anwen­den. Die Kon­ti­nu­ität des Daseins hört damit nicht auf. Wenn Sie, sagen wir, am Mor­gen aufwachen wür­den und wür­den find­en, daß gar nichts übrig geblieben wäre physisch von Ihnen — so ist es in der Tat, wenn man ein­er neuen Geburt ent­ge­genge­ht -, aber nur die volle Erin­nerung hät­ten an das­jenige, was geschehen wäre, also bloß Bild hät­ten, so wür­den Sie ja ganz zufrieden sein. Tief­ere Geis­ter haben selb­stver­ständlich solche Dinge immer gefühlt. So wenn Goethe die zwei Dich­tun­gen nebeneinan­dergestellt hat: «Kein Wesen kann zu Nichts zer­fall­en», und unmit­tel­bar vor­ange­gan­gen war das Gedicht, das den Sinn hat: «Alles muß in Nichts zer­fall­en, wenn es im Sein behar­ren will.» [siehe unten, A.F.] Diese bei­den Gedichte ste­hen ja bei Goethe als schein­bar­er Wider­spruch ganz beieinan­der, unmit­tel­bar hintereinander.

Aber für die gewöhn­liche Philoso­phie liegt hier eine Klippe vor, weil sie eben tat­säch­lich auf­steigen muß in die Nega­tion des Seins.

Nun kön­nte man wieder die Frage aufw­er­fen: Was spiegelt sich denn da eigentlich, wenn das alles, was sich hier spiegelt, nur die Weltgedanken sind? Wie ist man dann eigentlich sich­er, daß man da draußen in der Welt eine Wirk­lichkeit hat? Und da kommt man hin zu der Notwendigkeit, anzuerken­nen, daß eben durch das gewöhn­liche men­schliche Bewußt­sein über­haupt die Wirk­lichkeit nicht ver­bürgt wer­den kann, son­dern daß die Wirk­lichkeit nur ver­bürgt wer­den kann durch jenes Bewußt­sein, welch­es in uns sel­ber her­auf­steigt in die Regio­nen, wo die Imag­i­na­tio­nen sind, und man hin­ter den Charak­ter der Imag­i­na­tio­nen kommt. Dann find­et man, daß da draußen in der Welt, hin­ter dem, was ich als grün angedeutet habe, eben nicht bloß Weltgedanken sind, daß diese Weltgedanken die Aus­drücke sind für die Wel­tenwe­sen. Aber sie sind durch die Weltgedanken ver­schleiert, so wie das men­schliche Innere ver­schleiert ist durch den Inhalt des Bewußt­seins. Also wir schauen in die Welt; wir ver­meinen, die Welt zu haben in unserem Bewußt­sein: da haben wir das Nichts, ein bloßes Spiegel­bild. Das­jenige was sich spiegelt, sind sel­ber nur Weltgedanken. Diese Weltgedanken aber gehören realen, wirk­lichen Wesen­heit­en an, den Wesen­heit­en, die wir eben als geistigseel­is­che Wesen­heit­en ken­nen, als Grup­pensee­len der niederen Reiche, als die Men­schensee­len, als die See­len der höheren Hier­ar­chien und so weit­er.“ (Lit.: GA 162, S. 32 – 34)

Die bei­den in der Mitte des Zitats von Rudolf Stein­er erwäh­n­ten Gedichte von Johann Wolf­gang von Goethe lauten:

9 I entsprechend:

Eins und Alles 
Im Gren­zen­losen sich zu finden,
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wün­schen, wil­dem Wollen,
Statt läst’gem Fordern, strengem Sollen
Sich aufzugeben ist Genuß.

Welt­seele, komm’ uns zu durchdringen!
Dann mit dem Welt­geist selb­st zu ringen
Wird unsr­er Kräfte Hochberuf.
Teil­nehmend führen gute Geister,
Gelinde lei­t­end, höch­ste Meister,
Zu dem, der alles schafft und schuf.

Und umzuschaf­fen das Geschaffne,
Damit sich’s nicht zum Star­ren waffne,
Wirkt ewiges lebend’ges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Son­nen, far­bigen Erden,
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaf­fend handeln,
Erst sich gestal­ten, dann verwandeln;
Nur schein­bar steht’s Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein behar­ren will.

35 i entsprechend:

Ver­mächt­nis
Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen!
Das Ew’ge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig: denn Gesetze
Bewahren die lebend’­gen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.

Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geis­ter­schaft verbunden;
Das alte Wahre, faß es an!
Ver­dank’ es, Erden­sohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwis­ter wies die Bahn.

Sofort nun wende dich nach innen,
Das Zen­trum find­est du dadrinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen:
Denn das selb­ständi­ge Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.

Den Sin­nen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Ver­stand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig,
Und wan­dle sich­er wie geschmeidig
Durch Auen reich­be­gabter Welt.

Genieße mäßig Füll und Segen,
Ver­nun­ft sei über­all zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Ver­gan­gen­heit beständig,
Das Kün­ftige voraus lebendig,
Der Augen­blick ist Ewigkeit.

Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was frucht­bar ist, allein ist wahr;
Du prüf­st das all­ge­meine Walten,
Es wird nach sein­er Weise schalten,
Geselle dich zur kle­in­sten Schar.

Und wie von alters her im stillen
Ein Liebe­w­erk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schön­ste Gun­st erzielen:
Denn edlen See­len vorzufühlen
Ist wün­schenswertester Beruf.